VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 06.05.2008 - 10 A 100/08 - asyl.net: M13386
https://www.asyl.net/rsdb/M13386
Leitsatz:

In Afghanistan besteht bei Rückkehr für einen gesunden, alleinstehenden, jungen Mann keine extreme Gefahrenlage. Hinsichtlich des Widerrufs einer auf die humanitäre Situation unter der Herrschaft der Taliban bis 2001 gestützten Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG findet der allgemeine Maßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit Anwendung. Die heutigen schwierigen Lebensverhältnisse in Afghanistan lassen sich nicht mehr auf die Gewalt- und Willkürherrschaft der Taliban sondern auf das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt und Ordnungsmacht zurückführen. Keine Aussetzung im Hinblick auf den Vorlagebeschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - geboten.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Kabul, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

In Afghanistan besteht bei Rückkehr für einen gesunden, alleinstehenden, jungen Mann keine extreme Gefahrenlage. Hinsichtlich des Widerrufs einer auf die humanitäre Situation unter der Herrschaft der Taliban bis 2001 gestützten Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG findet der allgemeine Maßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit Anwendung. Die heutigen schwierigen Lebensverhältnisse in Afghanistan lassen sich nicht mehr auf die Gewalt- und Willkürherrschaft der Taliban sondern auf das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt und Ordnungsmacht zurückführen. Keine Aussetzung im Hinblick auf den Vorlagebeschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - geboten.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Klage hat keinen Erfolg.

Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) durch Bescheid vom 24.01.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten.

1. Die Rechtsgrundlage für den Widerruf findet sich in § 73 Abs. 3 Halbsatz 2 AsylVfG.

2. Der Widerruf ist aufgrund § 73 Abs. 3 Halbsatz 2 AsylVfG gerechtfertigt, da im gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nicht mehr vorliegen. Der Kläger ist bei Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit keiner erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt.

a) Bei der nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorzunehmenden Prognose einer Gefährdung des Klägers ist der allgemeine Maßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 – 1 C 15.05 – , BVerwGE 126, 243) findet bei der Prognose einer Verfolgung der herabgesetzte Maßstab einer hinreichenden Sicherheit vor erneuter oder wiederholter gleichartigen Verfolgung dann Anwendung, wenn einem anerkannten Flüchtling im Falle des Widerrufs bei Rückkehr in seinen Heimatstaat eine Verfolgungswiederholung im engeren Sinne droht und der allgemeine Maßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auf eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht.

Wendet man zugunsten des Klägers diese Grundsätze auf die Gefährdungsprognose nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entsprechend an, so kommt vorliegend kein herabgesetzter Maßstab zum Tragen. Die tatsächlichen Umstände, aufgrund derer die Beklagte im Bescheid vom 01.10.2001 eine Gefährdungsprognose bejahte, sind entfallen. Die seit 1998/1999 anhaltende Dürreperiode und die verbreitete Hungersnot zeigen keine unmittelbaren Auswirkungen mehr. Nach dem Eingreifen ausländischer Truppen ist die Vorherrschaft der Taliban seit Anfang Dezember 2001 gebrochen und der Bürgerkrieg in der Anfang 2001 geführten Form im Raum Kabul beendet. Die dortige Versorgungslage hat sich durch den Zugang internationaler Hilfsorganisationen deutlich gebessert. Der eingeleitete Überleitungsprozess ging mit dem Wegfall der Hauptfluchtursachen und dem Ende der Feindseligkeiten einher (vgl. Hinweise des UNHCR vom April 2005). Die heutigen schwierigen Lebensverhältnisse in Afghanistan lassen sich nicht mehr auf die Gewalt- und Willkürherrschaft einer bestimmten Gruppierung sondern auf das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt und Ordnungsmacht zurückführen.

b) Nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ist eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers bei Rückkehr nach Afghanistan gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gegeben.

Eine verfassungskonforme Auslegung, in der ausnahmsweise aus einer allgemeinen Gefahr eine erhebliche konkrete Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vormals: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) hergeleitet wird, setzt voraus, dass anderenfalls der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 –, BVerwGE 127, 33 m.w.N.). Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und die – freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende – Unmittelbarkeit eines Schadenseintritts.

Eine solche extreme Gefahrenlage liegt für Rückkehrer nach Afghanistan jedenfalls im Kabuler Raum derzeit im Allgemeinen nicht vor (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 14.06.2002 – 1 Bf 38/02.A, 1 Bf 37/02.A –; bestätigt durch Beschluss vom 24.10.2002 –1 Bf 67/98.A –, Urteil vom 22.11.2002 – 1 Bf 154/02.A, 1 Bf 155/02.A, 1 Bf 156/02.A –, Urteil vom 11.04.2003 – 1 Bf 104/01.A –; OVG Münster, Urteil vom 28.02.2008 – 20 A 2375/07.A –; OVG Bautzen, Urteil vom 23.08.2006 – A 1 B 58/06 –; VGH Kassel, Urteil vom 07.02.2008 – 8 UE 1913/06.A –; VG Ansbach, Urteil vom 26.11.2007 – AN 11 K 07.30671 –, alle juris).

Die Sicherheitslage im Raum Kabul bleibt weiter fragil, auch wenn sie aufgrund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufrieden stellend ist (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2008, S. 10). Die Versorgungslage hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten grundsätzlich verbessert, wenn auch Wohnraum knapp ist (Lagebericht, a.a.O., S. 24).

Der Kläger gehört auch nicht zu den vom UNHCR in den Richtlinien zur Feststellung des

internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender von Januar 2008 genannten Hauptgruppen von Personen mit besonderem Schutzbedarf. Ebenso zählt er nicht zu einer Personengruppe afghanischer Staatsangehöriger, deretwegen der UNHCR am 01.09.2006 aus humanitären Gründen die Suche nach Lösungen in den Aufnahmestaaten dringend empfohlen hat. Es handelt sich um einen kinderlosen, gesunden, jungen Mann, der sich bei Rückkehr nach Afghanistan nicht in einer besonders verletzlichen Situation befindet. Der Kläger könnte auch, zumal er von dort stammt, auf den Raum Kabul verwiesen werden. Die Empfehlung des UNHCR im Situationsbericht zu Afghanistan vom Juni 2005 gegen eine Rückkehr an andere Orte als diejenigen der Herkunft oder des früheren Aufenthalts greift nicht.

Der Kläger wird auch nicht deshalb gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert, weil er den Verhältnissen seines Ursprungslandes entfremdet wäre. Der aus Kabul stammende Kläger ist bis zum Alter von etwa acht Jahren in dem Land seiner Staatsangehörigkeit aufgewachsen und spricht Dari. Der Umstand, dass er nach eigenem Bekunden Dari gemessen am Maßstab der einheimischen Bevölkerung nur unzureichend beherrscht, bereit keine unüberwindbaren Hindernisse, da die afghanische Hauptstadt Kabul ohnehin multiethnisch und mehrsprachig bevölkert ist. Soweit der Kläger geltend macht, Dari nicht schriftlich zu beherrschen, dürfte er darin in einem von Analphabetismus geprägten Land einem Großteil seiner Landsleute gleichkommen. Dass dem Kläger die afghanischen Gesellschaftsstrukturen nicht fremd sind, zeigt auch die vom Kläger begangene Straftat in einer fast tödlichen Auseinandersetzung zwischen zwei afghanischen Familien aufgrund einer Streitigkeit innerhalb des weiteren Familienverbandes.