VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 09.04.2008 - 3 UE 457/06.A - asyl.net: M13401
https://www.asyl.net/rsdb/M13401
Leitsatz:

1. Armenische Volkszugehörige, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise im November 2002 gelebt haben, gehören der sozialen Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier an (§ 60 Abs. 1 AufenthG), die im Zeitpunkt der Ausreise allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von den russischen Sicherheitskräften mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen worden sind.

2. Ethnische Armenier, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise gelebt haben, bei denen jedoch ein Bezug zu den tschetschenischen Rebellen weder nachgewiesen noch vermutet werden kann, können aufgrund der festgestellten Vorverfolgung nicht auf eine Rückkehr nach Tschetschenien verwiesen werden (Art. 4 Abs. 4 QRL).

3. Ethnischen Armeniern, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise gelebt haben, steht, soweit bei ihnen kein Bezug zu den tschetschenischen Rebellen festgestellt worden ist oder unterstellt werden kann, in den Gebieten der armenischen Diaspora in der Russischen Föderation, dort insbesondere in Stawropol, Krasnodar oder Rostow am Don eine interne Schutzmöglichkeit gemäß Art. 8 QRL zur Verfügung.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Anderweitige Sicherheit, sonstige Drittstaaten, Tschetschenen, Armenier, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungsbegriff, Vorverfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, soziale Gruppe, Erster Tschetschnienkrieg, Zweiter Tschetschenienkrieg, Übergriffe, Folter, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Beurteilungszeitpunkt, Existenzminimum, Terrorismusbekämpfung, Verfolgungsdichte, Sicherheitslage, Maschadow, Situation bei Rückkehr, Registrierung, Inlandspass, Rückübernahmeabkommen, Krasnodar (A), Stawropol (A), Rostow am Don (A), Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr
Normen: AsylVfG § 27; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

1. Armenische Volkszugehörige, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise im November 2002 gelebt haben, gehören der sozialen Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier an (§ 60 Abs. 1 AufenthG), die im Zeitpunkt der Ausreise allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von den russischen Sicherheitskräften mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen worden sind.

2. Ethnische Armenier, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise gelebt haben, bei denen jedoch ein Bezug zu den tschetschenischen Rebellen weder nachgewiesen noch vermutet werden kann, können aufgrund der festgestellten Vorverfolgung nicht auf eine Rückkehr nach Tschetschenien verwiesen werden (Art. 4 Abs. 4 QRL).

3. Ethnischen Armeniern, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Ausreise gelebt haben, steht, soweit bei ihnen kein Bezug zu den tschetschenischen Rebellen festgestellt worden ist oder unterstellt werden kann, in den Gebieten der armenischen Diaspora in der Russischen Föderation, dort insbesondere in Stawropol, Krasnodar oder Rostow am Don eine interne Schutzmöglichkeit gemäß Art. 8 QRL zur Verfügung.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Berufungen der Beklagten sowie des Beteiligten, mit dem die Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 2. Juni 2004 - 2 782/03.A - begehrt wird, ist aufgrund der Zulassung durch den Senat und auch sonst zulässig und auch begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, hinsichtlich der Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, der gemäß Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 seit dem 1. Januar 2005 durch § 60 Abs. 1 AufenthG abgelöst wurde, festzustellen; denn die Ablehnung der Feststellung von Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I Nr. 42 S. 1970 ff.) stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) als rechtmäßig dar.

Allerdings scheitert die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nicht bereits an einer entsprechenden Anwendung des § 27 AsylVfG bzw. dem Grundsatz der Subsidiarität internationalen Flüchtlingsschutzes.

Nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 2. Juni 2004 haben sich die Kläger vor ihrer Ausreise 8 Monate in Georgien aufgehalten, was im Asylverfahren zur Anwendung der Vermutungsregel des § 27 Abs. 3 AsylVfG geführt hätte. Danach wird vermutet, dass, soweit sich ein Ausländer in einem sonstigen Drittstaat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, vor der Einreise in das Bundesgebiet länger als drei Monate aufgehalten hat, er dort vor politischer Verfolgung sicher war.

Der Ausschluss der Anerkennung als Asylberechtigter nach § 27 AsylVfG ist von seinem Wortlaut her nicht auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG anwendbar (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz - GK-AsylVfG - Band II, § 27 Rdnr. 16 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - BVerwGE 1 C 29.03, BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - jeweils juris-online). Auch aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes folgt im Falle der Kläger nichts anderes, denn allenfalls wenn der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden hat und die Rückkehr bzw. die Rückführung in diesen Staat möglich ist, könnte dies der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegebenenfalls entgegengehalten werden (vgl. GK-AsylVfG, a.a.O., § 27 Rdnr. 16 mit Rechtsprechungsnachweisen). Im Fall der Kläger ist jedoch nicht erkennbar, dass, selbst wenn sie sich tatsächlich vor ihrer Ausreise 8 Monate in den Bergen Georgiens - und damit nicht im Bergland Tschetscheniens - aufgehalten haben sollten, dies zur Folge hat, dass sie dorthin wieder zurückgeführt werden könnten und dort sicher vor Verfolgung wären. Nach ihrem eigenen Vortrag haben sie sich dort illegal bei einem Hirten aufgehalten, von einer Unterschutzstellung unter den georgischen Staat kann dabei keine Rede sein.

Ist damit der Flüchtlingsstatus des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht grundsätzlich wegen der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts ausgeschlossen, ist die Berufung der Beklagten sowie des Beteiligten, mit der sie die Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 2. Juni 2004 - 2 E 782/03.A - begehren, gleichwohl begründet.

Der Senat hat sich in seinem rechtskräftigen Grundsatzurteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07.A - mit den Veränderungen, die sich aus der Umsetzung bzw. dem Inkrafttreten der QRL ergeben, sowie der Sicherheitslage tschetschenischer Flüchtlinge aus Tschetschenien befasst und ausgeführt: ...

Zu dieser Einschätzung hinsichtlich der anzuwendenden Prognosemaßstäbe, des maßgeblichen Zeitpunktes der Entscheidung sowie des für das Vorliegen eines internen Schutzes anzulegenden Prüfprogramms gelangt der Senat auch unter Berücksichtigung der von dem Bundesbeauftragten in Bezug genommenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Entscheidung vom 4. Januar 2007 - 1 B 47.03 - sowie unter Auseinandersetzung mit den von der Beklagten eingeführten Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte mit ihren Schriftsätzen vom 3. August 2004 (Bl. 130 GA), 8. März 2006 (Bl. 152 GA) und 26. November 2007 (Bl. 303 GA) sowie unter Auseinandersetzung mit des Ausführungen des Beteiligten, insbesondere in seinem Schriftsatz vom 19. November 2007 (Bl. 296 GA).

Dabei weist der Beteiligte in seinem Schriftsatz vom 19. November 2007 (Bl. 296 GA) darauf hin, es sei nicht erkennbar, dass sich durch das Inkrafttreten der QRL an den richterrechtlich entwickelten Grundsätzen, insbesondere hinsichtlich der Differenzierung von örtlich und regional begrenzter Gruppenverfolgung und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen, etwas geändert habe. Bei der Verfolgung der Kläger habe es sich allenfalls um eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung gehandelt, wobei der Beschluss des BVerwG vom 4. Januar 2007 - 1 B 47.06 -, der zeitlich lange nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtlinie ergangen sei, zeige, dass auch das BVerwG den Typus der örtlich begrenzten Gruppenverfolgung nicht für überholt halte. Vielmehr sei in dem Beschluss zutreffend darauf hingewiesen worden, dass möglicherweise zwar bis zur Ausreise die dort lebenden Tschetschenen als zur verfolgten Gruppe gehörig zu zählen gewesen seien. Wer aus dem Ausland zurückkehre, könne aber von vornherein nicht (mehr) zur verfolgten Gruppe gezählt werden, da nach den tatsächlichen Verhältnissen eine Rückkehr nicht ausschließlich nach Tschetschenien in Betracht komme, und es daher auf die weiteren Voraussetzungen für eine etwaige inländische Fluchtalternative außerhalb Tschetscheniens nicht ankomme. Der Senat folgt dieser Auffassung hinsichtlich der durch die QRL eingetretenen Änderungen aus den oben ausgeführten Gründen nicht.

Unter Zugrundelegung der oben genannten Prüfungsmaßstäbe sind die Kläger vorverfolgt im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL aus ihrer Heimatregion Tschetschenien ausgereist, da dort ihr Leben und ihre Freiheit im Zeitpunkt ihrer Ausreise im Oktober 2000 allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier unmittelbar bedroht war (§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, Art. 4 Abs. 4 QRL).

Die Bedrohung der Kläger ging dabei unmittelbar aus von staatlichen Stellen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a AufenthG), nämlich den dort stationierten russischen Einheiten und Sicherheitskräften, die in der Bekämpfung der tschetschenischen Rebellen bzw. Separatisten weit über das hinaus gegangen sind, was unter dem Gesichtspunkt einer legitimen Terrorismusbekämpfung bzw. der legitimen Bekämpfung von Separatismusbestrebungen eines Staates hingenommen werden kann, wobei die tschetschenische Zivilbevölkerung gezielten Drangsalierungen, willkürlichen Verhaftungen, Verschleppungen, Verfolgungen bis hin zu Mord, Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt war (vgl. auch AA, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 15.11.2000). Hierbei hält der Senat auch nach erneuter Überprüfung an seiner Einschätzung der Situation in Tschetschenien im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger fest. Hierzu hatte der Senat in dem durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Januar 2007 - 4 B 47.06 - aufgehobenen Urteil vom 2. Februar 2006 - 3 UE 3021/03.A - ausgeführt: ...

Diese Feststellungen haben auch für die Kläger zu gelten, die im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Tschetschenien im Februar bzw. Oktober 2002 als ethnische Armenier, die in Tschetschenien geboren worden sind und dort bis zu ihrer Flucht gelebt haben und keiner anderen Situation ausgesetzt waren als die aus Tschetschenien geflohenen ethnischen Tschetschenen. Dabei gehören die Kläger gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG der sozialen Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier an, die allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von den russischen Sicherheitskräften mit den oben beschriebenen flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen wurden.

Das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gehört zu den ursprünglich in der Genfer Konvention niedergelegten Verfolgungsmerkmalen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand Februar 2006, § 60 Rdnr. 46). Gemäß Art. 10 Abs. 1 d) QRL gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Die Definition der Richtlinie entspricht dabei einem in der angloamerikanischen Rechtsprechung entwickelten Ansatz, der das Merkmal der sozialen Gruppe durch identitätsprägende gemeinsame Merkmale kennzeichnet, die so grundlegend sind, dass niemand gezwungen werden darf, sie aufzugeben, sofern es sich nicht ohnedies um unveränderliche Merkmale handelt (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 60 Rdnr. 48 m.w.N.). Erforderlich ist dabei eine deutlich abgegrenzte Identität, die als solche von der sie umgebenden Gesellschaft wahrgenommen wird und wegen der Andersartigkeit zu einer Schutzlosigkeit bzw. zu Verfolgungsmaßnahmen führt. Die Richtlinie stellt insoweit maßgeblich auf die Wahrnehmung als "andersartig" durch die Gesellschaft ab.

Maßgeblich ist, ob eine Gruppe in diesem Sinne wegen der gemeinsamen Merkmale oder Überzeugungen als eine abgegrenzte Gruppe mit gemeinsamer Identität wahrgenommen wird, wobei die Mitglieder der Gruppe auch objektiv, d.h. ohne Rücksicht auf die Einschätzung durch die Gesellschaft, durch die Gemeinsamkeit von Merkmalen oder Überzeugungen oder sonstigen Merkmalen in ihrer Identität geprägt sein muss (vgl. Hailbronner, a.a.O. § 60 Rdnr. 49). Unter Anlegung dieser Maßstäbe sind die in Tschetschenien geborenen kaukasischen Volkszugehörigen, mithin Tschetschenen, Armenier, Tscherkessen und andere kaukasische Volksgruppen, die in Tschetschenien während des Tschetschenienkrieges dort noch gelebt haben, als soziale Gruppe im Sinne des Art. 10 Abs. 1 d) QRL einzustufen, da sie von Seiten der russischen Sicherheitskräfte ohne weitere Differenzierung hinsichtlich ihrer konkreten Ethnie und ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich aufgrund ihrer armenischen Volkszugehörigkeit den Übergriffen durch die russischen Sicherheitskräfte und Soldaten zu entziehen, als Gruppe angesehen und eingestuft wurden und mit den oben beschriebenen flüchtlingsrelevanten Maßnahmen ebenso wie die ethnischen Tschetschenen überzogen worden sind.

Die Gruppe der Kaukasier hat auch in der Russischen Föderation eine deutlich abgegrenzte Identität, was insbesondere darin zum Ausdruck kommt, dass sie von anderen Bewohnern der Russischen Föderation als "Schwarze" bzw. "Dunkelhäutige" bezeichnet und degradiert (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008) bzw. als "Schwarzärsche" diffamiert werden (Prof Dr. Luchterhandt, 09.05.2007 an Hess. VGH).

Der Senat glaubt den Klägern jedoch nicht, dass sie zusätzlich zu den beschriebenen gruppenrelevanten Verfolgungsmaßnahmen auch individuell in das Fadenkreuz der russischen Sicherheitskräfte geraten sind.

Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest steht, dass die Kläger im Zeitpunkt der maßgeblichen Entscheidung ihrer Rückkehr (§ 77 AsylVfG, Art. 8 Abs. 3 QRL) zwar Schwierigkeiten bei einer Rückkehr nach Tschetschenien selbst haben dürften und in ihrem Fall daher gem. Art. 4 Abs. 4 QRL keine stichhaltigen Gründe dagegen sprechen, dass sie nicht erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sein werden (vgl. allgemein zur Sicherheitslage in Tschetschenien heute sowie zu den Rückkehrmöglichkeiten ethnischer Tschetschenen aus Tschetschenien in ihr Heimatland, soweit sie ohne Bezug zu den Rebellen sind, Urteil des Senats vom 21.02.2008, 3 UE 191/07.A), ihnen aber nach den Maßstäben des Art. 8 QRL die Möglichkeit internen Schutzes zur Verfügung steht.

Nach Informationen des Auswärtigen Amtes gibt es heute kaum mehr Armenier in Tschetschenien.

Nach Auswertung dieser Auskünfte sowie dem aus der Erkenntnisquellenliste ersichtlichen Material zur Situation in der Russischen Föderation - Tschetschenien - kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Kläger als armenische Volkszugehörige aus Tschetschenien bei Rückkehr in ihre Heimatregion Tschetschenien anders als tschetschenische Volkszugehörige (siehe Urteil des Senats vom 21.02.2008, 3 UE 191/07.A) dort auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit weiterhin mit vermehrten Überprüfungen und ggf. Drangsalierungen der mittlerweile tschetschenischen Sicherheitskräfte zu rechnen haben.

Übereinstimmend gehen die Gutachter dabei davon aus, dass in Tschetschenien selbst ein Exodus hinsichtlich anderer als tschetschenischer Ethnien stattgefunden hat mit der Folge, dass nur noch ein sehr geringer Prozentsatz armenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien lebt. Zwar gehören armenische Volkszugehörige ebenfalls zu den Kaukasusvölkern, sie unterscheiden sich jedoch elementar von den Tschetschenen, insbesondere in ihrer Glaubensausrichtung. Armenier werden zudem von Seiten der Tschetschenen eher als russlandtreue Personen angesehen, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dort vermehrt in Kontrollen geraten und im Zuge dieser Kontrollen diskriminierenden flüchtlingsrelevanten Maßnahmen ausgesetzt sein werden (vgl. insbesondere Prof. Dr. Luchterhandt an Hess. VGH, Bl. 212, 213 GA). Bei einer derartigen Konstellation kann die Rückausnahme des Art. 4 Abs. 4 (am Ende) QRL nicht als erfüllt angesehen werden, da keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich die von den Klägern bereits einmal erlebte Verfolgungssituation tatsächlich - unter Nachweis stichhaltiger Gründe - zum Positiven verändert hat und sie nunmehr in eine unter flüchtlingsrelevanten Gesichtspunkten zu beurteilende neue Situation zurückkehren. Dies kann jedoch im Fall der armenischen Volkszugehörigen gerade nicht gesagt werden, da sich ihre Situation im Zuge der Tschetschenisierung des Tschetschenienkonflikts in Tschetschenien selbst nicht verbessert, sondern allenfalls verändert und verschoben hat. Den Klägern steht jedoch nach den Maßstäben des Art. 8 QRL interner Schutz zur Verfügung und am Ort des internen Schutzes sprechen zudem stichhaltige Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen, dass sie dort erneut Gefährdungen ausgesetzt sein werden. Die Kläger können nämlich auf Orte der armenischen Diaspora in der Russischen Föderation verwiesen werden wie Stawropol, Krasnodar sowie Rostow am Don, da sie sich dort ansiedeln und unter zumutbaren Bedingungen sicher leben können.

Zwar haben demnach nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Auskünfte armenische Volkszugehörige in der Russischen Föderation, dort insbesondere in den großen Städten wie Moskau und St. Petersburg, mit Diskriminierungen und insbesondere Behinderungen bei der Registrierung zu rechnen, da sie als Kaukasier dort nicht erwünscht sind und versucht wird, ihre Ansiedlung zu verhindern, sie zudem vermehrt Ziel von Überprüfungsmaßnahmen und Durchsuchungen sind und ihnen eine Existenzgründung dort leidlich schwer gemacht wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass armenische Volkszugehörige in den Gebieten Krasnodar, Stawropol und Rostow am Don auf eine starke und fest verwurzelte Diaspora zurückgreifen können, die für sie die Möglichkeiten, eine Existenz an einem anderen als dem Herkunftsort zu gründen und sich gegen administrative und bürokratische Hürden zur Wehr zu setzen, wesentlich erhöht. Der Senat geht daher davon aus, dass sich die Kläger bei Ansiedlung in Orten der armenischen Diaspora dort auch gegen restriktive Registrierungsbestimmungen derörtlichen Behörden unter Zuhilfenahme dort bereits angesiedelter armenischer Volkszugehöriger erfolgreich zur Wehr setzen können und sie zudem in ein Netz sozialer und wirtschaftlicher Strukturen in der armenischen Diaspora geraten, die ihnen ein Existenzminimum gewährleisten, sodass von ihnen gemäß Art. 8 Abs. 1 QRL auch vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich heute in diesem Landesteil aufhalten. Da der Senat den Klägern das von ihnen vorgetragene individuelle Verfolgungsschicksal, insbesondere ihre Inhaftierung von Mai 2000 bis September 2001, nicht glaubt, ergibt sich hieraus im Gegensatz zu den Verfahren ihrer Söhne, die unter den Aktenzeichen 3 UE 459/06.A und 3 UE 460/06.A geführt werden, nichts anderes.

Die Annahme internen Schutzes gilt auch unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten der Kläger. Die heute 57 und 52 Jahre alten Kläger sind arbeitsfähig und beherrschen sowohl die russische als auch die armenische Sprache. Sie haben beide den Mittelschulabschluss und sind ausgebildete Elektrotechniker, wobei der Kläger als Selbständiger eine Autowerkstatt betrieben hat und die Klägerin dort als Buchhalterin gearbeitet hat. Anhaltspunkte dafür, dass sie auf Grund besonderer persönlicher Gegebenheiten nicht in der Lage wären bzw. es für sie unzumutbar wäre, in Gebieten der armenischen Diaspora einen Neuanfang zu wagen, sind für den Senat nicht ersichtlich und von den Klägern auch nicht substantiiert dargetan.

Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel schon dann verschafft, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, sei es durch Zuwendungen von dritter Seite, jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.02.07, 1 C 24.06; Beschluss vom 21.05.03, 1 B 298.02), wobei allerdings unter Geltung der QRL die vergleichende Betrachtung, ob die existentiellen Gefährdungen so auch am Herkunftsort bestanden hätten, entfällt (s. o.). Nicht zumutbar sind hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder der Teilnahme an Verbrechen besteht. Ein verfolgungssicherer Ort, der nur durch derartiges kriminelles Handeln erlangt werden kann, ist keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.02.07, 1 C 24.06; Beschluss vom 21.05.03, 1 B 298.02).

Dabei verkennt das Gericht nicht, dass Voraussetzung für eine Registrierung der Kläger am Ort des internen Schutzes grundsätzlich die Vorlage des Inlandspasses ist (AA an Hess. VGH vom 02.04.2007, Bl. 182 GA).

Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen sowie unter Berücksichtigung der weiteren Tatsache, dass die Kläger im Falle einer Verbringung in die Russische Föderation nur mit gültigen Heimreisepapieren ihres Heimatlandes zurückgeschickt werden können, deren Ausstellung voraussetzt, dass ihre Identität geprüft worden ist, und die sie als vorläufige Ausweispapiere bei ihrer Registrierung vorlegen könnten, geht der Senat davon aus, dass sie nicht gezwungen sein werden zur Ausstellung ihrer Inlandspässe bzw. Verlängerung der Inlandspässe nach Tschetschenien zurückzukehren, sondern sich ggf. unter Rückgriff auf Hilfestellungen anderer armenischer Volkszugehöriger auch mit Hilfe anderer, ihre Identität nachweisende Dokumente registrieren lassen können. So geht auch der VGH München in seinem Urteil vom 31. August 2007 (11 B 02.31724 in juris-online) davon aus, dass russische Staatsangehörige in aller Regel nicht ohne Vorlage eines russischen oder sowjetischen Reisepasses wieder in die Russische Föderation einreisen können, sodass für die Kläger durch die russische Auslandsvertretung ein Rückreisedokument ausgestellt werden müsse. Zu dessen Ausstellung komme es jedoch nur, wenn zuvor die Identität der betroffenen Person durch die Innenbehörden der Russischen Föderation überprüft wurde. Gleiches gelte für die Zeit nach dem Inkrafttreten des europäischrussischen Rückabnahmeabkommens, da eine Rückübernahme nach Art. 2 Abs. 2 dieses Abkommens voraussetze, dass die Russische Föderation dem Übernahmeersuchen eines Mitgliedsstaats der Europäischen Gemeinschaft zugestimmt und sie der rückzuübernehmenden Person ein Reisedokument ausgestellt habe. Die russischen Stellen wüssten mithin sowohl vor als auch nach Inkrafttreten dieses Vertrages rechtzeitig vor einer Abschiebung über die Identität des Betroffenen Bescheid (vgl. VGH München, Urteil vom 31.08.07, a.a.O., Rdnr. 102).

Den Klägern drohen auch, soweit sie sich an den Ort des internen Schutzes begeben, keine sonstigen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, Art. 15 QRL.

Gleiches hat für das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 AufenthG, Art. 15 c QRL zu gelten. Danach soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer ein erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG). Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat ist abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 15 c QRL).

Zwar setzt § 60 Abs. 7 AufenthG die Vorgaben des Art. 15 c) QRL aus mehreren Gründen nicht vollständig und zutreffend um, da er zum einen den Wortlaut des Art. 15 c) QRL durch Weglassen des Tatbestandselements "infolge willkürlicher Gewalt" nicht vollständig wiedergibt und zum anderen die Ausschlussklausel des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auf Grund der Vorgaben der QRL nicht auf Sachverhaltskonstellationen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG /Art. 15 c) QRL übertragen werden darf.

Gemäß Art. 18 QRL handelt es sich nämlich auch bei der Zuerkennung von subsidiärem Schutz um eine gebundene Entscheidung, die bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 c) QRL weder dem Entscheidungsvorbehalt des § 60 a AufenthG, noch den gesteigerten Anforderungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung (sehenden Auges in den sicheren Tod ...) unterworfen werden darf.

Selbst unter Berücksichtigung dieser Vorgaben steht den Klägern bei Rückkehr in die armenische Diaspora weder subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, noch nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 15 c), 18 QRL zu, da für zuziehende Binnenmigranten dort weder eine erhebliche konkrete Gefahr für die in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG genannten Schutzgüter besteht, noch eine ernsthafte individuelle Bedrohung der in Art. 15 c) QRL Schutzgüter infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 15 c) QRL).