LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 03.04.2008 - L 9 AS 59/08 B ER - asyl.net: M13406
https://www.asyl.net/rsdb/M13406
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Grundsicherung für Erwerbsunfähige, Sozialhilfe, Arbeitssuche, Freizügigkeit, Unionsbürgerrichtlinie, Diskriminierungsverbot, Gleichheitsgrundsatz
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 4; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 5; RL 2004/38/EG Art. 6; SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1; EG Art. 12
Auszüge:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat in vollem Umfang Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund).

Die Antragsteller haben das Vorliegen eines Anordnungsanspruches nicht glaubhaft gemacht.

Hinsichtlich eines Anspruchs aus §§ 7 ff., 19 ff. SGB 2 gehören die Antragsteller nicht zu den Berechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2.

Danach sind ausgenommen aus dem Kreis der Berechtigten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB 2) Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (vgl. hierzu die grundlegenden Beschlüsse des erkennenden Senates vom 13. September 2007 – L 9 AS 44/07 ER – und vom 14. Januar 2008 –L 9 AS 216/07 ER). Die Antragstellerin zu 2) ist möglicherweise nicht nur zum Zwecke der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, kann allerdings allein daraus derzeit noch ihr Aufenthaltsrecht ableiten. Der erkennende Senat misst dabei der von der Antragstellerin zu 2) vorgelegten Freizügigkeitsbescheinigung vom 16. Oktober 2006 mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit einer Genehmigung bei Aufnahme einer unselbständigen Beschäftigung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU) und dem Versuch der Antragstellerin zu 2) eine Arbeitserlaubnis für die angestrebte Beschäftigung als Eisverkäuferin zu erlangen, ausschlaggebende Bedeutung zu (vgl. LSG NRW 15. Juni 2007 – L 20 B 59/07 AS ER RdNr. 18). Soweit die Antragstellerin zu 2) zu ihren Eltern gezogen ist, kommt dem gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU schon deshalb keine die Freizügigkeit auf Dauer begründende Bedeutung zu, da die Antragstellerin zu 2) älter als 21 Jahre ist.

Ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller ergibt sich nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU. Zwar sind Unionsbürger auch dann freizügigkeitsberechtigt, wenn sie während des Aufenthalts in dem anderen Mitgliedstaat lediglich Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, z.B. als Touristen, Patienten oder Studierende. Allerdings müssen sie auch insoweit über die erforderlichen Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen (Renner, § 2 FreizügG/EU Rdnr. 15 m.w.N.).

Die Antragsteller sind auch nicht Verbleibeberechtigte i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU. Zu diesem Personenkreis zählt nur, wer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist, nachdem er zuvor als Arbeitnehmer oder als Selbständiger erwerbstätig war (Renner, § 2 FreizügG/EU Rdnr. 16). Die Antragstellerin zu 2) ist weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige einer Erwerbstätigkeit nachgegangen.

Den Antragstellern steht schließlich auch kein voraussetzungsloses Aufenthaltsrecht unabhängig vom Aufenthaltszweck zu. Das FreizügG/EU enthält zwar keine dahingehende Regelung. Verwaltung und Gerichte sind aber der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung unterworfen (Schreiber, Die Bedeutung des Gleichbehandlungsanspruchs aus Art. 12 i.V.m. Art. 18 EGV für Grundsicherungsleistungen – SGB 2 und SGB 12 -, ZESAR 2006, 423, 431). Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG sieht ein allein an den Status als Unionsbürger anknüpfendes Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates nur für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten vor und dies auch nur mit der Einschränkung, dass die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen (Art. 14 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht deshalb, weil der Antragstellerin zu 2) eine Freizügigkeitsbescheinigung/EU ausgestellt wurde. Anders als bei der Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG kommt der Freizügigkeitsbescheinigung/EU lediglich deklaratorische Bedeutung zu (Welte, Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU, InfAuslR 2005, 8). Über das Freizügigkeitsrecht wird nämlich nicht durch Verwaltungsakt entschieden; vielmehr gewährt das Gemeinschaftsrecht bei Vorliegen der gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen jedem Unionsbürger und seinen Familienangehörigen unmittelbar das Recht auf Freizügigkeit (Renner, Ausländerrecht, 2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise zu § 2 FreizügG/EU). Entfällt das Freizügigkeitsrecht, kann sie in den Fällen des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU unter den dort genannten Voraussetzungen eingezogen werden. Einer Aufhebungsentscheidung bedarf es nicht.

Die Antragsteller haben auch keinen Anspruch auf Leistungen gemäß §§ 19 ff., 28 ff. SGB 12. Der Ausschluss eines Leistungsanspruchs gemäß § 23 Abs. 1 SGB 12 folgt aus § 23 Abs. 3 Satz 1, 2. Variante SGB 12.

Danach haben u. a. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Wie oben bereits gezeigt beruht das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 2) allein auf dem Zweck der Arbeitsuche, woraus sich der Anspruchsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB 12 – auch für den Antragsteller zu 1) - ergibt.

Die Regelungen des § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB 2 und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB 12 befinden sich zur Überzeugung des erkennenden Senates auch in Übereinstimmung mit europäischem Recht (vgl. Beschlüsse des erkennenden Senates zu § 7 SGB 2 vom 13. September 2007 – L 9 AS 44/07 ER - und vom 14. Januar 2008 – L 9 AS 216/07 ER, vgl. auch LSG NRW vom 22. März 2007 – L 19 B 21/07 AS ER-, LSG Niedersachsen-Bremen vom 2. August 2007 – L 9 AS 447/07 ER).