VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.05.2008 - 13 S 936/08 - asyl.net: M13414
https://www.asyl.net/rsdb/M13414
Leitsatz:

Wird eine Abschiebungsandrohung mit einer Ausweisung verbunden, dann richtet sich ihre gerichtliche Überprüfung ebenso wie bei der Ausweisung nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung bzw. Entscheidung (Fortentwicklung von BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 -,VBlBW 2008, 180).

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Beurteilungszeitpunkt, Abschiebungsandrohung, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit
Normen: AufenthG § 59 Abs. 1; AufenthG § 50 Abs. 1; AufenthG § 58 Abs. 2; AufenthG § 81 Abs. 3; AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

Wird eine Abschiebungsandrohung mit einer Ausweisung verbunden, dann richtet sich ihre gerichtliche Überprüfung ebenso wie bei der Ausweisung nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung bzw. Entscheidung (Fortentwicklung von BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 -,VBlBW 2008, 180).

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die nach der Zulassung durch den Senat zulässige, insbesondere rechtzeitig und ausreichend substantiiert begründete Berufung des Beklagten (§ 124a Abs. 6 i.V. mit Abs. 3 Satz 4 VwGO) hat sachlich Erfolg; sie führt zur Änderung des angefochtenen Urteils, weil die gegen den Kläger ergangene Abschiebungsandrohung rechtmäßig ist und ihn daher nicht in seinen Rechten verletzt (siehe § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, JZ 2008, 512 mit Anmerkung Hailbronner), der sich der Senat inzwischen angeschlossen hat, kommt es bei der Beurteilung einer Ausweisungsverfügung nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses dieser Verfügung oder der letzten Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid)f, sondern auf den Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung an; diese Rechtsprechung wird - soweit ersichtlich - inzwischen in der obergerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur jedenfalls im Ergebnis akzeptiert (vgl. dazu Hailbronner a.a.O. S. 515/516 und Funke-Kaiser in GK-AufenthG, RN 160 zu § 59, speziell zu Abschiebungsandrohungen nach dem AufenthG). Wendet man diese Grundsätze nicht nur auf Ausweisungsverfügungen, sondern auch auf wie im vorliegenden Fall mit einer Ausweisung verbundene Abschiebungsandrohungen an - wovon der Senat im folgenden ausgeht (1) -, dann ergibt sich, dass bereits zum Zeitpunkt des verwaltungsgerichtlichen Urteils und auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sämtliche Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung einschließlich einer vollziehbaren Ausreisepflicht gegeben waren bzw. sind (2).

1. Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits kommt es nicht darauf an, welche der im einzelnen aufgezählten Gründe die entscheidenden waren (vgl. dazu Hailbronner a.a.O. S. 515); es stellt sich lediglich die Frage, ob und auf welche anderen ausländerrechtlichen Fallgestaltungen die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts neu entwickelten Grundsätze zur Überprüfung von Ausweisungen übertragbar sind.

Dabei geht der Senat mit der Literatur (Hailbronner a.a.O. S. 516) davon aus, dass jedenfalls die mit einer Ausweisungsverfügung verbundene Abschiebungsandrohung nach den gleichen rechtlichen Grundsätzen wie diese zu beurteilen ist. Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch diejenige des EuGH, die die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblich prägen, entwickelt nämlich hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung von Ausländern eine eigene (autonome) Begrifflichkeit, wonach es nicht unbedingt auf die Bezeichnung einer Verfügung als Ausweisung oder Abschiebungsmaßnahme ankommt (siehe dazu etwa EGMR, Urteil vom 5.7.2005 - 46410/99 - , Üner, InfAuslR 2005, 450, Urteil vom 16.6.2005 - 60654/00 -, Sisojeva, InfAuslR 2005, 349 und Urteil vom 1.7.2002 - 56811/00 -, Amrollaha, InfAuslR 2004, 180; vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 28.1.2008 - 19 Cs 06.15712 -, juris mit Hinweis auf EGMR, Urteil vom 5.10.2006 - 14.139/03 -, Bolat). Auch in der Literatur wurde schon frühzeitig gesehen, dass die z.B. vom Europäischen Gerichtshof in der Entscheidung Orfanopoulos (a.a.O.) entwickelten Grundsätze zur Berücksichtigung nachträglich eingetretener Tatsachen auch auf andere aufenthaltsbeschränkende Verfügungen als Ausweisungen anzuwenden sind (siehe Renner ZAR 2004, 196). Auch sonst kennt das deutsche Ausländerrecht jedenfalls für bestimmte Ausländergruppen neben der Ausweisung sonstige zur Ausreise führende oder die Ausreisepflicht vollstreckende Verfügungen, die zwar keine Ausweisungen im Sinn des nationalen Rechts sind, auf die aber gleichwohl die Grundsätze der Relevanz einer neuen Sach- oder Rechtslage anzuwenden sind (siehe etwa §§ 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 FreizügG/EU), und auch Europäisches Sekundärrecht knüpft nicht nur an Ausweisungen im eigentlichen Sinn an (vgl. etwa Art. 32 der sog. Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004, ABL 158 S. 77 und Erwägungsgründe 16 und 23: "Ausweisungsmaßnahmen"). Ist daher in dem hier interessierenden Zusammenhang keine formale Betrachtungsweise geboten, sondern materiell auf Umfang und Intensität der Rechtsbeeinträchtigung abzustellen (so auch Hailbronner a.a.O. S. 516), so unterliegt es für den Senat keinem Zweifel, dass jedenfalls die mit einer Ausweisung verbundene Abschiebungsandrohung als Vollstreckungsmaßnahme im Sinn der §§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO, 12 LVwVfG bei der gerichtlichen Prüfung den gleichen Grundsätzen zu folgen hat wie die Ausweisungsverfügung selbst (zur Einbeziehung nachträglicher Umstände bei "isolierten" Abschiebungsandrohungen siehe BayVGH a.a.O.)

Es ist nicht nur eine Frage der verwaltungsverfahrensrechtlichen oder der Prozessökonomie, Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung hinsichtlich des maßgebenden Zeitpunkts den gleichen Regeln zu unterwerfen, sondern ergibt sich zudem auch aus dem dogmatischen Zusammenhang zwischen "Grundverfügung" und Vollstreckungsverfügung: Eine Ausweisungsverfügung kann wegen der mit ihr verbundenen Wirkungen (siehe §§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 11 AufenthG) die Ausreisepflicht eines Ausländers nach § 50 Abs. 1 AufenthG und auch deren Vollziehbarkeit nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG begründen, also gerade die rechtliche Situation schaffen, die mit der Abschiebungsandrohung im Vollstreckungsweg durchgesetzt wird, und es ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, einen nachträglichen, dem Erlass der "Grundverfügung" entgegenstehenden Umstand bei der gerichtlichen Prüfung der Abschiebungsandrohung als Vollstreckungsakt außer acht zu lassen. Es entspricht nämlich einem allgemeinen, in mehreren gesetzlichen Regelungen zum Ausdruck kommenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass eine Grundverfügung nicht mehr vollstreckt werden darf, wenn sie nachträglich rechtswidrig geworden ist und die Vollstreckung daher einen rechtswidrigen Zustand schaffen würde (vgl. § 767 Abs. 2 ZPO, § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG und allgemein VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2.6.1997 - 8 S 577/97 -, VBlBW 1998, 19 m.w.N.).

2. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass sowohl zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts als auch in dem des Senats eine vollziehbare Ausreisepflicht des Klägers bereits gegeben war bzw. ist. Der Kläger hat nach dem Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis am 6.11.2006 (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) keine neue Aufenthaltserlaubnis mehr beantragt, so dass seine Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG) vollziehbar wurde (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG). Auch ist die Ausweisung inzwischen bestandskräftig geworden (siehe § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und Funke-Kaiser in GK-AufenthG, RN 21 zu § 58).