VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 30.04.2008 - 7 L 552/08.DA.A - asyl.net: M13417
https://www.asyl.net/rsdb/M13417
Leitsatz:

Wurde die Flüchtlingsanerkennung widerrufen, weil der Ausländer nach § 60 Abs. 8 AufenthG eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, liegt eine Änderung der Sachlage vor, die einen Folgeantrag rechtfertigt, wenn die Justizvollzugsanstalt die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung befürwortet.

 

Schlagwörter: Türkei, Verfahrensrecht, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufnahmeantrag, Umdeutung, Auslegung, Folgeantrag, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Dev Sol, DHKP-C, Mitglieder, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gefahr für die Allgemeinheit, Straftat, Strafurteil, Strafrestaussetzung, Änderung der Sachlage
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 5; VwVfG § 49 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AsylVfG § 73 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Wurde die Flüchtlingsanerkennung widerrufen, weil der Ausländer nach § 60 Abs. 8 AufenthG eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, liegt eine Änderung der Sachlage vor, die einen Folgeantrag rechtfertigt, wenn die Justizvollzugsanstalt die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung befürwortet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag ist nach § 123 VwGO statthaft, weil im Hinblick auf die Abschiebung des Antragstellers kein Verwaltungsakt i. S. d. § 35 VwVfG ergangen ist. Die Mitteilung des Bundesamtes gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG an die zuständige Ausländerbehörde hat keine unmittelbare Auswirkung gegenüber dem Antragsteller; sie ist lediglich eine zwischen zwei Behörden ergangene Benachrichtigung (VG Darmstadt, Beschl. v. 08.02.1994 - 7 G 30305/94.A [3] -; VG Münster, Urt. v. 30.03.1993 - 3 L 88/93.A -).

Der Antrag ist auch begründet, weil die Mitteilung des Bundesamtes zu Unrecht erging und es der Ausländerbehörde durch die Beseitigung der Mitteilung vorläufig rechtlich unmöglich zu machen ist, eine Abschiebung durchzuführen. Es bestehen nämlich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des der Mitteilung zugrunde liegenden Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 06.02.2008.

Mit Schriftsatz vom 19.10.2007 hat der Antragsteller am 22.10.2007 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag gestellt, das Widerrufsverfahren hinsichtlich des Bescheids vom 04.10.1999 wiederaufzunehmen und den Bescheid des Bundesamtes vom 19.04.2007 aufzuheben. Über diesen Antrag hat das Bundesamt nicht entschieden, sondern den Antrag offenbar als Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylVfG ausgelegt. Die Bedenken des Gerichts, ob diese Auslegung oder Umdeutung des Antrags rechtmäßig war (vgl. dazu Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand: Dezember 2007, II- § 71 Rdnr. 75; Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 71 Rdnr. 15, 65) und das Bundesamt ihn nicht als Wiederaufnahmeantrag im weiteren Sinne nach §§ 51 Abs. 5, 49 Abs. 1 VwVfG hätte behandeln müssen, können dahingestellt bleiben, weil die Anwendung des § 71 Abs. 1 AsylVfG, § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für den Antragsteller ohnehin günstiger ist. Denn dem Bundesamt ist bei seiner Entscheidung über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Gegensatz zu den Fällen der §§ 51 Abs. 5, 49 Abs. 1 VwVfG kein Ermessen eingeräumt; bei Vorliegen neuer Tatsachen hat der Antragsteller einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens.

Der Antragsteller hat entgegen der Ansicht des Bundesamts neue Gründe im Sinne des § 51 Abs. 1 VwVfG vorgetragen.

In dem vom Antragsteller vorgelegten Bericht des Leiters der Vollzugsanstalt A-Stadt vom 30.01.2008 (Blatt 46 der Akte 7 K 445/08.DA.A) heißt es u.a., der Antragsteller habe im Februar 2007 zunächst am Integrationskurs für ausländische Gefangene teilgenommen. Nach Beendigung dieser Maßnahme habe er sich weiter um einen Arbeitsplatz bemüht und sei seit August 2007 als Verwaltungshausarbeiter eingesetzt. Seine Arbeitsleistungen seien sehr zuverlässig, der Gefangene gelte als sehr gründlich und ordentlich. Sein Verhalten sei nie beanstandet worden, Sanktionen hätten nie ausgesprochen werden müssen. Er habe bezüglich der Aufarbeitung seiner Suchtmittelabhängigkeit regelmäßig Gespräche mit dem "Psych. Dienst" geführt und stehe seit mehreren Wochen mit der Jugend- und Drogenberatung des Caritas-Zentrums C-Stadt in Kontakt, um eine therapeutischeBehandlungsmaßnahme vorzubereiten. Diesbezüglich habe der Antragsteller anstandslos am hiesigen Urinprogramm teilgenommen. Alle ihm abverlangten Urinkontrollen hätten einen negativen Befund ausgewiesen. Er verfüge über feste, tragfähige soziale Kontakte, neben seiner in C-Stadt lebenden Schwester auch zu seiner Tante sowie Cousins und Cousinen. Nach seiner Entlassung werde er auch dort weiterhin sozialen Halt bekommen, bei der Schwester seinen Wohnsitz nehmen und sich polizeilich anmelden. Aufgrund des geschilderten Vollzugsverhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung des Gefangenen sei im August 2007 die Eignung für Vollzugslockerungen festgestellt worden. Seit Beginn der Lockerung befinde sich der Antragsteller regelmäßig in Ausgängen und Hafturlauben, die er allesamt anstandslos absolviert habe. Abschließend heißt es, beim Antragsteller sei ein positiver Lebenswandel zu konstatieren, so dass eine Maßnahme gemäß § 57 Abs. 1 StGB von Seiten der Justizvollzugsanstalt befürwortet werde. Im Hinblick auf diese Stellungnahme kann sich das Gericht nicht vorstellen, dass die Justizvollzugsanstalt Lockerungsmaßnahmen vornimmt und dem Antragsteller Ausgänge und Hafturlaub gewährt, wenn er wirklich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 AufenthG darstellt.

Da das Verwaltungsgericht Wiesbaden den Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 19.04.2007 in seinem Urteil vom 13.07.2007 - 7 E 553/07.A - lediglich mit der Begründung gehalten hat, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG lägen vor, aber auf den angeblichen Wegfall der Verfolgungsvoraussetzungen in der Türkei nicht mehr einging, reicht es aus, dass der Antragsteller nur zu dieser Begründung neue Tatsachen vorträgt. Abgesehen davon kann das Gericht nicht feststellen, dass der Antragsteller aufgrund der geänderten Situation in der Türkei tatsächlich hinreichend sicher vor staatlicher Verfolgung ist, da er nicht zu dem vom Bundesamt genannten Personenkreis gehört, der weniger schwerwiegende Taten begangen hat, sondern aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Dev Sol und der DHKP-C bereits erhebliche Verfolgungsmaßnahmen hat erleiden müssen, worauf das Bundesamt in seinen Bescheiden vom 19.04.2007 und 06.02.2008 nur unzureichend eingegangen ist.