VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 14.02.2008 - 1 E 1137/07 (V) - asyl.net: M13423
https://www.asyl.net/rsdb/M13423
Leitsatz:

Armenischen Volkszugehörige aus Aserbaidschan ist die Ausreise nach Armenien i.S.d. 25 Abs. 3 AufenthG nur möglich, wenn sie dort als Flüchtling registriert worden sind; eine Ausreise nach Armenien, um dort einen Asylantrag zu stellen, ist nicht zumutbar; Straftaten von erheblicher Bedeutung stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG nicht entgegen, wenn die Taten den Rechtsfrieden nicht mehr stören und nicht mehr geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, subsidiärer Schutz, Ausreisemöglichkeit, freiwillige Ausreise, Beweislast, Armenien (A), Aserbaidschan, Armenier, Registrierung, Asylantrag, Zumutbarkeit, Straftat, Straftaten von erheblicher Bedeutung, Körperverletzung, Verwertbarkeit, Verhältnismäßigkeit, atypischer Ausnahmefall, Widerrufsverfahren, Bindungswirkung, Anerkennungsbescheid, Ausländerbehörde, Ermessen
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AsylVfG § 42 S. 1
Auszüge:

Armenischen Volkszugehörige aus Aserbaidschan ist die Ausreise nach Armenien i.S.d. 25 Abs. 3 AufenthG nur möglich, wenn sie dort als Flüchtling registriert worden sind; eine Ausreise nach Armenien, um dort einen Asylantrag zu stellen, ist nicht zumutbar; Straftaten von erheblicher Bedeutung stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG nicht entgegen, wenn die Taten den Rechtsfrieden nicht mehr stören und nicht mehr geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die erhobene Verpflichtungsklage in der Form der Bescheidungsklage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Bescheidung seines Antrages auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG.

Im Falle des Klägers sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gegeben. Denn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 53 Abs. 4 (jetzt § 60 Abs. 5 AufenthG) liegen vor. Das Bundesamt hat nämlich mit bestandskräftigem Bescheid vom 29.01.1997 festgestellt, dass bei dem Kläger die Voraussetzung des § 53 Abs. 4 AuslG in Bezug auf Aserbaidschan vorliegen.

Der Umstand, dass das Bundesamt inzwischen ein Widerrufsverfahren bezüglich des von ihm förmlich festgestellten Abschiebungsverbots eingeleitet hat, ändert hieran nichts. So lange das förmlich festgestellte Abschiebungsverbot nicht unanfechtbar oder vollziehbar widerrufen ist, ist die Ausländerbehörde an die Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG gebunden (vgl. § 42 S. 1 AsylVfG; BVerwG, Urteil v. 22.11.2005 a.a.O.).

Entgegen der Auffassung des Beklagten greift vorliegend keiner der in § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG aufgeführten Ausschlussgründe ein.

Nach § 25 Abs. 3 S. 2 1. Alternative wird die Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist. Da bei dem Ausländer ein Abschiebeverbot für sein Herkunftsland festgestellt ist, ist mit ein anderer Staat i.S.d. Vorschrift nach einhelliger Auffassung nur ein Drittstaat, indem dem der Ausländer nicht die Gefahren drohen, die zur Feststellung des Abschiebungsverbots geführt haben, gemeint (BVerwG Urteil v. 22.11.2005 a.a.O.; Burr in GK AufenthG § 25 Rdnr. 35). Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 15/420 (79)) wird kein Aufenthaltstitel erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist. Der Begriff der Ausreise umfasst sowohl die zwangsweise Rückführung als auch die freiwillige Ausreise. Möglich ist die Ausreise, wenn die betroffene Person in den Drittstaat einreisen und sich – zumindest vorübergehend – aufhalten darf. Die Ausreise ist zumutbar, wenn die mit dem Aufenthalt im Drittstaat verbundenen Folgen, die betroffene Person nicht stärken treffen, als die Bevölkerung des Drittstaates. Die Darlegung, in welchen Staat eine Ausreise möglich ist, obliegt der Ausländerbehörde. Maßgeblich für die Auswahl ist die Beziehung der betroffenen Person zum Drittstaat. So ist beispielsweise eine Ausreise in einen Drittstaat möglich, wenn die betreffende Person einen Aufenthaltstitel für einen Drittstaat hat, dort lange gelebt hat und/oder der Ausländer zu einer Volksgruppe gehört, der im Drittstaat regelmäßig Einreise und Aufenthalt ermöglicht wird. Ferner muss eine Aufnahmebereitschaft des Drittstaates bestehen. Vorliegend kann nach dem Vorbringen des Beklagten und den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht festgestellt werden, dass dem Kläger eine Ausreise nach Armenien möglich und zumutbar ist. Wie sich aus dem in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführten Gutachten von Frau Dr. S vom 14.12.2005, erstattet für das OVG Mecklenburg-Vorpommern, ergibt, erhalten armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan nach ihrer Anerkennung in Armenien eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung, die auf Antrag verlängert werden kann (vgl. S. 18 des Gutachtens). Schutzsuchende, die lediglich durch Armenien gereist sind, ohne sich registrieren zu lassen oder dort dauerhaften Schutz zu suchen, können nicht als in Armenien niedergelassen betrachtet werden. Dasselbe gilt für Flüchtlinge, die in anderen Staaten Schutz suchten, ohne durch Armenien zu reisen. Die Verfassung Armeniens garantiert nur armenischen Staatsangehörigen ein Wiederkehrrecht. Flüchtlinge besitzen ein derartiges Rückkehrrecht nicht, unabhängig von ihrer Ethnizität – es sei denn, sie besitzen einen gültigen Reiseausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention, den sie beantragen können. Davon unabhängig genehmigt jedoch die armenische Regierung faktisch eine Rückkehr und Wiederaufnahme von Flüchtlingen armenischer Ethnizität, falls diese zuvor nachweislich in Armenien als Flüchtlinge registriert waren. Dem UNHCR sind keine Fälle bekannt, in denen Flüchtlinge armenischer Volkszugehörigkeit, die in Armenien registriert waren, die Wiederkehr verwehrt worden wäre. Personen, die in der Vergangenheit nicht als Flüchtlinge registriert wurden, werden hingegen nicht zurückgenommen. Die offizielle Position des armenischen Amtes für Migration und Flüchtlinge ist, dass diese grundsätzlich nur als gewöhnliche Reisende durch Vorweisen von gültigen Reisedokumenten ins armenische Staatsgebiet einreisen und dort einen Asylantrag stellen können. Das bedeutet, dass Armenien in der Regel nur diejenigen Personen, die in Armenien als Flüchtlinge registriert wurden und das Land mit einem gültigen Reiseausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention verlassen haben ein Wiederkehrrecht gewährt. Personen, die registriert wurden, aber keinen Flüchtlingsausweis erhalten haben oder die Armenien verlassen haben, bevor der sowjetische Reiseausweis ungültig wurde, wurde die Wiederkehr bisher in der Regel faktisch gewährt. Bei Personen, die nicht registriert wurden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass ihnen ein Rückkehrrecht gewährt wird. Daraus folgt für den Fall des Klägers, der sich gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach der Ausreise aus Berg-Karabach für die Dauer von elf Monaten in Armenien bei Verwandten bzw. in einem Flüchtlingscamp aufgehalten hat, dass eine Rückkehr nach Armenien nur möglich ist, wenn er in Armenien als Flüchtling registriert war. Im Hinblick darauf, dass sich der Kläger nach seiner Ausreise aus Berg-Karabach nach eigenen Angaben in einem Flüchtlingscamp aufgehalten hat, spricht zwar einiges dafür, dass der Kläger in Armenien auch als Flüchtling registriert war, Belege hierfür gibt es jedoch nicht, so dass derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass der armenische Staat dem Kläger ein Rückkehrrecht einräumt.

Soweit der Beklagte davon ausgeht, dass der Kläger ungeachtet der Frage seiner Registrierung als Flüchtling in Armenien als Tourist nach Armenien reisen kann, wie es bereits sein Bruder getan hat, ist darauf hinzuweisen, dass nicht registrierte Flüchtlinge einen Daueraufenthalt nur dadurch erreichen können, dass sie in Armenien einen Asylantrag stellen. In einem solchen Falle wird über die Asylanträge auf der Grundlage des armenischen Flüchtlingsgesetzes in einem individuellen Asylverfahren entschieden. Eine Ausreise des Klägers nach Armenien, um dort einen Asylantrag zu stellen, ist für den Kläger unzumutbar. Dies folgt nach Ansicht des Gerichtes schon aus dem gegenwärtigen sozioökonomischen Bedingungen in Armenien. Wie sich aus dem zitierten Gutachten (Seite 20) ergibt, sind die Lebensbedingungen für alle Asylsuchenden äußert schwierig. Neuankömmlinge werden auf eine lange Warteliste für ein Zimmer in einem der Gemeinschaftszentren gesetzt, in denen sie unter schlechten Bedingungen – oft ohne Sanitäranlagen und Fließwasser – leben müssen. Damit wäre der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Armenien stärker von der allgemeinen existenziellen Situation in Armenien betroffen als die Bevölkerung des Drittstaates generell.

Auch der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 S. 2 b AufenthG greift nicht ein. Nach der zitierten Vorschrift wird die Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat. Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit dem Ausschlusstatbestandes des Art. 1 FGK (Abs. 3 S. 2 a und b) bzw. des Art. 17 der Richtlinie 2004/83 des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen. Nach Art. 17 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er (b) eine schwere Straftat begangen hat. Dies wird im nationalen Recht in § 60 Abs. 8 AufenthG dahin umgesetzt, dass subsidiärer Schutz nicht gewährt wird, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Diese Voraussetzungen wären in der Person des Klägers nicht erfüllt, weil er "lediglich" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde. Da es bei den Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 S. 2 jedoch nicht um einen Ausschluss des Abschiebungsschutzes schlechthin, sondern um die Versagung der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen geht, ist ein Ausländer nicht erst dann von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 ausgeschlossen, wenn er die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt (vgl. hierzu Burr – GK AufenthG § 25 Rdnr. 49; VG Stuttgart, Urteil v. 07.10.2005 Az.: 9 K 2107/05 InfAuslR 2006 Seite 78). Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Begriff, Straftaten von erheblicher Bedeutung "um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der gerichtlich voll nachprüfbar ist. Es muss sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handeln, die im Rechtsfrieden empfindlich stören oder geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Besonders bedeutsam sind dabei die Art und Schwere der jeweiligen Tat. Die Straftat muss ein Gewicht aufweisen, das es gerechtfertigt erscheinen lässt, den gesetzgeberischen Zweck der Legalisierung des Aufenthalts zurücktreten zu lassen. Maßgebend sind dabei die Umstände des jeweiligen Einzelfalles" (vgl. Gerichtsbescheid VG Würzburg v. 06.08.2007 Az.: W 7 K 06.1075-juris). Bei der vom Kläger begangenen Straftat der gefährlichen Körperverletzung, die mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren geahndet wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, handelt es sich nicht zuletzt auch im Hinblick auf das verletzte Rechtsgut unzweifelhaft um eine Straftat von erheblicher Bedeutung. Insofern hat der Beklagte zu Recht das Vorliegen des Ausschlussgrundes in Erwägung gezogen. Der Ausschlussgrund kann jedoch dem Ausländer dann ungeachtet der Frage der Tilgung der Straftat im Bundeszentralregister aus Gründen der Verhältnismäßigkeit dann nicht mehr entgegengehalten werden, wenn in Ansehung des konkreten Falles der Ausländer des humanitären Aufenthaltsrechtes nicht mehr unwürdig ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Taten den Rechtsfrieden nicht mehr stören und nicht mehr geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. ähnlich VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 a. a. O.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Straftat des Klägers liegt acht Jahre zurück, die Strafe wurde nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen. Der Kläger ist seit dieser Zeit strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten, hatte ein Fachhochschulstudium absolviert und befindet sich gerade in der Prüfungsphase. Daneben hat er sich durch viele Praktika in das berufliche Leben der Bundesrepublik Deutschland integriert. Trotz Vorliegen der tatbestandlichen Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG ist im Hinblick auf das vom Bundesamt eingeleitet Widerrufsverfahren von einem atypischen Fall auszugehen.

Das bedeutet nicht, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausscheidet. Vielmehr hat die Ausländerbehörde unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles über die Erteilung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2005 a. a. O.): Bei der von der Beklagten zu treffenden Ermessensentscheidung wird der Beklagte – sofern bis zum Entscheidungszeitpunkt im Widerrufsverfahren keine rechtskräftige Entscheidung ergangen sein sollte – die Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben, die das BVerwG in der bereits vielfach zitierten Entscheidung vom 22.11.2005 im Einzelnen aufgeführt hat.