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Zitieren als:
, Beschluss vom 15.01.2008 - S 16 AS 690/07 ER - asyl.net: M13428
https://www.asyl.net/rsdb/M13428
Leitsatz:

Der Ausschluss von Sozialhilfe nach § 23 Abs. 3 SGB XII bei Einreise, um Sozialhilfe zu beziehen, oder Aufenthalt allein zum Zweck der Arbeitssuche ist nicht auf Unionsbürger anwendbar, die nicht ausreisepflichtig sind.

 

Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Erwerbstätigkeit, Arbeitsgenehmigung, Beitrittsstaaten, Grundsicherung für Erwerbsunfähige, Hilfe zum Lebensunterhalt, Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen, Diskriminierungsverbot, Inländergleichbehandlung, Freizügigkeit, Arbeitssuche, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGB II § 8 Abs. 2; SGB XII § 23 Abs. 3; EG Art. 12; EG Art. 18
Auszüge:

Der Ausschluss von Sozialhilfe nach § 23 Abs. 3 SGB XII bei Einreise, um Sozialhilfe zu beziehen, oder Aufenthalt allein zum Zweck der Arbeitssuche ist nicht auf Unionsbürger anwendbar, die nicht ausreisepflichtig sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag ist nur bei wortgetreuer Auslegung (dazu unter 1.) unbegründet, da kein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende besteht. Die Antragsgegner haben aber einen entsprechenden sozialhilferechtlichen Anspruch (dazu unter 2.), der ebenfalls dem Antragsbegehren entspricht.

1. Die Antragstellerin zu 2) hat keinen Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld II nach §§ 7ff., 19ff. Sozialgesetzbuch, Zweites Buch, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), da sie nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II ist.

Ausländer können nach § 8 Abs. 2 SGB II nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Eine Möglichkeit der Erlaubnis fehlt auch, wenn die Arbeitsgenehmigung bestandskräftig versagt wurde (LSG Bayern, Beschl. v. 12. Juli 2006, Az.: L 11 B 154/06 AS ER, FEVS 58, 183).

Es ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin zu 2) gegen die Versagung der Arbeitsgenehmigung für die Tätigkeit als Eisverkäuferin Widerspruch eingelegt hat. Ungeachtet dessen reicht die gesetzgeberisch eingeräumte abstrakt-generelle Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU nicht aus, um ein "Können" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II zu bejahen. Vielmehr muss die konkrete Aussicht auf die Erteilung bestehen, denn wenn keine realistische Chance auf Genehmigung einer Beschäftigung besteht, kann das Ziel einer Integration in den Arbeitsmarkt nicht erreicht werden (LSG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 17. Oktober 2006, L 3 ER 175/06 AS, NZS 2007, 220; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 14. Juni 2006, Az.: L 6 AS 376/06 ER; a. A.: Brühl in: Münder (Hrsg.), LPK-SGB II, 2. Aufl. § 8 Rn. 35; Hackethal in: jurisPK SGB II, § 8 Rn. 34f. m. w. N.). Die Frage, ob ein Arbeitsmarktzugang rechtlich gewährt werden könnte, richtet sich nach den arbeitsgenehmigungsrechtlichen Regelungen, so dass eine Einschätzung der Arbeitsmarktlage vorzunehmen ist. So ist vorliegend bei einer in ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkten Hilfebedürftigen ohne Berufsausbildung die Tatbestandsseite des § 39 Abs. 2 AufenthG zu prüfen (§ 39 Abs. 6 AufenthG). Dieser Auslegung ist – entgegen der von den Antragstellern zitierten Entscheidung des SG Dessau, Az.: S 9 AS 386/05 ER – bereits aus normsystematischen Gründen zuzustimmen, da andernfalls eine vorhandene Erlaubnis § 8 Abs. 2 1. Var. SGB II ohne Bedeutung wäre. Zudem folgt aus den Gesetzgebungsmaterialien, dass eine Prüfung der Genehmigungsfähigkeit am Maßstab des Arbeitsgenehmigungsrecht vorzunehmen sein soll (BT-Drs. 15/1516, S. 52).

Auch insoweit ist die Arbeitsmarktvorrangprüfung nach dem Vortrag der Antragstellerin zu 2) allein bezogen auf die – bereits abschlägig beschiedene – Tätigkeit als Eisverkäuferin zu beziehen. Es besteht mithin keine konkrete Aussicht auf Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU.

2. Indes ist die Antragsgegnerin als Leistungsträgerin nach dem SGB XII leistungspflichtig und der Antrag insoweit begründet.

Die Kammer ist trotz der Zuständigkeit für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende in analoger Anwendung von §§ 75 Abs. 2 2. Var, Abs. 5 SGG zuständig für die Entscheidung über einen Sozialhilfeanspruch nach dem SGB XII.

Die Antragsteller haben Ansprüche auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 19ff., 28ff. SGB XII.

§ 21 SGB XII steht einer Leistungsgewährung nicht entgegen, da die Antragsteller nicht erwerbsfähig i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II sind, mithin – wie ausgeführt – bereits dem Grunde nach kein vorrangiger Anspruch nach §§ 7ff., 19 ff. SGB II besteht.

Der Anspruch auf Sozialhilfeleistungen ist nicht nach § 23 Abs. 3 Satz 1 2. Var. SGB XII ausgeschlossen, da diese Vorschrift europarechtskonform dahingehend zu reduzieren ist, dass jedenfalls Unionsbürger, die nicht ausreisepflichtig sind, von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen sind. Nach dem Wortlaut der Vorschrift haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Eine wortlautgetreue Anwendung der Vorschrift verstößt im vorliegenden Fall gegen Art. 12 und 18 EGV, da sich die Antragsteller als Unionsbürger in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihr Aufenthaltsrecht nicht verloren haben.

Der Gewährleistungsbereich der Art. 12 und 18 EGV eröffnet.

Der Europäische Gerichtshof hat auf der Grundlage des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des Art. 12 EGV einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung bei sozialhilfeähnlichen Leistungen angenommen, wenn Unionsbürger bereits von ihrer Freizügigkeit als Unionsbürger nach Art. 18 EGV – nicht: von ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit – Gebrauch gemacht haben (vgl. EuGH, Urt. v. 20. September 2001, Rs. C-184/99 – "Grzelczyk", Slg. 2001 S. I-6193; Urt. v. 23. März 2004, Rs. C-138/02 – "Collins", EuZW 2004, 507; Urt. v. 07. September 2004, Rs. C-456/02 – "Trojani", EuZW 2005, 307; vgl. auch zu anderen beitragsunabhängigen Sozialleistungen: EuGH, Urt. v. 12. Mai 1998, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (2716 f.) – "Martínez Sala"; Urt. v. 11. Juli 2002, Rs. C-224/98, Slg. 2002 I-6191 – "D′Hoop"; Urt. v. 15. März 2005, Rs. C-209/03, EuZW 2005, 276 – "Bidar"; Urt. v. 26. Oktober 2006, Rs. C-192/05, Slg. 2006 I-1045 – "Tas-Hagen und Tas").

Die genannten Entscheidungen werden vom Gericht dahingehend interpretiert, dass ein Unionsbürger einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung bei Grundsicherungsleistungen hat, wenn er gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigt ist oder ein Erlöschen des früher begründeten Aufenthaltsrechts bislang nicht festgestellt worden ist; solange der Mitgliedstaatsangehörige einen Aufenthaltstitel nach nationalem Recht besitzt, besteht unabhängig von einem gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrecht ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung im Bereich von Grundsicherungsleistungen (Sander, DVBl. 2005, 1014 (1016); im Erg. auch LSG NRW, Beschl. v. 27. Juni 2007, Az.: L 9 B 80/07 AS ER; einen Anlass zur europarechtskonformen Auslegung sehen ferner LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 25. April 2007, Az.: L 19 B 116/07 AS ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 25. Juli 2007, Az.: L 6 AS 444/07 ER).