VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 19.12.2007 - 9 E 687/06.A(2) - asyl.net: M13434
https://www.asyl.net/rsdb/M13434
Leitsatz:

1. Der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG ist auch auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anwendbar. Rechtsgrundlage für den Widerruf des Ehegatten- und Familienasyls wegen Einbürgerung des Stammberechtigten ist daher § 73 Abs. 2 b S. 2 AsylVfG.

2. Der Widerruf nach § 73 Abs. 2 b S. 2 AsylVfG stellt eine gebundene Entscheidung dar. Er wird von der Ermessensregelung des § 73 Abs. 2 a S. 4 AsylVfG nicht erfasst.

 

Schlagwörter: Widerruf, Asylanerkennung, Familienasyl, Erlöschen, Einbürgerung, Staatsangehörigkeit, deutsche Staatsangehörigkeit, Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Sippenhaft, Verdacht der Unterstützung, PKK, Ermessen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2b; AsylVfG § 26 Abs. 1; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 3; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG ist auch auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anwendbar. Rechtsgrundlage für den Widerruf des Ehegatten- und Familienasyls wegen Einbürgerung des Stammberechtigten ist daher § 73 Abs. 2 b S. 2 AsylVfG.

2. Der Widerruf nach § 73 Abs. 2 b S. 2 AsylVfG stellt eine gebundene Entscheidung dar. Er wird von der Ermessensregelung des § 73 Abs. 2 a S. 4 AsylVfG nicht erfasst.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist insgesamt unbegründet.

Das Bundesamt hat den Asylanerkennungsbescheid vom 30.09.1996 zu Recht widerrufen. Der Kläger hat auch weder einen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 1 AufenthG, noch dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. In den Fällen des § 26 Abs. 1, 2 und 4 AsylVfG ist gem. § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG die Asylanerkennung ferner zu widerrufen, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten, von dem die Anerkennung abgeleitet worden ist, erlischt, widerrufen oder zurückgenommen wird und der Ausländer nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden könnte. Diese Regelung, die dem § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG alte Fassung entspricht, bringt den akzessorischen Rechtscharakter des Ehegatten- und Familienasyls zum Ausdruck, die sowohl in den Voraussetzungen als auch im Fortbestand von der originären Asylberechtigung abhängig sind (vgl. Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 73 Rdnr. 15; Marx, AsylVfG, 6. Aufl., 2005, § 73 Rdnr. 145). Dabei erfolgen für den Stammberechtigten der Widerruf und die Rücknahme gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG bzw. § 73 Abs. 2 AsylVfG. Das Erlöschen der Asylberechtigung ergibt sich aus § 72 Abs. 1 AsylVfG.

Nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter, wenn der Ausländer auf Antrag eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, genießt. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit unter diese Regelung fällt. Die Auffassung, die den Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG nicht auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anwenden will, weist darauf hin, dass der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die Asylanerkennung ohnehin gegenstandslos mache, da asylrechtlichen Schutz nur derjenige genieße, der nicht zugleich Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sei. Eine zuvor erfolgte Asylanerkennung erledige sich daher eo ipso mit der Konsequenz, dass der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG nicht gemeint sein könne. Hätte sie erfasst werden sollen, hätte es einer anderen Formulierung bedurft (so Renner, a.a.O., § 72 Rdnr. 21 und 24; VG Schl.-Hst., Urt. v. 17.11.2006 - 4 A 277/04 -, juris; wohl auch VG Ansbach, Urt. v. 12.09.2007 - AN 11 K 07.30560 -, juris). Teilweise wird darüber hinaus argumentiert, dass der mit der Anerkennung verbundene rechtmäßige gewöhnliche Aufenthalt durch die Einbürgerung zur deutschen Staatsbürgerschaft "erstarkt" sei, ohne dass sich mit Blick auf das Heimatland an dem fortbestehenden Bedürfnis nach Schutz vor politischer Verfolgung durch den deutschen Staat etwas geändert habe. Der Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention werde in diesem Fall weiterhin realisiert (vgl. VG Schl.-Hst., a.a.O.).

Hiergegen kann jedoch eingewendet werden, dass auch bei einem Erwerb der Staatsangehörigkeit eines dritten Staates sich an der Verfolgungssituation im Heimatland nichts ändert und dennoch die Asylanerkennung nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erlischt, weil dem Schutzbedürfnis anderweitig nachgekommen wird. Nach Auffassung der erkennenden Einzelrichterin ist der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG auch auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anwendbar, da sich der Sachverhalt ohne weiteres unter den Wortlaut der Regelung subsumieren lässt (so auch Marx, a.a.O., § 72 Rdnr. 33 und ohne Problematisierung auch VG Göttingen, Urt. v. 23.03.2006 - 2 A 57/06 -, juris). Der Umstand, dass der durch die Einbürgerung zur deutschen Staatsangehörigkeit erstarkte Aufenthaltsstatus aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG zum Widerruf des Ehegatten- und Familienasyls führen kann, wird dadurch ausgeglichen, dass sich der Betroffene nunmehr auf eigene Asylgründe berufen kann (siehe § 73 Abs. 2b S. 2 a.E.). Dies ist die notwendige Konsequenz aus dem Umstand, dass beim Ehegatten- und Familienasyl aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung keine Prüfung der eigenen Asylgründe vorausgeht. Das Familienasyl erlischt nicht kraft Gesetzes, sondern es bedarf der Durchführung eines Widerrufsverfahrens (vgl. Marx, a.a.O., § 73 Rdnr. 149, 150, 158).

Die andere Auffassung, wonach der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht anwendbar sei, kommt beim Widerruf des Ehegatten- und Familienasyls zwar letztendlich zu dem gleichen Ergebnis, indem auf den Grundtatbestand des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG zurückgegriffen wird. Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG stelle auch der nachträgliche Fortfall der speziellen Voraussetzungen des § 26 AsylVfG einen Anwendungsfall dieser Regelung dar. Der Wortlaut des Gesetzes sei jedoch teleologisch dahin zu reduzieren, dass die Anwendung der Widerrufsregelung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Familienasyls ausgeschlossen sei, wenn die Ehe durch Scheidung oder Tod aufgelöst oder das minderjährige Kind volljährig werde oder verheiratet sei (vgl. Renner, a.a.O., § 73 Rdnr. 18 m.w.N.). Darüber hinaus wird teilweise aber auch vertreten, dass der Anwendungsfall des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG auf den Widerruf der originären Anerkennung wegen Wegfalls der politischen Verfolgung beschränkt sei und ein Rückgriff auf diese Vorschrift ausscheide, wenn die speziellen Voraussetzungen des § 26 AsylVfG weggefallen seien (vgl. VG Schl.-Hst., a.a.O.; Marx, a.a.O., § 73 Rdnr. 151 bis 157). Da nach hier vertretener Auffassung der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit unter den Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG fällt, findet auf den Widerruf des Ehegatten- und Familienasyls wegen Einbürgerung des Stammberechtigten die spezialgesetzliche Regelung des § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG ohnehin Anwendung.

Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2b S. 2 AsylVfG sind vorliegend erfüllt.

Die Asylanerkennung des stammberechtigten Vaters, von dem der Kläger seine Rechtsstellung ableitet, ist in Folge dessen Einbürgerung im Dezember 2005 gem. § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG kraft Gesetzes erloschen.

Der Kläger kann auch nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden. Unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers zur allgemeinpolitischen Lage in der Türkei, der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen und des Inhalts der beigezogenen Behördenakten sowie der Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts Wiesbaden kann nicht festgestellt werden, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei derzeit eine politische Verfolgung droht.

Allein aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit hat der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei keine staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten. Eine landesweite oder auch nur örtlich begrenzte Gruppenverfolgung der Kurden kann etwa seit Beginn des Jahres 2002 nicht mehr festgestellt werden (vgl. HessVGH, Urt. v. 15.03.2004 - 12 UE 1218/03.A -; Urt. v. 05.08.2002 - 12 UE 2982/00 -; vgl. auch OVG Nordrh.-Westf., Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A, juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.11.2004 - A 12 S 1189/04 -, juris).

Dem Kläger drohen aufgrund der - durch Einbürgerung mittlerweile erloschenen - Asylanerkennung des Vaters bei einer Rückkehr in die Türkei auch keine sippenhaftähnlichen Maßnahmen. Zur Begründung nimmt die erkennende Einzelrichterin insoweit Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 17.03.2006 (S. 5 f.). Das Verwaltungsgericht Wiesbaden stellte mit Urteil vom 13.10.1995 fest, dass der Vater des Klägers wegen tatsächlicher oder vermuteter Unterstützung der PKK mit Geld und Nahrungsmitteln im Oktober 1989 verhaftet und gefoltert wurde. Wegen dieser mehr als 17 Jahre zurückliegenden Unterstützungshandlungen besteht für den Kläger nicht die Gefahr sippenhaftähnlicher Repressalien, zumal nach dem Vater weder als prominenter PKK-Aktivist noch mit Haftbefehl gefahndet wurde (vgl. auch HessVGH, Urt. v. 01.12.2004 - 6 UE 2163/01.A -, juris).

Der Widerruf nach § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG stellte eine gebundene Entscheidung dar. Die nach § 73 Abs. 2a S. 4 vorgesehene Ermessensentscheidung steht im Zusammenhang mit der im § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG geregelten Prüfungspflicht. Diese Regelung bezieht sich nach ihrem eindeutigen Wortlaut lediglich auf einen Widerruf nach Abs. 1 oder eine Rücknahme nach Abs. 2 des § 73 AsylVfG. Der Widerruf der Asylanerkennung in den Fällen des § 26 Abs. 1, 2 und 4 richtet sich hingegen nach § 73 Abs. 2b AsylVfG und wird von dieser Ermessensregelung nicht erfasst. Dies begründet sich aus der Akzessorietät des Ehegatten- und Familienasyls und rechtfertigt sich damit, dass der Betroffene nunmehr seine eigenen Asylgründe geltend machen kann. Eine planwidrige Regelungslücke (vgl. insoweit VG Frankfurt, Urt. v. 12.07.2007 - 10 E 1131/06.A -) liegt nach der Neuregelung des § 73 AsylVfG durch Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 jedenfalls nicht mehr vor. Der Gesetzgeber hat den Widerruf des Familienasyls bewusst in einem eigenen Absatz geregelt und die Prüfungspflicht sowie die spätere Ermessensentscheidung ausdrücklich nur auf den Widerruf nach Abs. 1 bzw. die Rücknahme nach Abs. 2 erstreckt. Außerdem wurde in § 73 Abs. 7 AsylVfG zur Klarstellung geregelt, dass die Prüfung nach Abs. 2 a S. 1 spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen hat, wenn die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden ist (vgl. BT-Drucks 16/5065, S. 219 f.). Selbst wenn eine Prüfungspflicht bei dem Kläger bestehen würde, wäre dieser Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes vom 17.03.2006 ist daher nicht wegen fehlender Ermessenserwägungen zu beanstanden.