VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 03.12.2007 - 11 UE 765/07 - asyl.net: M13437
https://www.asyl.net/rsdb/M13437
Leitsatz:

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können auch durch die Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen erfüllt sein, ohne dass die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 bis 7 AufenthG bereits vorliegen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Vereinsverbot, Kalifatsstaat, Ümmet-Moschee, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Ermessen, Ermessensergänzung, häusliche Gewalt, Straftat, Europäisches Niederlassungsabkommen
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2; VwGO § 114 S. 2; ENA Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können auch durch die Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen erfüllt sein, ohne dass die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 bis 7 AufenthG bereits vorliegen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Zu Recht hat die Widerspruchsbehörde die Ausweisung auf die Rechtsgrundlage des § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützt. Der Umstand, dass die Voraussetzungen einer Regelausweisung, hier nach § 54 Nr. 5, 5a, 6, 7 AufenthG, nicht erfüllt sind (siehe dazu den Beschluss des Senats im Eilverfahren vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05), hindert nach einhelliger Rechtsauffassung nicht den Rückgriff auf eine Ausweisung nach Ermessen (s. BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 - 1 C 11.99 - juris; Discher in GK-AufenthG, vor §§ 53 ff., Rdnr. 29.1).

Der Kläger ist zumindest Unterstützer der Organisation "Kalifatstaat" und des ihr zuzurechnenden Mitgliedsvereins "Ümmet-Moschee".

Bei der Vereinigung "Kalifatstaat" handelt es sich um eine durch Verfügung des Bundesministeriums des Innern vom 8. Dezember 2001 verbotene Vereinigung. Das Vereinsverbot ist seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 (- 6 A 4.02 -, NVwZ 2003, S. 986) bestandskräftig. In der Verfügung ist festgestellt, dass die Vereinigung "Kalifatstaat" sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtet sowie die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.

Der Kläger hat demnach durch seine auch über die bestandskräftige Verfügung hinausreichende weitere Unterstützung von Organisationen des "Kalifatstaats", gegen die Verbotsverfügung verstoßen und den Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Ferner ist der Kläger seit dem Jahre 2000 in einer Vielzahl von Fällen strafrechtlich verurteilt worden.

Da der Kläger besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genießt, kann er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Solche Gründe liegen nach Auffassung des Senats vor. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat (BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -, juris, zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG m.w.N.). Im vorliegenden Fall bejaht der Senat solche schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Hinblick auf den fortgesetzten Verstoß des Klägers gegen die bestandskräftige Verbotsverfügung betreffend die Organisation Kalifatstaat in Verbindung mit hartnäckigen, von Uneinsichtigkeit geprägten (siehe dazu etwa das Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 03.02.2006, Urteilsabdruck S. 4) Straftaten des Klägers im unteren Bereich der Kriminalität.

Bei der Gewichtung des öffentlichen Interesses misst der Senat hier dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass die Verstöße des Klägers gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung sich zum Teil in einem Bereich bewegen, der relevant ist für die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes gegen totalitäre und verfassungsfeindliche Bestrebungen. Dies verstärkt das Gewicht des öffentlichen Interesses und gibt ihm hier ein deutliches Übergewicht gegenüber dem vom Gesetz bezweckten erhöhten Ausweisungsschutz des Ausländers. Der erhöhte Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 4 AufenthG beruht nämlich auf dem Gedanken der Integration des Ausländers in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Unterstützung von Organisationen, die das Menschenbild und das Staatsgefüge des Grundgesetzes ablehnen, zeigt demgegenüber, dass diese Integration trotz eines langen Aufenthalts in Deutschland defizitär geblieben ist.

Eine Überwindung des besonderen Ausweisungsschutzes durch das Vorliegen von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wird entgegen der Auffassung des Klägers nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eingreift. Aus § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass dann, wenn der Regelfall eines Vorliegens von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht gegeben ist, die Feststellung von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von vornherein ausgeschlossen ist. Vielmehr können dann im Einzelfall solche schwerwiegenden Gründe geprüft und festgestellt werden (so VGH Mannheim, Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 -, juris Rdnr. 31; Hailbronner, AuslR, § 56 AufenthG, Rdnr. 22).

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können auch außerhalb des Bereichs von Straftaten gegeben sein. Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats aus dem Verweis in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf § 54 Nr. 7 AufenthG. Hieraus wird erkennbar, dass in der Vorstellung des Gesetzgebers schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung etwa auch dann vorliegen können, wenn jemand, wie in § 54 Nr. 7 AufenthG benannt, ohne Straftaten begangen zu haben, zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeiten Strafgesetzen zuwider laufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Schließlich kann aus der Zusammenschau von § 56 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 und § 54 Nr. 7 AufenthG noch weitergehend entnommen werden, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Einzelfall auch dann vorliegen können, wenn jemand als passives oder einfaches Mitglied einem in § 54 Nr. 7 genannten Verein angehört, ohne Leiter des Vereins zu sein.

Die Ermessenserwägungen der Widerspruchsbehörde sind nicht zu beanstanden. Die Behörde entscheidet sich zusammengefasst für die Ausweisung des Klägers vor allem wegen des erheblichen Interesses der Bundesrepublik Deutschland, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu bekämpfen. Damit soll den festgestellten schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zur Durchsetzung verholfen werden (S. 3 des Widerspruchsbescheides 3. und 4. Absatz). Der Hinweis des Klägers auf die Einschränkung des Regelausweisungstatbestandes nach § 54 Nr. 5 AufenthG auf Fälle gegenwärtiger Gefährlichkeit musste zu keiner anders vorzunehmenden Ermessensausübung führen. Die Widerspruchsbehörde stellt gegenwärtig vorliegende schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fest und geht im Rahmen der Ermessensausübung von einem gegenwärtigen erheblichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Ausweisung aus.

Diese Einschätzung hat die Beklagte untermauert durch die von ihr in das laufende gerichtliche Verfahren eingeführte Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht A-Stadt vom 13. Dezember 2006. Der Senat sieht in der "kommentarlosen" Übersendung des Urteils - anders als das Verwaltungsgericht - eine statthafte Ergänzung der Ermessenserwägungen (§ 114 Satz 2 VwGO). Denn die Behörde sieht sich mit ihren in den Verfügungen getroffenen Bewertungen bestätigt. Der Kläger ist in dem Urteil wegen Körperverletzung an seiner Ehefrau in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Diese strafrechtliche Verurteilung stellt die Verbindung her zu der in der Ausweisungsverfügung festgestellten verfassungsfeindlichen Einstellung des Klägers, weil hieraus erkennbar wird, dass nicht nur seine gedankliche Einstellung, sondern auch sein Handeln nicht mit Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), vereinbar ist. Die Widerspruchsbehörde hatte vor der Einführung des Urteils in das Ausweisungsverfahren schon festgestellt, dass der Kläger seine Frau wie sein persönliches Eigentum behandelt. Der Kläger ist dann strafrechtlich verurteilt worden, weil er seine Ehefrau mehrfach und in entwürdigender Art und Weise misshandelt hatte.

Schließlich sind auch die gegenläufigen privaten Interessen des Klägers in die Ermessensausübung eingestellt worden.

§ 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens steht der Ausweisung des Klägers nicht entgegen. Nach dieser Bestimmung dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder bei besonders schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit ausgewiesen werden. Zwar kann sich der Kläger, der seit 1978 seinen ordnungsgemäßen Aufenthalt in Deutschland hat, auf diese Schutzbestimmung berufen, jedoch liegen besonders schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung vor, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bejaht werden können (vgl. BVerwG, 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O., zur Vorgängervorschrift des § 48 Abs. 1 AuslG).