VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 29.04.2008 - 5 K 970/06 - asyl.net: M13441
https://www.asyl.net/rsdb/M13441
Leitsatz:

1. Zur Frage, ob eine Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung bei der Passbeschaffung an dem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 zu messen ist, wenn die entsprechende Passverfügung unter der Geltung einer Vorgängervorschrift (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2004 bzw. § 46 Nr. 1 AuslG 2002) erlassen worden ist.

2. Anders als § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2004 ist § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 nicht einschränkend dahin auszulegen, dass der dort geregelte Ausweisungstatbestand Fälle unterlassener Mitwirkung nur insoweit erfasst, als die Mitwirkungspflicht durch falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den zuständigen Stellen verletzt wird.

3. Es kann dem Hinweiserfordernis in § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 genügen, wenn der Hinweis auf mögliche Rechtsfolgen einer unterlassenen Mitwirkung erst nach Erlass der Passverfügung und erst im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung erteilt wird.

4. Sofern eine Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung noch nach § 55 AufenthG 2004 oder § 46 AuslG zu beurteilen ist, gilt das dort geregelte Hinweiserfordernis nur bei falschen oder unvollständigen Angaben; in diesen Fällen richtet sich die Ausweisung nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG 2004 bzw. § 46 Nr. 2 AuslG (wie VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.09.2007 - 11 S 442/07 -).

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Auslandsvertretung, Antragstellung, Hinweispflicht
Normen: AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

1. Zur Frage, ob eine Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung bei der Passbeschaffung an dem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 zu messen ist, wenn die entsprechende Passverfügung unter der Geltung einer Vorgängervorschrift (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2004 bzw. § 46 Nr. 1 AuslG 2002) erlassen worden ist.

2. Anders als § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2004 ist § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 nicht einschränkend dahin auszulegen, dass der dort geregelte Ausweisungstatbestand Fälle unterlassener Mitwirkung nur insoweit erfasst, als die Mitwirkungspflicht durch falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den zuständigen Stellen verletzt wird.

3. Es kann dem Hinweiserfordernis in § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 genügen, wenn der Hinweis auf mögliche Rechtsfolgen einer unterlassenen Mitwirkung erst nach Erlass der Passverfügung und erst im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung erteilt wird.

4. Sofern eine Ausweisung wegen unterlassener Mitwirkung noch nach § 55 AufenthG 2004 oder § 46 AuslG zu beurteilen ist, gilt das dort geregelte Hinweiserfordernis nur bei falschen oder unvollständigen Angaben; in diesen Fällen richtet sich die Ausweisung nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG 2004 bzw. § 46 Nr. 2 AuslG (wie VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.09.2007 - 11 S 442/07 -).

(Amtliche Leitsätze)

 

Gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 kann ein Ausländer nach Absatz 1 (insbesondere) ausgewiesen werden, wenn er a) falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder b) trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörde mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde. Da die Ausweisung darauf gestützt ist, dass der Kläger keinen iranischen Pass bzw. Passersatzes beantragt hat, kommt vorrangig § 55 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG 2007 als Rechtsgrundlage in Betracht. Dessen Voraussetzungen liegen vor.

Bei der Beschaffung eines Passes oder Passersatzes für einen vollziehbar ausreisepflichtigen Asylbewerber handelt es sich um eine Maßnahme der zur Durchführung "dieses Gesetzes" zuständigen Behörde im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG 2007. Dem steht nicht entgegen, dass die Verfügung vom 04.03.2004 auf § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG gestützt ist, der nach Abschluss des Asylverfahrens "nachwirkt" (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.12.2000 - 11 S 1592/00 - VBlBW 2001, 329, sowie § 15 Abs. 5 AsylVfG; VG Greifswald, Beschl. v. 12.1.2001 - 2 B 1811/00 - juris).

Den Kläger trifft die Rechtspflicht, an der Beschaffung eines iranischen Passes bzw. Passersatzes in der Weise mitzuwirken, dass er beim Generalkonsulat der Islamischen Republik Iran in Frankfurt/Main vorspricht und ein solches Reisedokument beantragt. Dies steht aufgrund der bestandskräftigen Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 04.03.2004 (im Folgenden: Passverfügung) und des hierzu ergangenen rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 07.05.2004 (A 6 K 10673/04) fest.

Der Kläger hat der bezeichneten Rechtspflicht zur Mitwirkung bis heute nicht entsprochen. Der Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG 2007 erfasst einen Verstoß gegen diese Rechtspflicht. Eine einschränkende Auslegung der Vorschrift dahin, dass sie nur bei falschen oder unvollständigen Angaben bei Befragungen, etwa gemäß § 49 Abs. 2 AufenthG, gilt, welche im Rahmen der erforderlichen Mitwirkung eines Ausländers erfolgen können, ist nicht geboten.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 3 AufenthG 2004 (und damit auch § 46 Nr. 1 AuslG 2002) einschränkend ausgelegt hat (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.09.2007 - 11 S 442/07 - juris), ist dem durch die Neufassung der Vorschrift durch das Richtlinienumsetzungsgesetz die Grundlage entzogen worden (so auch Armbruster, HTK-AuslR, zu § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Insbesondere weist die Fassung des Hinweiserfordernisses nunmehr nicht mehr darauf hin, dass nur Falschangaben oder unvollständige Angaben im Rahmen einer geforderten Mitwirkung vom Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG 2007 umfasst sein sollen. Vielmehr hat der Gesetzgeber das Hinweiserfordernis allgemein auf "Handlungen" nach den Ausweisungstatbeständen in Nr. 1a und b der Vorschrift erstreckt. Zwar wird gegen Mitwirkungspflichten im Sinne der Nr. 1b in der Regel nicht durch Handlungen, sondern durch ein Unterlassen verstoßen. Hätte der Gesetzgeber jedoch das Hinweiserfordernis auf "Handlungen" im engeren Sinn beschränken wollen, hätte er aber nicht im Anschluss an die Ausweisungstatbestände Nr. 1a und b von "solchen Handlungen" sprechen dürfen. Eine über den engeren Wortsinn des Begriffs "Handlungen" hinausgehende, echte Unterlassungen erfassende Auslegung des Hinweiserfordernisses entspricht im Übrigen auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn mit dem Hinweiserfordernis soll der Ausländer davor geschützt werden, dass er durch eine unbedachte Handlung (falsche oder unvollständige Angaben) oder durch eine unbedachte Unterlassung bei einer von ihm geforderten Mitwirkung einen Ausweisungstatbestand verwirklicht (vgl., zur vergleichbaren Hinweisobliegenheit gemäß § 54 Nr. 6 AufenthG, Discher, in: GK-AuslR Stand Januar 2007, § 54 AufenthG Rdnr. 761 ff.). Ein für die Ausweisung hinreichendes Gewicht sollen falsche oder unvollständige Angaben oder eine unterbliebene Mitwirkung somit nur haben, wenn dem Ausländer die Bedeutung eines Verstoßes gegen die jeweilige Rechtspflicht bewusst gemacht worden ist. Ein entsprechender Hinweis erscheint bei einer Unterlassung der Mitwirkung etwa bei der Beschaffung von Reisedokumenten umso mehr gefordert, als eine Unterlassung der Mitwirkung allenfalls eine Ordnungswidrigkeit, nicht aber - wie falsche oder unvollständige Angaben im Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung - eine Straftat sein kann (vgl. § 98 Abs. 2 Nr. 3 und § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).

Ein anderes Verständnis legt die Begründung zum Gesetzentwurf nicht nahe. Sie sagt nur, dass die Vorschrift zur Beseitigung von Widersprüchen klarer gefasst worden sei (BT-Drucks. 16/5065 zu Art. 1 Nr. 43 zu Buchstabe a, S. 79). Damit könnte sogar gerade als "Widerspruch" angesprochen sein, dass in der Literatur wohl überwiegend die Auffassung vertreten worden ist, § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2004 erstrecke das Hinweiserfordernis nicht auf den Ausweisungstatbestand wegen unterlassener Mitwirkung (vgl. u.a. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2005, § 55 AufenthG Rdnr. 22, sowie die weiteren Nachweise bei VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.09.2007 - 11 S 442/07 - a.a.O.).

Die Beklagte hat dem Hinweiserfordernis des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 a.E. genügt.

Zwar ist unklar, auf welche Rechtsfolgen im Einzelnen hingewiesen werden muss; denkbar ist auch, dass es genügt, überhaupt auf Rechtsfolgen hinzuweisen, weil schon dadurch dem Betroffenen klar gemacht wird, dass ein Verstoß gegen die ihm auferlegte Rechtspflicht nicht nur geringfügig wäre. Dabei haben falsche und unvollständige Angaben in bestimmten Verfahren oder eine unterlassene Mitwirkung vielfältige Rechtsfolgen. Falsche oder unvollständige Angaben sind in bestimmten Fällen strafbar (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG), das Zuwiderhandeln einer vollziehbaren Anordnung gemäß § 46 Abs. 1 AufenthG ist eine Ordnungswidrigkeit (§ 98 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG), Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz können eingeschränkt werden (§ 1a Nr. 2 AsylbLG). In die Duldung können Beschränkungen aufgenommen werden (§ 61 AufenthG). Für ein nicht formalisierendes Verständnis der Hinweispflicht spricht, dass die Begründung zu § 46 Nr. 1 AuslG 2002 auf die Hinweispflicht nur im Zusammenhang mit der Täuschung einer Auslandsvertretung eines anderen Schengen-Anwenderstaates im Sichtvermerksverfahren eingeht (BT-Drucks. 14/7386 (neu) zu Art. 11 Nr. 7 des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 08.11.2001, S. 56), bei einem entsprechenden Hinweis einer solchen ausländischen Stelle aber kaum auf sämtliche in Betracht kommenden Sanktionen in den Schengen-Anwenderstaaten eingegangen werden kann. Andererseits spricht viel dafür, dass der Hinweis in jedem Fall die Möglichkeit einer Ausweisung umfassen soll (vgl., zur entsprechenden Hinweisobliegenheit gemäß § 54 Nr. 6 AufenthG, Discher, in: GK-AuslR Stand Januar 2007, § 54 AufenthG Rdnr. 761 ff., 766).

Offenbleiben können auch diese Rechtsfragen, weil das Regierungspräsidium den Kläger umfassend auf mögliche Rechtsfolgen hingewiesen hat, falls er die Passverfügung missachtet. Die dem Kläger insoweit vor Erlass der Passverfügung und in dieser selbst erteilten Hinweise nennen zwar nicht die Möglichkeit, dass er wegen unterlassener Mitwirkung ausgewiesen werden könnte. Das Regierungspräsidium hat dies dem Kläger aber in der Anhörung zur Ausweisung mit Schreiben vom 23.01.2006 deutlich gemacht.

Dies reicht nach Überzeugung der Kammer aus. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG 2007 muss der Ausländer "zuvor" auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen worden sein. Für die Tatbestandsalternative falscher oder unvollständiger Angaben (Nr. 1a) wird damit an den Zeitpunkt der Befragung angeknüpft (so ausdrücklich noch § 52 Nr. 1 AufenthG 2004 am Ende). Für die hier einschlägige Tatbestandsalternative der unterlassenen Mitwirkung ist es aber ausreichend, wenn im Laufe eines fortdauernden Verstoßes gegen eine durch Verfügung aufgegebenen Rechtspflicht auf die möglichen Rechtsfolgen hingewiesen wird. Ein solcher Hinweis muss nicht bereits in dieser Verfügung enthalten sein. Es muss dem Betroffenen nur hinreichend Gelegenheit bleiben, nach Erhalt des Hinweises durch seine Mitwirkung eine Ausweisung abzuwenden. Dies war hier der Fall.

Das somit eröffnete Ausweisungsermessen hat das Regierungspräsidium ohne Rechtsfehler ausgeübt (§ 40 LVwVfG, § 114 Satz 1 VwGO).