VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 05.05.2008 - A 5 K 631/06 - asyl.net: M13447
https://www.asyl.net/rsdb/M13447
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei wegen Lebererkrankung bei notwendiger Transplantation; türkische Krankenhäusern verlangen von Inhabern einer "Grünen Karte" erhebliche Eigenbeteiligungen oder "Spenden"; Diskriminierung bei Vergabe einer "Grünen Karte".

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Lebererkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Yesil Kart, Grüne Karte, Kurden, Diskriminierung, Klagefrist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Verschulden, Krankenhausaufenthalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 74 Abs. 1; VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei wegen Lebererkrankung bei notwendiger Transplantation; türkische Krankenhäusern verlangen von Inhabern einer "Grünen Karte" erhebliche Eigenbeteiligungen oder "Spenden"; Diskriminierung bei Vergabe einer "Grünen Karte".

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die Klage ist zulässig. Der Kläger hat zwar mit der Erhebung der Klage am 04.09.2006 die zweiwöchige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 AsylVfG nicht gewahrt, die durch die Zustellung des Bescheides am 08.08.2006 in Lauf gesetzt worden war. Der Kläger hat aber Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der versäumten Klagefrist. Der Kläger hat substantiiert glaubhaft gemacht, während des Laufes der Klagefrist in stationärer Behandlung in der Helios Klinik in ... (vom 17.08. bis 31.08.2006) gewesen zu sein; zudem war er kurz vor der Zustellung des Bescheides in die Gemeinschaftsunterkunft ... in die Gemeinschaftsunterkunft ... verlegt worden. Daher war der Kläger während des Laufes der Klagefrist ohne Verschulden gehindert, die Klage zu erheben. Es kann nicht erwartet werden, dass der Kläger die Klage während seines stationären Krankenhausaufenthaltes erhebt. Nach seiner Entlassung hat der Kläger sodann binnen fünf Tagen die Klageerhebung nachholen lassen.

2. Die Klage hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

Dem Kläger droht bei einer Abschiebung in die Türkei eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG aufgrund seiner schweren - transplantationsbedürftigen - Lebererkrankung.

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes ist davon auszugehen, dass in der Türkei Inhabern der "Yesil Kart" (Grüne Karte) grundsätzlich das staatliche Gesundheitssystem kostenlos in Anspruch nehmen können und dass bis zur Ausstellung dieser Karte die sofortige Behandlung akut erkrankter Personen sichergestellt ist. Des Weiteren kann ein türkischer Staatsangehöriger, der in die Türkei zurück kehrt, - bis zur Ausstellung einer "Yesil Kart" - einen Antrag an die Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität stellen, damit er die erforderlichen Behandlungen und Kontrolluntersuchungen vornehmen lassen kann. Jedoch liegt die Gewährung dieser Hilfe im Ermessen des jeweiligen örtlichen Regierungsvertreters und es gibt insoweit viele Bespiele für willkürliche Praktiken aus politischen Gründen und für Kompetenzmissbrauch (vgl. VG Ansbach, Urt. v. 03.03.2005 - AN 16 K 03.30746 -).

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte besteht nach Auffassung der Kammer eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger in der Türkei die notwendige Behandlung nicht erhalten wird.

Zwischen den Beteiligten ist vor dem Hintergrund der ärztlichen Stellungnahmen der Universitätsklinken Freiburg und Heidelberg (insbesondere letzterer v. 08.02.2007) nicht streitig, dass der Kläger in Bälde einer Lebertransplantation bedarf, weshalb er von dem Universitätsklinikum Heidelberg auf die "Warteliste" gesetzt wurde.

In dem von der Kammer eingeholten Gutachten von Herrn Serafettin Kaya wird in ausführlicher, schlüssiger und überzeugender Form dargelegt, dass der Kläger zwar grundsätzlich, wenn er Inhaber einer Yesil Kart wäre, auch für eine Lebertransplantation das staatliche türkische Gesundheitssystem in Anspruch nehmen könnte.

Herr Kaya weist aber sodann darauf hin, dass durch eine im Jahr 2007 geänderte Behandlungsverordnung für die Behandlungseinrichtungen Fallpauschalen eingeführt worden sein, so dass die Kostenerstattung unabhängig von den tatsächlichen Kosten im Einzelfall - pauschal - erfolge. Dies habe wiederum zur Folge gehabt, dass die Krankenhäuser von den Patienten einen Eigenbeitrag forderten. Für eine Lebertransplantation werde nach der geltenden Verordnung eine Pauschale für den (gesamten) Fall von umgerechnet 22.335 Euro (38.000 YTL) gezahlt, die sich auf sämtliche Leistungen von der Diagnose über die Behandlung und die Operation bis zur Pflege erstrecke. Die tatsächlichen Kosten seien indes viel höher; insbesondere bei Komplikationen lägen sie über 100.000 YTL; dafür müssten der Patient und seine Familie aufkommen. Da die Krankenhäuser bestimmter Universitäten gesetzlich kein Recht auf Erhebung eines Eigenanteiles hätten, werde dort der Patientenanteil in Form einer Spende an von diesen Universitäten gegründete Stiftungen oder Tochterinstitute erhoben. Grundsätzlich würden an diesen Universitäten von den Ärzten keine Lebertransplantationen vorgenommen, bevor nicht eine Spende von 20.000 YTL erfolgt sei. Bei der Berechnung des Eigenanteils weder der Schweregrad der Erkrankung und die finanzielle Situation des Patienten berücksichtigt. In einigen wenigen Notfällen werde auf die vorherige Spende verzichtet. Bei Privatkliniken liege der Eigenanteil bei 160.000 YTL.

Weiter legt der Gutachter dar, dass die Kosten für die Nachbehandlung sich auf monatlich 7.000 bis 8.000 YTL beliefen. Brauche ein Patient ein höhere Medikamentendosierung als in der Behandlungsverordnung vorgesehen, sei ein Eigenanteil von bis zu 2.000 YTL zu zahlen. Für andere Kosten als die Medikation, wie etwa für die Pflege, kämen die Sozialversicherungsträger nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht auf. Auch insoweit könnten Kosten von über 2.000 YTL im Monat anfallen. Bei den sechs für Lebertransplantationen in Frage kommenden Einrichtungen gebe es lange Wartelisten, über die der Koordinationsausschuss des Gesundheitsministeriums entscheide. Die Wartefrist entfalle nur bei Organspenden lebender Spender. Um auf die Warteliste zu kommen, müsse sich ein Patient auf eigene Kosten untersuchen lassen. Solange nicht ein Arzt die Situation des Patienten als Notfall im Sinne von Art. 1 der Behandlungsverordnung bestätige, könne er ohne Yesil Kart oder ohne Bezahlung der Kosten nicht behandelt werden und keine Lebertransplantation erhalten. Ein zurückkehrender kurdischer Asylbewerber habe grundsätzlich Anspruch auf die Yesil Kart, wenn er die Bedürftigkeitskriterien erfülle. Es könnten aber Auskünfte bei verschiedenen Sicherheitsorganen eingeholt werden. Es gebe viele Beispiele dafür, dass bei der Vergabe der Yesil Kart Rechte verletzt worden seien. Es würden auch aus anderen Gründen willkürlich Yesil Karten erteilt oder entzogen. Wegen des umfangreichen Verfahrens bei der Antragstellung müsse mit fünf bis sechs Monaten Wartezeit bis zur Erteilung der Yesil Kart gerechnet werden.

Nach diesen sachkundigen Ausführungen des Gutachters, denen die Beklagte innerhalb der von der Kammer gesetzten Frist von sieben Wochen in der Sache nicht substantiiert entgegen getreten ist, muss eine erhebliche konkrete Gesundheits- (und gar Lebens-)gefährdung des Klägers im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchtet werden. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger angesichts von gelegentlich vorkommender Willkür und langer Verfahrensdauer (rechtzeitig) eine Yesil Kart erhält, bleibt der Umstand, dass der Kläger grundsätzlich für die erforderliche Behandlung und auch die späteren Nachbehandlungen zu Eigenleistungen in einer Höhe herangezogen würde, die er nach gegenwärtigen Kenntnisstand nicht zu leisten in der Lage wäre. Da aber nach der verbreiteten Praxis in der Türkei ohne diese Eigenleistung keine Behandlung - und nicht einmal die Aufnahme auf die Warteliste - erfolgte, wäre der Kläger im Ergebnis von einer wirksamen Behandlung seines Leberleidens ausgeschlossen.

Zu einer gegenteiligen Bewertung sieht sich die Kammer auch nicht dadurch veranlasst, dass das Gutachten in differenzierter Weise darlegt, dass bei anerkannten Notfällen im Sinne von Artikel 1 der Behandlungsverordnung sowohl auf den Eigenanteil als auch auf die Aufnahme in die Warteliste verzichtet werde. Nach Überzeugung der Kammer ist es mit den grundrechtlichen Schutzgütern in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG nicht vereinbar, den Kläger darauf zu verweisen, erst zum akuten Notfall zu werden, um dann ohne Kosten eine Transplantation erhalten zu können. Abgesehen von der Zynik einer solchen Argumentation erschiene darüber hinaus fraglich, ob dem Kläger dann überhaupt noch geholfen werden könnte. Dies würde z.B. voraussetzen, dass in dem akuten Notfall ein geeignetes Spenderorgan zur Verfügung stünde; wäre dies nicht der Fall, hätte der Patient dafür mit seinem Leben zu bezahlen. Deshalb kann nach Überzeugung der Kammer nur ein ordnungsgemäßes Behandlungsverfahren (wie bei einem "normalen" Transplantationspatienten) als Maßstab für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer erheblichen konkreten Gesundheitsgefahr herangezogen werden. Legt man dieses indes zu Grunde, dann besteht für den Kläger aus den geschilderten finanziellen Gründen eine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.