OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.11.2007 - 2 L 223/06 - asyl.net: M13460
https://www.asyl.net/rsdb/M13460
Leitsatz:

Ob und wann in den Fällen, in denen der Widerruf einer Wohnsitzauflage beantragt wird, eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalles ab. Berücksichtigungsfähig ist insbesondere, ob die Wohnsitzauflage aufgrund des mittlerweile erfolgten Zeitablaufs und/oder zwischenzeitlich veränderter Umstände keinen sinnvollen Bezug zu einem zulässigen Verfahrenszweck, insbesondere dem der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung, mehr aufweist, inzwischen in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausartet, nunmehr auf eine unzulässige Beugung des Willens hinausläuft oder den Betreffenden unverhältnismäßig trifft (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19.11.2003 – 10 B 11432/03 – InfAuslR 2004, 255).

 

Schlagwörter: D (A), Duldung, Wohnsitzauflage, Ausreiseeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Identität ungeklärt, Rücknahme, Beurteilungszeitpunkt, Dauerverwaltungsakt, Widerruf, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Verhältnismäßigkeit, Verwaltungspraxis, Erlasslage
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; AuslG § 56 Abs. 3; VwVfG § 49 Abs. 1; AufenthG § 61 Abs. 1
Auszüge:

Ob und wann in den Fällen, in denen der Widerruf einer Wohnsitzauflage beantragt wird, eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalles ab. Berücksichtigungsfähig ist insbesondere, ob die Wohnsitzauflage aufgrund des mittlerweile erfolgten Zeitablaufs und/oder zwischenzeitlich veränderter Umstände keinen sinnvollen Bezug zu einem zulässigen Verfahrenszweck, insbesondere dem der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung, mehr aufweist, inzwischen in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausartet, nunmehr auf eine unzulässige Beugung des Willens hinausläuft oder den Betreffenden unverhältnismäßig trifft (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19.11.2003 – 10 B 11432/03 – InfAuslR 2004, 255).

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das angefochtene Urteil ist zu ändern. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch darauf zu, dass der Beklagte die ihm gegenüber mit Bescheid vom 25.03.2002 verhängte Wohnsitzauflage aufhebt.

Er kann zwar keine Rücknahme im Sinne des § 48 VwVfG LSA verlangen, weil es an der hierfür erforderlichen Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides fehlt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist derjenige des Erlasses, d.h. der Verstoß gegen geltendes Recht muss bereits im Erlasszeitpunkt vorgelegen haben (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 RdNr. 57 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Das gilt auch bei sog. Dauer-Verwaltungsakten, also solchen Verwaltungsakten, die – wie die streitgegenständliche Wohnsitzauflage – nicht auf eine einmalige Handlung, etwa eine Geldzahlung, beschränkt sind, sondern deren Regelungsgehalt sich auf einen längeren Zeitraum – hier das Wohnen in der Gemeinschaftsunterkunft A-Stadt – erstreckt (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 RdNr. 57 mit Hinweisen auch auf insoweit abweichende Rechtsprechung [z.B. VGH BW, VBlBW 2002, 208]). In Anlegung dieses Maßstabes fehlt es an der gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG-LSA erforderlichen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 25.03.2002. Dieser findet seine Rechtsgrundlage in § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG. Danach konnte die Ausländerbehörde in den Fällen einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG – wie hier – weitere Auflagen anordnen, zu denen auch die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft zählte (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19.11.2003 – 10 B 11432/03 – InfAuslR 2004, 255). Eine solche Wohnsitzauflage wurde auf der Grundlage des § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG jedenfalls dann für zulässig erachtet, wenn sie einen sinnvollen Bezug zu einem zulässigen Verfahrenszweck, insbesondere dem der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung, aufwies und nicht in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausartete, auf eine unzulässige Beugung des Willens hinauslief oder den Betreffenden im Einzelfall unverhältnismäßig traf (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19.11.2003 – 10 B 11432/03 – InfAuslR 2004, 255). Diese Voraussetzungen lagen zum Zeitpunkt des Erlasses der Wohnsitzauflage am 25.03.2002 vor. Zu diesem Zeitpunkt wies die Wohnsitzauflage (noch) einen sinnvollen Bezug zu dem angegebenen Ziel der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung auf und hatte weder einen Straf- noch Beugungscharakter. Das Erfordernis der Wohnsitzauflage ergab sich daraus, dass die vom Kläger selbst verschleierte Identität aufzuklären und ein Passersatz zu beschaffen war. Zum genannten Zeitraum fanden auch (noch) entsprechende Maßnahmen, insbesondere Botschaftsvorführungen, statt.

Dem Kläger steht aber ein Anspruch darauf zu, dass der Beklagte die ihm gegenüber verhängte Wohnsitzauflage im Wege eines Widerrufs gemäß § 49 VwVfG LSA aufhebt. Bei der streitgegenständlichen Wohnsitzauflage handelt es sich um einen den Kläger nicht begünstigenden Verwaltungsakt. Auch müsste im Falle seines Widerrufs weder ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden noch ist sonst ein Grund für die Unzulässigkeit des Widerrufs ersichtlich. Dem Widerrufsanspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass es sich bei § 49 VwVfG-LSA um eine Ermessensvorschrift handelt; denn das dem Beklagten eingeräumte Widerrufsermessen ist inzwischen – d.h. zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 29.11.2007 – auf Null reduziert. Ob und wann in den Fällen, in denen der Widerruf einer Wohnsitzauflage beantragt wird, eine solche Ermessensreduzierung anzunehmen ist, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalles ab. Berücksichtigungsfähig ist insbesondere, ob die oben genannten Zulässigkeitsmerkmale inzwischen nicht mehr vorliegen, die Wohnsitzauflage also aufgrund des mittlerweile erfolgten Zeitablaufs und/oder zwischenzeitlich veränderter Umstände keinen sinnvollen Bezug zu einem zulässigen Verfahrenszweck, insbesondere dem der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung, mehr aufweist, inzwischen in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausartet, nunmehr auf eine unzulässige Beugung des Willens hinausläuft oder den Betreffenden unverhältnismäßig trifft (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19.11.2003 – 10 B 11432/03 – InfAuslR 2004, 255). Berücksichtigt werden sollte hierbei auch, für welche Zeitspanne der Ausländer den Beschränkungen bereits ausgesetzt ist und welche psychischen und körperlichen Auswirkungen diese für ihn und seine Angehörigen haben könnten; je länger die Beschränkungen dauern, ohne dass sich eine Beendigung des Abschiebungshindernisses abzeichnet, umso eher wird sich ihre weitere Aufrechterhaltung als unangemessen erweisen (vgl. BVerwG, B. v. 28.12.1990 – Buchholz 402.24 § 17 AuslG, 65 Nr. 8; VG Braunschweig, Urt. v. 15.01.2004 – 3 A 241/03 – JURIS).

In Anwendung dieser Grundsätze teilt der Senat die Auffassung des Klägers, wonach das Widerrufsermessen des Beklagten inzwischen auf Null reduziert ist. Die Aufrechterhaltung der Wohnsitzauflage erscheint nicht mehr angemessen. Seit dem Erlass des Einweisungsbescheides vom 25.03.2002 ist ein Zeitraum von mehr als fünf Jahren vergangen. Inzwischen spricht Überwiegendes dafür, dass die Wohnsitzauflage nicht mehr geeignet ist, den vom Beklagten mit ihr in erster Linie verfolgten Zweck – nämlich die Identitätsfeststellung des Klägers und eine Passersatzbeschaffung für ihn – in nennenswerter Weise zu fördern. Die Identitätsfrage sieht der Beklagte seit geraumer Zeit selbst als geklärt an. Die Ausstellung eines Passersatzes ist indessen trotz der Aufrechterhaltung der Wohnsitzauflage bis heute nicht erfolgt. In dem genannten Schreiben bat der Beklagte die ghanaische Botschaft nachdrücklich um Ausstellung eines Rückreisedokumentes, weil die Identität des Klägers nunmehr eindeutig geklärt sei. Ob und welche Reaktion hierauf erfolgte und welche weiteren Schritte der Beklagte daraufhin unternahm, lässt sich den von ihm vorgelegten Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen. Auch in der mündlichen Verhandlung am 29.11.2007 konnte der Beklagte hierüber keine näheren Angaben machen. Angesichts dessen geht der Senat davon aus, dass eine Förderung des hauptsächlichen Unterbringungszwecks nicht nur seit Anfang 2004 und damit seit mehr als drei Jahren unterblieben, sondern auch in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten ist. Bei dieser Sachlage erscheint die Unterbringung in der GU-ZASt indessen nicht mehr angemessen. Das gilt umso mehr, als eine Unterbringung von Ausländern in dieser Unterkunft über einen Zeitraum von – wie im Falle des Klägers – mehr als fünf Jahren auch nicht der üblichen Verwaltungspraxis des Beklagten entsprechen dürfte. Nach Nr. 2.6 Satz 2 des Erlasses des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 16.02.2005 (Az.: 42.32-12231-64) hat das Landesverwaltungsamt nach einem Jahr seit dem Zeitpunkt der Unterbringung in der Ausreiseeinrichtung in jedem Fall zu prüfen, ob die sonstigen in diesem Erlass aufgeführten Voraussetzungen noch vorliegen und – sollte dies nicht mehr der Fall sein – die zuständige Ausländerbehörde aufzufordern, die Wohnsitzverpflichtung in der Ausreiseverpflichtung unverzüglich zu beenden und die Rücknahme (anderweitige Unterbringung) zu veranlassen. Mögen auch diese Voraussetzungen im Falle des Klägers nicht vorliegen, deutet diese Bestimmung zumindest darauf hin, dass die GU-ZAST gerade nicht für einen Aufenthalt über Jahre hinweg bestimmt ist.

Der mithin anzunehmenden Ermessensreduzierung steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass die erfolglosen Bemühungen des Beklagten um die Beschaffung von Rückreisedokumenten nicht zuletzt auf dem eigenen Verhalten des Klägers, insbesondere seiner Identitätsverschleierung, zurückzuführen ist, und er die Wohnsitzauflage zwischenzeitlich eigenmächtig nicht mehr befolgt. Derartiges Fehlverhalten des Ausländers mag zwar sowohl bei der Entscheidung über die Verhängung als auch die Aufhebung einer Wohnsitzauflage im Rahmen der Ermessensausübung Berücksichtigung finden. Andererseits schließt es nicht eine Ermessensreduzierung aus, deren Gründe aus der Sphäre der Ausländerbehörde stammen und die – wie hier – mit Blick auf den eigentlichen Zweck der Wohnsitzauflage auch in Ansehung eines etwaigen Fehlverhaltens des Ausländers geboten erscheint.