LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.03.2008 - L 20 AY 16/07 - asyl.net: M13472
https://www.asyl.net/rsdb/M13472
Leitsatz:

Passbeschaffungskosten gehören zu den nach § 6 AsylbLG zu gewährenden Leistungen zur Erfüllung verwaltungsrechtlicher Mitwirkungspflichten.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Passbeschaffung, Erstattung, Mitwirkungspflichten, Passpflicht, Ausweispflicht, Darlehen, Altfallregelung, Bleiberechtsregelung 2006
Normen: AsylbLG § 6 S. 1; AufenthG § 3 Abs. 1; AufenthG § 48 Abs. 1; AufenthG § 48 Abs. 2; AufenthG § 48 Abs. 3; AsylVfG § 15; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 104a
Auszüge:

Passbeschaffungskosten gehören zu den nach § 6 AsylbLG zu gewährenden Leistungen zur Erfüllung verwaltungsrechtlicher Mitwirkungspflichten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung ist aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte auf die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage der Kläger zu Recht verurteilt, den Klägern Passbeschaffungskosten in Höhe von 811,70 EUR zu erstatten.

Der Anspruch ergibt sich für die Kläger bei Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG aus § 6 AsylbLG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhaltes oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. § 6 Satz 1 AsylbLG stellt mit Blick auf die pauschalierten und abgesenkten Leistungen der §§ 3, 4 AsylbLG eine Auffang- und Öffnungsklausel dar (vgl. etwa Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 6 AsylbLG Rn. 1; Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Auflage 2006, § 6 AsylbLG Rn. 1). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll sie dem Umstand Rechnung tragen, dass den zuständigen Behörden "sonst kaum Spielraum bleibt, besonderem Bedarf im Einzelfall gerecht zu werden" (BT-Drucks. 13/2746).

Eine restriktive Handhabung der Vorschrift erscheint wegen der gesetzgeberischen Grundentscheidung, in § 3 AsylbLG und § 2 AsylbLG innerhalb der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG unterschiedliche Leistungssysteme vorzugeben, zwar einerseits insofern geboten, als eine Annäherung an die unmittelbar nach oder entsprechend dem SGB XII (§ 2 AsylbLG) zu erbringenden Leistungen nicht in Betracht kommt (vgl. Wahrendorf, a.a.O., Rn. 1; Hohm, a.a.O., Rn. 1). Andererseits ist bei der Auslegung zu beachten, dass § 6 AsylbLG im Leistungssystem des AsylbLG die wichtige Funktion zukommt, trotz der restriktiven Grundausrichtung des AsylbLG in jedem Einzelfall das Existenzminimum zu sichern (vgl. Fasselt in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Auflage 2005, § 6 AsylbLG Rn.1; Herbst in Mergler/Zink, SGB XII, 4. Lfg., Stand Juli 2005, § 6 AsylbLG Rn. 1).

Die von den Klägern geltend gemachten Passbeschaffungskosten sind in voller Höhe zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht im Sinne des § 6 Satz 1 4. Alt. AsylbLG erforderlich (vgl. auch VG Dresden, a.a.O., InfAuslR 2005, 430-431). Der nicht legal definierte unbestimmte Rechtsbegriff "verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht" bedarf insoweit unter Heranziehung allgemeiner Auslegungsgrundsätze der näheren Bestimmung. Dass nicht lediglich Mitwirkungspflichten nach dem AsylbLG erfasst werden, legt bereits die Beistellung des Attributs "verwaltungsrechtlich" nahe; es sind dem Wortlaut nach alle dem Verwaltungsrecht zurechenbaren Mitwirkungspflichten zu berücksichtigen (vgl. GKAsylbLG, Stand 3. April 1999, § 6 AsylbLG Rn. 218). Insbesondere erfasst sind Mitwirkungspflichten, die sich aus dem AsylbLG, AsylVfG, AufenthG und aus den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder ergeben (vgl. Hohm, a.a.O., Rn. 23, der darüber hinaus einen sachlichen Kontext zur Leistungsgewährung nach dem AsylbLG und einen unmittelbaren Zusammenhang zur Existenzsicherung fordert; s. dazu unten).

Die in § 3 Abs. 1 AufenthG geregelte Passpflicht begründet eine verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht im Sinne des § 6 Satz 1 4. Alt. AsylbLG. Ausländer dürfen gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind. Für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllen sie die Passpflicht nach Satz 2 der Vorschrift aber bereits durch den Besitz eines Ausweisersatzes im Sinne von § 48 Abs. 2 AufenthG. Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bestraft, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 im Bundesgebiet aufhält.

§ 48 AufenthG begründet darüber hinaus ausweisrechtliche Pflichten. Gemäß Abs. 3 der Vorschrift wiederum ist der Ausländer verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken sowie alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen, wenn er nicht im Besitz eines Passes oder Passersatzes ist.

Gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 vorliegen. Nach Satz 2 wird die Aufenthaltserlaubnis u.a. nicht erteilt, wenn der Ausländer wiederholt oder gröblich gegen entsprechende Mitwirkungspflichten verstößt. Dabei genügt allerdings nicht der Verstoß gegen irgendwelche Mitwirkungspflichten, sondern nur die Verletzung "entsprechender" Pflichten. Es muss sich also um Pflichtverletzungen handeln, die zur Unmöglichkeit der Ausreise beigetragen haben. In Betracht kommen dabei insbesondere Pflichten im Zusammenhang mit der Feststellung der Identität und der Beschaffung gültiger Heimreisedokumente (z.B. nach §§ 48, 49, 82 IV AufenthG; §§ 15, 16 AsylVfG). Die Pflichtverstöße müssen entweder wiederholt oder in grober Weise begangen sein. Unzureichend ist also eine einmalige Missachtung einfacher Mitwirkungspflichten (vgl. zu alledem Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 25 Rn. 26).

Weitere - inhaltlich durch § 3 AufenthG und § 48 AufenthG bereits erfasste Pflichten - Mitwirkungspflichten ergeben sich aus § 15 AsylVfG. Danach ist der Ausländer insbesondere verpflichtet, (Nr. 4) seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen und (Nr. 6) im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken.

Die Zusammenschau dieser Regelungen macht deutlich, dass zwar ggf. die Passpflicht aus § 3 Abs. 1 AufenthG, zumindest aber nicht die Ausweispflicht aus § 48 Abs. 1 AufenthG und die weiteren Mitwirkungspflichten aus Abs. 3 dieser Norm, durch Vorlage eines ggf. vorhandenen Ausweisersatzes nach § 48 Abs. 2 AufenthG erfüllt werden können. Denn nach dieser Vorschrift ist lediglich zu verfahren, wenn der Ausländer den Pass nicht in zumutbarer Weise erlangen kann. Der Mangel an finanziellen Ressourcen lässt die Zumutbarkeit im Sinne dieser Vorschrift nicht entfallen. Da die Kläger sich nicht mehr im laufenden Asylverfahren befinden, steht der Zumutbarkeit auch nicht entgegen, dass die Anerkennung als Asylberechtigter (vgl. Renner, a.a.O., § 48 Rn. 7) gefährdet sein könnte.

Die ausländerrechtlichen Pass- und Ausweispflichten stellen eine verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht im Sinne des § 6 Satz 1 AsylbLG dar (vgl. auch VG München, Urteil vom 03.04.2001, M 6b K 99.1464). Hinsichtlich der aufgezeigten Mitwirkungspflichten besteht auch, so man diese dem Wortlaut der Vorschrift des § 6 Satz 1 4. Alt. AsylbLG nicht zu entnehmende Einschränkung für gerechtfertigt hält (vgl. GK-AsylbLG, a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 222; Hohm, a.a.O., Rn. 23; Adolph, SGB II SGB XII AsylbLG, 42. AL, April 2005, § 6 AsylbLG Rn. 31; Deibel, Praktische Probleme bei der Bewilligung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ZAR 1995, 57; a.A. Fasselt, a.a.O., Rn. 6; Herbst, a.a.O., Rn. 19), ein hinreichender sachlicher Zusammenhang mit der Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG. Die der Existenzsicherung dienenden Vorschriften des AsylbLG sind in unmittelbarem Zusammenhang mit den ausländerrechtlichen Vorschriften des AufenthG und den Vorgaben des AsylVfG zu sehen. Erst die danach getroffenen Feststellungen ermöglichen - worauf das Sozialgericht zu Recht hingewiesen hat - die Feststellung der Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG. Der leistungsberechtigte Personenkreis knüpft unmittelbar an ausländer- und asylverfahrensrechtliche Vorschriften (vgl. Wahrendorf, a.a.O., § 1 AsylbLG Rn. 1) und damit den ausländer- oder asylrechtlichen Status an (vgl. Hohm, a.a.O., § 1 AsylbLG Rn. 1).

Zur Überzeugung des Senats ist ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Sicherstellung der Existenz im Falle des weiteren Aufenthalts oder der Sicherung des weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet selbst (vgl. etwa Hohm, a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 23; GK-AsylbLG, a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 222) in dem Sinne, dass ohne die Mitwirkungshandlung der weitere Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG in Frage gestellt sein muss, nicht zu verlangen (so auch Fasselt, a.a.O., § 6 Rn. 6). Weder dem Gesetzeswortlaut, der Systematik des Gesetzes noch der Gesetzesbegründung lassen sich überzeugende Argumente für diese (weitere) tatbestandliche Einschränkung entnehmen. Dagegen spricht im Übrigen, dass der Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung in die Lage versetzt sein muss, sich den Vorgaben der Rechtsordnung getreu zu verhalten. Auch unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlich restriktiven Handhabung des § 6 Satz 1 AsylbLG (s.o.) lässt es sich nicht rechtfertigen, dem Leistungsberechtigten, dem verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten auferlegt sind, die Erfüllung dieser Pflichten unmöglich zu machen, mit der Folge, dass er sich andernorts dem Vorwurf, sich nicht rechtsgetreu zu verhalten, ausgesetzt sähe. Es ist etwa auch nicht erforderlich, dass, was hier im Übrigen nahe liegt, eine bessere ausländerrechtliche Position zu erlangen ist (so aber VG München, a.a.O.).

Dem geltend gemachten Anspruch kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die Ausweis- und Passpflichten träfen alle Leistungsberechtigte, so dass ein Einzelfall im Sinne des § 6 Satz 1 AsylbLG nicht vorliege. Ein Ausschluss käme zur Überzeugung des Senats zwar ggf. in Betracht, wenn ein bei allen Leistungsberechtigten gegebener Bedarf vorläge (vgl. Hohm, a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 10). Daran fehlte es aber ersichtlich, da nicht alle Leistungsberechtigten Ausweis- und Passpflichten deswegen nicht nachkommen können, weil sie nicht über (gültige) Pass- oder Ausweispapiere verfügen. Dass sich der Bedarf im Einzelfall der Höhe nach konkretisiert, dürfte hingegen allein diesem Tatbestandsmerkmal nicht genügen, da es nur dann eigenständige Bedeutung erlangt, wenn auf den Bedarf dem Grunde nach abgestellt wird.

Es kann dahinstehen, ob hinsichtlich der in § 6 Satz 1 AsylbLG beispielhaft (vgl. etwa Hohm, a.a.O., § 6 AsylbLG Rn. 7; Fasselt, a.a.O., Rn. 1) aufgeführten Tatbestandalternativen und der verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe von Pflichtleistungen auszugehen ist (etwa Hohm, a.a.O., § 6 Rn. 8). Denn jedenfalls ist hinsichtlich des Entschließungsermessens (vgl. etwa Fasselt, a.a.O., Rn.1) in diesen Fällen eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen. Vorliegend gilt dies auch für das Auswahlermessen dergestalt, dass sämtliche im Zusammenhang mit der Erlangung von Pässen entstandenen Kosten zu erstatten sind.

Soweit die Beklagte einer Kostenübernahme entgegenhält, die Kläger hätten den Bedarf bereits gedeckt, so dass eine Übernahme der Kosten nach § 6 AsylbLG von vornherein ausscheide, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die Kläger stehen im Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG (die für das Jahr 2007 mit etwa 35 % unter den Regelsätzen nach dem SGB XII eingestuft werden, vgl. Birk, LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 3 AsylbLG Rn. 8). Die Leistungshöhe reicht ersichtlich nicht aus, die Passbeschaffungskosten unmittelbar zu befriedigen oder notwendige Beträge anzusparen. Daher haben sich die Kläger finanzieller Mittel eines Dritten bedienen müssen, der im Wege eines Darlehens einzuspringen bereit war.

Zutreffend hat selbst die Beklagte aber bereits darauf hingewiesen, dass auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung von dem Grundsatz, dass Leistungen durch den Sozialhilfeträger nicht zu erbringen sind für bereits erbrachte Aufwendungen oder die Tilgung von Schulden ausnahmsweise abgewichen wurde, wenn es dem Hilfesuchenden nicht zumutbar war, die Entscheidung des Sozialhilfeträgers abzuwarten (BVerwG, Urteil vom 30.04.1992 - 5 C 12/87 = BVerwGE 90, 154-160). Dies gilt um des Grundsatzes der Effektivität des Rechtsschutzes auch bei Einlegung von Rechtsmitteln. In Anbetracht des drohenden (erneuten) Ungültigwerdens von Staatsangehörigkeitsnachweisen und weiteren Umständen war den Klägern unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ein weiteres Abwarten nicht zumutbar.

Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass Vieles dafür spricht, den Anspruch auf Erstattung der Passersatzkosten bereits deshalb zu bejahen, weil die Kläger Passpapiere auch benötigten, um von der Bleiberechtsregelung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) (Beschluss zu TOP 6 vom 17.11.2006; hierzu Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11.12.2006 - siehe auch Altfallregelung des § 104a Aufenth) profitieren zu können. Es erschiene schlichtweg nicht hinnehmbar, wenn die Rechtsordnung den Klägern auf der einen Seite etwas zu geben bereit ist, was sie auf der anderen Seite (leistungsrechtlich) durch mangelhafte finanzielle Ausstattung der grundsätzlich Anspruchsberechtigten unmöglich machen würde. Auch insoweit liegt es nahe, eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen.