VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 29.05.2008 - M 24 K 07.51007 - asyl.net: M13474
https://www.asyl.net/rsdb/M13474
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Kämpfer (ehemalige), Mitglieder, Spitzeldienste, Geheimdienst, Jitem, DTP, Übergriffe, Glaubwürdigkeit, exilpolitische Betätigung, Medienberichterstattung, interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Der Kläger hat von 2002 bis 2004 knapp zwei Jahre lang in verschiedenen Ausbildungslagern der PKK eine militärische und politische Ausbildung absolviert und wurde deshalb von einem türkischen Gericht zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach einer Aussetzung der Strafvollstreckung durch türkische Gerichte wurde er freigelassen, von dem türkischen Geheimdienst Jitem aber immer wieder behelligt und aufgefordert, für ihn Spitzeldienste bei der DTP zu leisten.

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass Mitarbeiter des Jitem den Kläger nach seiner Haftentlassung immer wieder kontrolliert, ihm nachgestellt und letztlich versucht haben, ihn einzuschüchtern und zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst zu bewegen. Der Kläger hat hinsichtlich der Geschehnisse nach seiner Haftentlassung in seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 9. Januar 2006 und der mündlichen Verhandlung am 29. Mai 2008 jeweils übereinstimmend und glaubhaft geschildert, dass Mitarbeiter des Jitem regelmäßig bei ihm zu Hause und auch im Haus seiner Schwester in Adana nach ihm gesucht, ihn teilweise auch an entlegene Orte mitgenommen und letztendlich unter Druck und Bedrohung aufgefordert haben, für sie zu arbeiten. So hat er etwa die Frage seines Bevollmächtigten, ob Mitglieder der DTP ihn nicht als Verräter geschnitten hätten, wenn sie erfahren hätten, dass er von der türkischen Reuegesetzgebung Gebrauch gemacht hat, eingehend und plausibel unter Verweis auf die in den einzelnen Parteien existierenden Autokritik-Plattformen beantwortet.

Das Gericht sieht keinen Anlass, an den Angaben des Klägers zu seiner Verfolgung durch Mitarbeiter des Jitem nach seiner Haftentlassung zu zweifeln. Jitem ist die Bezeichnung für den Geheimdienst der türkischen Gendarmerie, dessen Existenz zwar von offiziellen türkischen Stellen häufig verneint, von türkischen Medien im Rahmen ihrer Berichterstattung oder türkischen Klägern im Rahmen ihrer Asylverfahren aber immer wieder bestätigt wird durch Berichte über Nachstellungen, Bedrohungen und tätliche Übergriffe durch Mitarbeiter des Geheimdiensts. Die Abkürzung Jitem steht für Jandarma Istihbarat ve Terörle Mücadele (Nachrichtendienst und Terrorabwehr der Gendarmerie). Zweifellos ist diesem Geheimdienst daran gelegen, Informationen über die am 25. Oktober 2005 gegründete DTP ("Partei für eine demokratische Gesellschaft") zu erlangen, zu der sich führende kurdische Politiker zusammengeschlossen haben und die als Nachfolgepartei der DEHAP fungiert und zumindest teilweise noch mit der PKK sympathisiert (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 12). Es erscheint dem Gericht dabei auch naheliegend, dass der Geheimdienst versucht, gerade den Kläger als Spitzel zu gewinnen. Zwar ist auch das im Bescheid des Bundesamts vom 5. November 2007 vorgebrachte Argument nicht von der Hand zu weisen, dass der Kläger bei seiner Biographie möglicherweise Schwierigkeiten gehabt hätte, vertrauliche Informationen über eine kurdische Partei zu erlangen. Der Kläger hat jedoch nachvollziehbar und überzeugend auf das in den einzelnen Parteien existierende Procedere verwiesen, in einem Autokritik-Forum Selbstkritik zu üben und sich auch der Kritik der anwesenden Parteimitglieder zu stellen und letztendlich durch den Schwur, einmal begangene Fehler nicht zu wiederholen, die Möglichkeit einer erneuten Mitgliedschaft in der Partei zu erhalten. Nach Teilnahme an einer solchen Veranstaltung erscheint es durchaus möglich, dass der Kläger, der sich nach seinem Bekunden nur von gewalttätigen Aktionen der PKK, nicht aber von deren politischen Ideen distanziert hat, Mitglied der DTP hätte werden und nach einiger Zeit, in der er das Vertrauen anderer Mitglieder gewinnt, durchaus auch vertrauliche Informationen über die Partei hätte erlangen können.

Für das Gericht steht weiter fest, dass die Beeinträchtigungen durch Mitarbeiter des türkischen Geheimdiensts im Falle einer Rückkehr des Klägers in die Türkei fortgesetzt, wenn nicht weiter zunehmen würden. Dabei ist nach Art. 4 Abs. 4 QRL die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er erneut von derartiger Verfolgung bedroht wird. Gerade auch die Teilnahme des Klägers an politischen Aktionen hier in der Bundesrepublik führt dazu, dass das Interesse des türkischen Staats an einer Verfolgung des Klägers nicht schwindet.

Schließlich gibt es für ihn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG). Dies wäre nur dann der Fall, wenn für ihn in einem Teil des Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung bestünde und von ihm vernünftiger Weise erwartet werden könnte, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (Art. 8 Abs. 1 QRL). Hier kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger an anderen Orten der Türkei als im kurdischen Osten, also beispielsweise in den türkischen Großstädten Istanbul, Ankara oder Izmir, sicher vor Verfolgung ist. Um sich dort niederzulassen und eine Arbeitsstelle anzutreten, muss sich der Kläger anmelden und bei einem eventuellen künftigen Arbeitgeber ein Führungszeugnis vorlegen. Durch die Anmeldung und Beantragung des Führungszeugnisses würden die türkischen Behörden und Sicherheitskräfte aber wieder auf den Kläger, der aufgrund seiner Verurteilung bei der Polizei registriert ist, aufmerksam. Damit kann er sich in der Türkei in keinem Landesteil vor staatlichen Nachstellungen sicher sein kann.