LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.03.2008 - L 20 AY 9/07 - asyl.net: M13483
https://www.asyl.net/rsdb/M13483
Leitsatz:

Auch in Deutschland geborene Kinder müssen die Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllen.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, in Deutschland geborene Kinder, Kinder, 36-Monats-Frist, 48-Monats-Frist, Familienangehörige, Gleichheitsgrundsatz, Verfassungsmäßigkeit, UN-Kinderrechtskonvention
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AsylbLG § 2 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

Auch in Deutschland geborene Kinder müssen die Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung ist aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) des Klägers zu Recht abgewiesen.

Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in der bis zum 27.08.2007 geltenden Fassung war abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Durch Artikel 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 ist mit Wirkung vom 28.08.2007 die Dauer der Wartezeit von 36 auf 48 Monate ohne Relevanz für den hier zu entscheidenden Sachverhalt verlängert worden.

1. Die 36-monatige Wartefrist konnte der am 24.04.2003 geborene Kläger vor Vollendung seines dritten Lebensjahres, insbesondere also im streitbefangenen Zeitraum des Oktober 2005, nicht erfüllen. Der Ablauf der Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG ist auch unabhängig davon Leistungsvoraussetzung, ob der Leistungsberechtigte die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich verursacht hat. Der Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist zudem unabhängig von Familienstand und Alter des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG zu beurteilen.

2. Während § 2 Abs. 1 AsylbLG als eigentliche Anspruchsnorm heranzuziehen ist, schränkt § 2 Abs. 3 AsylbLG einen nach Abs. 1 der Vorschrift möglichen Anspruch ein (vgl. Adolf, in Linhard/Adolf, SGB II, SGB XII AsylbLG, Stand August 2007, Rn. 32ff.; Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Auflage 2006, § 2 Rn. 34). Diese Auslegung erscheint schon angesichts des Gesetzeswortlauts ("nur") und der Gesetzessystematik zwingend, sie entspricht zur Überzeugung des Senats auch dem Willen des Gesetzgebers. Zwar erläutert die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 13/2746 [15f.]) die gesetzgeberischen Absichten dahingehend, dass innerhalb einer Familie keine unterschiedlichen Leistungen gewährt werden sollen. Diese Passage kann zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs aber nicht mit Erfolg aus dem Kontext 1 gegriffen werden, der für das Verständnis der Norm entscheidende Bedeutung hat. Die Gesetzesbegründung bezieht sich nämlich im Folgenden auf eine im Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG und anderer Gesetze (1. ÄndG) vom 24.10.1995 (a.a.O.) ggf. durch § 2 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG des Entwurfs angelegte Besserstellung minderjähriger Kinder ("Dazu könnte es ohne diese Regelung kommen, wenn beide Elternteile lediglich für sich einen Asylantrag stellen, während die Kinder eine Duldung besitzen") und zielt ersichtlich lediglich auf die Situation unterschiedlicher Asylantragsverhältnisse bei Eltern und Kindern ab.

§ 2 Abs. 3 AsylbLG begründet insoweit auch keine uneingeschränkte Akzessorietät (missverständlich Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 2 Rn. 16) der Ansprüche grundsätzlich nach dem AsylbLG leistungsberechtigter minderjähriger Kinder (vgl. GK-AsylbLG, Stand Februar 2007, § 2 Rn. 228, der von einem akzessorischen Leistungsniveau auf dem abgesenkten Niveau des AsylbLG spricht) zu den Ansprüchen der mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebenden Eltern und erst Recht keine losgelöst von Abs. 1 der Vorschrift zu beurteilende Anspruchsnorm. Vielmehr müssen die Voraussetzungen des Abs. 3 sowie (zusätzlich) diejenigen des Abs. 1 kumulativ erfüllt sein (vgl. auch Hohm, a.a.O., Rn. 34; Fasselt in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Auflage 2005, § 2 Rn. 14; Mergler/Zink, SGB XII, Stand August 2004, § 2 Rn. 49; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht <OVG>, Beschluss vom 31.05.1999 - 4 L 1884/99). Ansprüche nach dem AsylbLG sind wie solche nach dem SGB XII und dem SGB 11 als Individualansprüche konzipiert. Mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (Oberverwaltungsgericht <OVG> Lüneburg, Beschluss vom 21.06.2000 - 12 L 3349/99, bestätigt durch Bundesverwaltungsgericht <BVerwG>, Beschluss vom 28.09.2001 - 5 B 94/00 = FEVS 53, 111-112) ist weiterhin - wie für das Sozialhilferecht anerkannt - von einem eigenständigen Hilfeanspruch jedes Familienangehörigen auszugehen, weil ein Grundsatz familieneinheitlicher Leistungsgewährung nicht existiert. Die zwischenzeitlichen Änderungen des Aufenthalts-, Ausländer- und Asylbewerbereistungsrechts rechtfertigen eine abweichende Beurteilung nicht.

3. Eine erweiternde Auslegung der Vorschrift des § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst kommt nicht in Betracht. Unabdingbare Voraussetzung des dort normierten Leistungsanspruchs ist der Ablauf der Wartefrist. Soweit in der neueren sozialgerichtlichen Rechtsprechung mit Blick auf dem der Vorschrift zu Grunde liegenden Integrationsgedanken (vgl. BT-Drucks. 12/5008 [15]) auch der Vorbezug etwa von höherwertigen Sozialleistungen berücksichtigt wurde (vgl. etwa LSG NRW, Beschlüsse des erkennenden Senates vom 26.04.2007 - L 20 B 4/07 AY ER, vom 06.08.2007 - L 20 B 50/07 AY ER, vom 27.04.2006 - L 20 B 10/06 AY ER, ebenso Hessisches LSG, Beschluss vom 21.03.2007 - L 7 AY 14/06 ER, SG Aachen, Urteil v. 19.06.2007 - S 20 AY 4/07), ändert dies - unabhängig von der Tatsache, dass die Bestätigung durch ober- und höchstrichterliche Hauptsacheentscheidungen noch aussteht - nichts an der eindeutigen und der Auslegung nicht zugänglichen Regelung, dass zumindest die gesetzlich normierte Wartefrist abgelaufen sein muss. Die Frage der Sinnhaftigkeit des Auseinanderfallens von Ansprüchen innerhalb einer familiären Haushaltsgemeinschaft und des Ausschlusses von in Deutschland geborenen Kindern von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG bis zur Vollendung ihres dritten bzw. jetzt vierten Lebensjahres stellt sich angesichts der klaren gesetzlichen Vorgaben im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung nicht.

4. Schließlich vermag der Senat einen Verstoß gegen übergeordnetes Recht nicht nachzuvollziehen. Insbesondere liegt ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG schon deshalb nicht vor, weil die Vorschrift des § 2 Abs. 1 AsylbLG gerade nicht hinsichtlich des Alters differenziert, sondern - wie ausgeführt - vom Individualanspruch eines jeden Leistungsberechtigten ausgehend unterschiedslos den Ablauf der Wartefrist verlangt. Es bedarf insoweit keiner Entscheidung, ob der Verzicht auf die Wartefrist unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 AsylbLG unter Gleichheitsgesichtspunkten sachlich zu rechtfertigen wäre. Eine restriktive Auslegung des § 2 Abs. 3 AsylbLG dahingehend, dass dieser nicht für in Deutschland geborene Kinder gilt, wenn ein Elternteil bereits leistungsberechtigt nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist, kommt, - wie bereits dargelegt - nicht in Betracht. Die abweichende Auffassung (vgl. Birk in LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 2 Rn. 7) überzeugt nicht. Sie bleibt schon eine tragfähige Begründung der nicht näher angeführten verfassungsrechtlichen Gründe schuldig. Im Übrigen scheint sie, obgleich das grundsätzliche Erfordernis des Ablaufs der 48-monatigen Wartefrist anerkannt wird, zu verkennen, dass § 2 Abs. 3 AsylbLG nicht als Anspruchsnorm konzipiert ist. Eine Auslegung im vorgeschlagenen anspruchsbegründenden - Sinn stellte damit auch keine restriktive Auslegung des § 2 Abs. 3 AsylbLG, sondern genau genommen - in Bezug auf die Wartefrist- eine einschränkende Auslegung des Abs. 1 der Vorschrift dar.

5. Durchgreifende Bedenken an der Verfassungsgemäßheit der Leistungen nach § 3 AsylbLG, die für das Jahr 2007 mit etwa 35 % unter den Regelsätzen nach dem 5GB XII eingestuft werden (vgl. Birk, a.a.O., § 3 AsylbLG Rn. 8; vgl. hinsichtlich der unterbliebenen Anpassungen nach § 3 Abs. 3 AsyIbLG seit Inkrafttreten des AsylbLG auch GK-AsylbLG, a.a.O., Rn. 94) liegen zur Überzeugung des Senats angesichts des anzuerkennenden weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums im Allgemeinen nicht vor. Umstände, die die Leistungsgewährung im konkreten Fall des Klägers als nicht ausreichend zur Sicherung des verfassungsrechtlich Gebotenen erscheinen ließen, sind nicht ersichtlich. Auch ein Verstoß gegen Art. 27b UN-Kinderrechtskonvention ist daher im Ergebnis zu verneinen.

Der Senat misst den aufgeworfenen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu, so dass die Revision zuzulassen war.