VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 09.05.2008 - 2 A 24/07 - asyl.net: M13490
https://www.asyl.net/rsdb/M13490
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Ermessen, Ermessensfehler
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 4; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die zulässige Klage ist im Wesentlichen begründet.

Die in dem Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 2007 verfügte Ausweisung ist rechtswidrig.

Zwar hat die Beklagte zu Recht erkannt, dass der Kläger einen zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt hat und gem. § 56 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt, so dass er gem. § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG in der Regel ausgewiesen werden kann. Die Beklagte hat jedoch zu Unrecht einen atypischen Fall, der eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigt, verneint. Hieraus folgt, dass die Beklagte die Ausweisung ermessensfehlerhaft verfügt hat.

Die Kammer folgt der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das einen Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann als gegeben erachtet, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Der bisherige Maßstab, der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ausweisung mit höherrangigem Recht abstellte, reicht nach den Erfahrungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht aus, um den von Artikel 6, Artikel 2 Abs. 1 GG und Artikel 8 EMRK geschützten Belangen in der Praxis zu einer ausreichenden Berücksichtigung zu verhelfen. Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und/oder aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles nach Ausweisung entgegensteht. Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass diese Auslegung unter Umständen dazu führe, dass es mehr Ausnahmefälle als Regelfälle gebe und dies dem Willen des Gesetzgebers widerspreche. Denn für die Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall kommt es nicht auf das quantitative Verhältnis der Fallgruppen an, sondern auf eine wertende Betrachtung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben. Allerdings ist mit der Absenkung der Schwelle für das Vorliegen eines Ausnahmefalles die Ermessensentscheidung über die Ausweisung nicht etwa negativ präjudiziert. Bei Annahme eines von der Regel abweichenden Falles fehlt den Ausweisungsgründen nur das von vornherein ausschlaggebende Gewicht, dass ihnen der Gesetzgeber im Regelfall zugemessen hat. Liegt ein Ausnahmefall vor, sind die Ausweisungsgründe mit dem Gewicht, das in dem gestuften System der Ausweisungstatbestände zum Ausdruck kommt, in die Ermessensentscheidung einzubeziehen (BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, AuAS 2008, 28).

Die Beklagte hat Ermessen nicht ausgeübt, sondern ist von dem Vorliegen eines Regelfalles ausgegangen. Dies macht die Ausweisung rechtswidrig. Zum einen deshalb, weil bestimmte Gesichtspunkte nicht in die Entscheidung der Beklagten eingeflossen sind, zum anderen, weil andere nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Entscheidung eingestellt wurden.