OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.06.2008 - 7 ME 58/08 - asyl.net: M13498
https://www.asyl.net/rsdb/M13498
Leitsatz:

Die nach deutschem Recht aufhebbare Zweitehe kann ausländerrechtlich einer bloßen "Scheinehe" nicht gleichgestellt werden, da das maßgebliche Differenzierungskriterium für den Zuzugsanspruch, die eheliche Lebensgemeinschaft, hier nicht fehlt (a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.8.2005 - 13 S 951/04 - juris).

Es kann offenbleiben, ob und unter welchen Vorausetzungen sich der "de facto-Vater" auf Art. 6 GG berufen kann (verneinend VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006 - 13 S 2157/06 - juris), da die von der Ausländerbehörde in ihre Ermessenserwägungen einzustellenden Belange des Ausländers auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) nicht Verfassungsrang haben müssen.

 

Schlagwörter: D (A), Ehegattennachzug, Zweitehe, Scheinehe, ordre public, Falschangaben, Rücknahme, Ausweisung, Ermessensausweisung, Ermessen, Stiefvater, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention
Normen: AufenthG § 27 Abs. 1; AufenthG § 28 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die nach deutschem Recht aufhebbare Zweitehe kann ausländerrechtlich einer bloßen "Scheinehe" nicht gleichgestellt werden, da das maßgebliche Differenzierungskriterium für den Zuzugsanspruch, die eheliche Lebensgemeinschaft, hier nicht fehlt (a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.8.2005 - 13 S 951/04 - juris).

Es kann offenbleiben, ob und unter welchen Vorausetzungen sich der "de facto-Vater" auf Art. 6 GG berufen kann (verneinend VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006 - 13 S 2157/06 - juris), da die von der Ausländerbehörde in ihre Ermessenserwägungen einzustellenden Belange des Ausländers auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) nicht Verfassungsrang haben müssen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Rücknahme- und Ausweisungsverfügung des Antragsgegners beruht auf einer ausreichenden Sachverhaltsermittlung und einer im Kern tragfähigen Ermessensausübung.

Nach den vom Antragsgegner durchgeführten Ermittlungen ist davon auszugehen, dass der Antragsteller bei seiner Eheschließung mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., am 23. Juni 2000 bereits verheiratet war.

Die nach deutschem Recht aufhebbare Zweitehe kann ausländerrechtlich zwar einer bloßen "Scheinehe" nicht gleichgestellt werden (a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.8.2005 - 13 S 951/04 -, juris), worauf der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers insoweit zutreffend hinweist, da das maßgebliche Differenzierungskriterium für den Zuzugsanspruch, die eheliche Lebensgemeinschaft (vgl. §§ 23 Abs. 1, 17 Abs. 1 AuslG, jetzt: §§ 27, 28 AufenthG), hier - anders als bei der „Scheinehe“ - nicht fehlt. Für die polygame Ehe hat die höchstrichterliche Rechtsprechung und ihr folgend das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht es bisher offen gelassen, ob diese dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfällt (BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1 ff m.w.N.; BVerwG, Urt. v. 30.4.1985 - 1 C 33.81 -, BVerwGE 71, 228; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.11.2005 - 10 LB 84/05 -, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 12.3.2004 - 10 A 11717/03 -, InfAuslR 2004, 294 ff. m.w.N.). Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG über inlandsbezogene Ehen hinaus grundsätzlich eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden und ob die Rechtswirkung des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen ist, solange die Gemeinschaft nicht dem das Grundgesetz beherrschenden Bild von Ehe und Familie widerspricht (BVerfG, a.a.O.).

Hieraus kann der Antragsteller indes für seine Rechtsposition nichts herleiten. Den Umstand, dass die von ihm mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., am 23. Juni 2000 geschlossene Ehe eine bigamische Ehe war, hätte er der Ausländerbehörde bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis nach der Heirat nicht verschweigen dürfen. Denn dieser Gesichtspunkt war jedenfalls im Hinblick auf den "ordre public"-Vorbehalt für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis von integrationspolitischer Bedeutung (vgl. BVerwG, a.a.O.), da dem Antragsteller der begehrte Aufenthaltstitel für den Zuzug zu seiner deutschen Ehefrau bei Kenntnis dieses Umstandes wohl nicht - jedenfalls nicht ohne weiteres - erteilt worden wäre.

Eine fehlerhafte Ermessensbetätigung des Antragsgegners lässt sich im Ergebnis auch nicht daraus, dass der Antragsteller sich bei Erlass der ausländerrechtlichen Verfügung vom 16. Oktober 2007 seit über 11 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt, davon rund sieben Jahre mit einer Aufenthaltserlaubnis, er gut fünf Jahre - bis zur Scheidung der Ehe am 8. Februar 2005 - mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., verheiratet war und die fünfjährige Tochter seiner früheren Ehefrau regelmäßig betreut, die ihn - wie sich aus dem Vermerk des Jugendamtes vom 10. August 2007 ergibt - als ihren Vater betrachtet und dass diese Beziehung im Vermerk des Jugendamtes als "sehr vertrauensvoll, liebevoll und eng" beschrieben sowie als "positiv und zum Wohle des Kindes" bewertet wird ableiten.

In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen sich der "de facto-Vater" auf Art. 6 GG berufen kann (verneinend VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006 - 13 S 2157/06 -, juris), da die von der Ausländerbehörde in ihre Ermessenserwägungen einzustellenden privaten Belange des Ausländers nicht Verfassungsrang haben müssen. Das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt, auch wenn eine schutzwürdige familiäre Beziehung nicht besteht (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275 ff unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 9.10.2003 - 48321/99 - "Slivenko", EuGRZ 2006, S. 560f.). Dies lässt im Falle der Ausweisung eines Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles jedenfalls angezeigt erscheinen (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10/07 -, NVwZ 2008, 326 m.w.N.).

Diese Gesamtwürdigung fällt indes auch unter Berücksichtigung der o.g. Belange nicht zu Gunsten des Antragstellers aus: Er gehört trotz der Aufenthaltsdauer von mehr als 11 Jahren nicht zum Personenkreis der sog. "faktischen Inländer", auf die die Effektivierung des Schutzes des Privatlebens nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vor allem, allerdings nicht ausschließlich, zielt.