VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 09.04.2008 - M 23 K 07.50815 - asyl.net: M13601
https://www.asyl.net/rsdb/M13601
Leitsatz:

Extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG jedenfalls für Rückkehrer nach Afghanistan, die nicht auf die Hilfe eines funktionierenden Familienverbandes zurückgreifen können.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Gebietsgewalt, Kabul, Karsai, Warlords, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, Plünderung, Entführung, Erpressung, Versorgungslage, medizinische Versorgung, familiäre Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG jedenfalls für Rückkehrer nach Afghanistan, die nicht auf die Hilfe eines funktionierenden Familienverbandes zurückgreifen können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im Falle der Klagepartei ist ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG gegeben. Ein genereller Abschiebestopp oder ein vergleichbarer Schutz besteht nicht. Die Klagepartei wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort gegebenen Verhältnisse auch einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt, die ihre Abschiebung bei verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verbietet (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 –, BVerwGE 108, 77 = DVBl 1999, 549 = InfAuslR 1999, 266).

Die Existenz einer derartigen extremen Gefahrenlage ist mittels einer Gesamtschau der allgemeinen Lage im betreffenden Staat und der persönlichen Situation des Ausländers zu beurteilen. Bei der zu beurteilenden Gefahrenlage ist grundsätzlich auf eine landesweite Gefährdung abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 –, BVerwGE 99, 324 = NVwZ 1996, 199 = InfAuslR 1996, 149; Urt. v. 08.04.1997 – 1 C 12/94 –, BVerwGE 104, 210 = NVwZ 1997, 1112 = InfAuslR 1997, 416). Im Falle von Afghanistan dürfte derzeit allerdings nur eine Abschiebung nach ... überhaupt in Betracht kommen (zur Lage in anderen Gebieten Afghanistans vgl. Gutachten Dr. Danesch an das Bayerische Verwaltungsgericht München vom 31. 5. 2005, ab S. 15 letzter Absatz bis S. 17). Im Falle der Klagepartei ergibt die Gesamtschau von allgemeiner Lage und persönlicher Situation, dass eine extreme Gefahrenlage besteht.

Die Gefährdung der Rechtsgüter muss im Falle des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht von staatlicher Seite ausgehen oder diesem zuzurechnen sein (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 a.a.O.). Jedoch wäre die Feststellung einer extremen Gefahrenlage dann ausgeschlossen, wenn ein schutzbereiter und -fähiger Staat oder eine entsprechende staatsähnliche Gewalt vorhanden wäre. Eine staatliche oder staatsähnliche Gewalt, die bereit und in der Lage wäre, der Klagepartei Schutz zu gewähren, besteht derzeit in Afghanistan nicht (so z.B. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28.04.2005 – 5a K 2728/98.A –; in diese Richtung, wenn auch im Ergebnis offen gelassen etwa OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 20.03.2003 – 20 A 4270/97.A –, juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 18.07.2005 – A 2 K 11626/3 –, juris; offengelassen neuerdings auch von BVerwG, Urt. v. 01.11.2005 – 1 C 21/04 –, insbesondere S. 12/13 UA).

Zwar wird Präsident Karsai von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt und gefördert. Die völkerrechtliche Anerkennung sowie die Gebietsherrschaft nach außen sind jedoch nicht ausschlaggebend. Die erforderliche Gebietsgewalt im Sinne einer wirksamen hoheitlichen Überlegenheit im Innern des Landes liegt trotz der Bildung der Übergangsregierung vom Dezember 2001, ihrer Bestätigung durch die sog. Loya Jirga im Juni 2002, der am 9.10.2004 erfolgten Präsidentschaftswahl, der am 18.09.2005 abgehaltenen Parlamentswahl sowie des Einsatzes der Schutztruppen der International Security Assistance Force (ISAF) zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht vor.

Andererseits kann nicht in einem oder mehreren einzelnen Landesteilen eine staatliche oder quasistaatliche Herrschaftsmacht eines oder mehrerer Lokalherrscher angekommen werden.

Weil eine schutzbereite und -fähige staatliche oder staatsähnliche Gewalt gegenwärtig in Afghanistan nicht existiert (vgl. dazu ausführlich die obigen Nachweise), sind Auslandsafghanen und Rückkehrer – über den praktisch landesweit herrschenden Zustand allgemeiner und weitgehender Rechtlosigkeit hinaus – typischerweise Opfer von Plünderungen, Entführungen und Gelderpressungen (vgl. VG Wiesbaden, Beschl. v. 21.11.2003 – 7 E 2304/03.A –; VG Dresden, Urt. v. 18.11.2003 – A 7 K 30988/2 –; VG München, Urt. v. 24.01.2005 – M 23 K 03.52000 –). Landesweit wird über etliche Fälle von Plünderungen und Erpressungen von Geld berichtet, wobei Opfer häufig Binnenvertriebene und Rückkehrer sind, von denen angenommen wird, dass sie über finanzielle Ressourcen und/oder Rückkehrerbeihilfen verfügen (Lagebericht vom 21.6.2005, Seite 14).

Die allgemeine Lage in Afghanistan einschließlich des Großraums ... ist katastrophal. Funktionierende Verwaltungsstrukturen fehlen. Es kann auch nicht von einem nur ansatzweise funktionierenden Justizwesen gesprochen werden (Lagebericht, Seite 8). Der praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen ist nicht überwunden (Lagebericht, Seite 8). Nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes findet das Fehlen eines funktionierenden Justizwesens seinen Ausdruck durch eine Vielzahl meist unerkannt bleibender Menschenrechtsverletzungen oder landesweiten Streitigkeiten um illegal besetzte Privatgrundstücke und Wasserquellen, wobei Opfer typischerweise Rückkehrer sind (Lagebericht, Seite 9). Insbesondere in ... gibt es häufig entsprechende Vorfälle (so ausdrücklich im Lagebericht vom 29. 11. 2005 auf Seite 11). Lösegelderpressungen und Entführungen sind nahezu an der Tagesordnung. Ihnen fallen oft Frauen zum Opfer (Lagebericht vom 21.06.2005, Seite 14).

... wurde nach der Vertreibung der Taliban von ca. 1,5 Millionen Flüchtlingen, insbesondere bäuerlichen Familien aus dem paschtunischen Süden und Osten Afghanistans, die dort angesichts der Kriegsfolgen keine Existenzmöglichkeit mehr für sich sahen, geradezu überrannt (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 12). Die dort tätigen Hilfsorganisationen können der Hilfesuchenden kaum Herr werden (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 12). Sogar für junge Rückkehrer ist die Aussicht, Arbeit zu finden, angesichts einer Arbeitslosenquote von über 70 bis 80 Prozent gering. Selbst wenn man sich beispielsweise als Bauarbeiter verdingen kann, reicht der tägliche Verdienst von 3 bis 4 Dollar (120 bis 150 Afghani) nicht einmal für die täglichen Grundnahrungsmittel – Brot, Tee und Mehl – geschweige denn für Miete oder Fahrgeld (Gutachten Dr. Danesch vom 31.05.2005, Seite 13).

Neben den Gefährdungen, denen der Einzelne in Afghanistan wegen der instabilen politischen Lage ausgesetzt ist (vgl. hierzu ausführlich oben), sind zu den extremen Gefahren für Leib und Leben auch solche zu zählen, die infolge völliger Unterversorgung der Bevölkerung mit dem elementaren Bedarf des täglichen Lebens (insbesondere Nahrungs- und Heizmittel) entstehen. Denn auch ein derartiger Mangel kann die Existenz der Betroffenen in lebensbedrohlicher Weise gefährden (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 17.03.1997 – 11 S 3301/96 –, NVwZ 1997, Beilage Nr. 5, 33 = InfAuslR 1997, 259 = VBlBW 1997, 310). Von einer derzeit bestehenden Unterversorgung der Bevölkerung in Afghanistan in diesem Sinne ist auszugehen. Zwar hat sich nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes die Versorgungslage in den großen Städten "grundsätzlich verbessert". Wegen mangelnder Kaufkraft könnten hiervon jedoch "längst nicht alle Bevölkerungsschichten" profitieren. In anderen Gebieten sei die Versorgungslage weiterhin nicht zufriedenstellend bis unzureichend (Lagebericht, Seite 24). Eine Delegation der Organisation "Pro Asyl", die sich Anfang November 2004 für eine Woche in Afghanistan aufhielt, stellte fest, dass die Stadt Kabul angesichts ihrer völlig überforderten Infrastruktur bei über 3 Millionen Bewohnern weder eine inländische Fluchtalternative noch eine zumutbare Option für Rückkehrer ist, weil es "an allem" mangelt: an bezahlbarem Wohnraum, Trinkwasser und ausreichender Gesundheitsversorgung (Presseerklärung vom 12. 11. 2004). Wenngleich die UNHCR zur Unterbringung der Flüchtlinge auf den Kabul umgebenden Hügeln Zeltlager aufgebaut hat, so fehlt doch jegliche sonstige Infrastruktur. Ohne Rücksicht auf die traditionellen Moralvorstellungen werden Männer, Frauen und Kinder in den Notunterkünften "zusammengepfercht" (Gutachten Dr. Danesch vom 31.05.2005, Seite 13). Durch die in den Lagern herrschenden Verhältnisse sind Konflikte bis hin zum Mord vorprogrammiert (vgl. Gutachten Dr. Danesch a.a.O.). Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. In den Ruinen der ganzen Stadt sind Slumsiedlungen aus Lehmhütten entstanden (Gutachten Dr. Danesch vom 31.05.2005, Seite 14). Lebensmittelpreise und Mieten sind in Kabul inzwischen auf astronomische Höhen gestiegen. Ein Grund dafür ist die Anwesenheit der ca. 24.000 ausländischen Helfer aus den USA, Kanada, Japan und Europa, die Gehälter zwischen 10.000 und 15.000 Dollar monatlich beziehen. Deswegen sind Mieten wie Preise für die Güter des täglichen Bedarfs derart hoch, dass sie für die Bevölkerung nicht mehr bezahlbar sind (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005 a.a.O.).

Hiervon abgesehen wird die medizinische Versorgung vom Auswärtigen Amt als völlig unzureichend erachtet. Selbst in Kabul sei keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben (Lagebericht, Seite 24). Weiter wird ausgeführt, dass Afghanistan zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit in der Welt zähle und die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung etwa 45 Jahre betrage.

Das Überleben der Klagepartei ist darüber hinaus deswegen gefährdet, weil es Einzelnen in Afghanistan nicht möglich ist, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen (vgl. VG München, Urt. v. 25.11.2003 – M 23 K 03.51400). Derzeit ist es Rückkehrern praktisch unmöglich, sich in Afghanistan eine Existenz aufzubauen (Gutachten Dr. Danesch vom 31. 5. 2005, Seite 12).

Eine ausreichende Mindestversorgung, um überhaupt überleben zu können, ist nach den ausführlich dargestellten Erkenntnissen allenfalls für Rückkehrer, die auf einen zur Hilfe bereiten Familienverband zurückgreifen können, einigermaßen sichergestellt. Denn soziale Sicherungssysteme existieren in Afghanistan nicht (so ausdrücklich der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 17. 3. 2007, Seite 24), die soziale Absicherung wird vielmehr von Familienverbänden und -clans übernommen. Insbesondere Rückkehrer aus dem westlich geprägten Ausland stoßen auf große Schwierigkeiten (Lagebericht, Seite 24; vgl. zur Situation der Flüchtlinge auch Seiten 24 – 27). Da Arbeit nicht vorhanden ist (vgl. die obigen Nachweise) und Hilfsleistungen von Hilfsorganisationen für Rückkehrer aus dem europäischen Ausland in der Regel kaum erreichbar sind (vgl. Gutachten Dr. Danesch vom 31.05.2005, Seite 12 letzter Absatz), ist ein Rückkehrer zwingend auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen. Jedenfalls im Falle der Klagepartei kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund der geschilderten sehr schwierigen Lage das zum Überleben notwendige Existenzminimum gesichert ist (vgl. Gutachten Peter Rieck vom 15.01.2008 an das OVG Rheinland-Pfalz sowie Lagebericht vom 7.3.2008, Seite 24). Denn der Kläger verfügt nicht über einen zur Unterstützung fähigen Familienverband in Kabul. Vielmehr stammt der Kläger und dessen Familie aus ... Einen Beruf hat der Kläger offenkundig nicht erlernt (Heftung 1, Blatt 22, Frage 19).