VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.04.2008 - 1 A 18/06 - asyl.net: M13626
https://www.asyl.net/rsdb/M13626
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Oppositionelle, Flugblätter, Regimegegner, Durchsuchung, Glaubwürdigkeit, Drittstaatenregelung, Reiseweg, Luftweg, Konversion, Apostasie, Christen, Missionierung, religiöses Existenzminimum, Religion, Verfolgungsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Inhaftierung, Folter, Willkür
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 26a; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 S. 1 Bst. b
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn er hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asyl berechtigten und auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung politischen Asyls gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG.

Sein Fluchtvorbringen ist zunächst schlüssig. Danach hat er insbesondere durch das Erstellen von regimekritischen Texten auf Flugblättern und das Verteilen dieser Flugblätter und CDs mit regimekritischem Film- und Fotomaterial innerhalb seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppierung aktiv seine gegen das iranische Regime gerichtete politische Einstellung zum Ausdruck gebracht. Unmittelbar nach einer Durchsuchung und Sicherstellung von entsprechenden Materialien bei dem Freund seines Bruders (ein aktives Mitglied einer Universitätsgruppe, über den der Kläger überhaupt zu der Gruppe gelangt ist) und dessen Festnahme ist es in seinem Elternhaus ebenfalls zu einer polizeilichen Durchsuchung gekommen, bei der in dem Zimmer des Klägers umfangreiches regimekritisches Material (Flugblätter und CDs) beschlagnahmt wurde. Einer eigenen Festnahme hat er sich durch seine Flucht entzogen.

Das Vorbringen ist auch glaubhaft. Es steht zunächst im Einklang mit der allgemeinen politischen Lage im Iran. Danach ist die innenpolitische Situation im Iran geprägt von anhaltender Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit. Oppositionelle Aktivitäten im In- und Ausland werden von den klerikalen Konservativen, die die Macht durch den Revolutionsrat, das Militär, den internen Sicherheitskräften sowie der Justiz ausüben, gezielt beobachtet, eingeschränkt oder mit gewaltsamen Mitteln bekämpft. Mitglieder von oppositionellen Parteien müssen mit Verfolgung und extralegaler Tötung rechnen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran - Rückkehrgefährdung bei oppositionellen und politischen Aktivitäten - vom 20.10.2003 [Erkenntnismittel Nr. 823]). Eine private oder öffentliche Äußerung von Unzufriedenheit und Kritik an der Regierung oder an der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Lage allein zieht für sich keine Zwangsmaßnahmen durch den iranischen Staat nach sich, solange die Werte der Islamischen Revolution und der schiitische Islam nicht verunglimpft werden oder nicht versucht wird, das herrschende Regime zu stürzen (vgl. OVG Schleswig, U. v. 23.05.2003 - 3 LB 9/03 -; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.07.2007 [Erkenntnismittel Nr. 980]).

In diese Auskunftslage fügt sich das Fluchtvorbringen des Klägers an.

Ist der Kläger nach alledem politisch vorverfolgt i. S. v. Art. 16 a Abs. 1 GG, so ist es nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht ausgeschlossen, dass der Kläger auch bei seiner Rückkehr im Iran mit weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätte. Denn die repressive Situation im Iran hält nach wie vor an (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.07.2007 [Erkenntnismittel Nr. 980]).

Dem Asylanspruch des Klägers steht auch nicht die Drittstaatenregelung des § 26 a AsylVfG entgegen. Denn er hat glaubhaft gemacht, dass er auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Seine diesbezügliche detaillierte Schilderung in der mündlichen Verhandlung steht zudem im Einklang mit der Auskunft vom Hamburg Airport vom 09.04.2008 - die seinem Vertreter erst in der mündlichen Verhandlung überreicht wurde -, insbesondere was die Verspätung des Fluges und den Zugang zum Flughafengebäude anbelangt. Es entspricht auch einer lebensnahen Betrachtung, dass sich der damals minderjährige Kläger in Anbetracht der angespannten Situation nicht minutengenau an alle Zeiten erinnern kann und auch den Namen der Frau, bei der er als Scheinsohn in den Reisepass eingetragen war, nicht kannte, sondern diese - ausreichend - mit "Mutti" angesprochen hat. Dementsprechend verfügte der Kläger auch nicht über eigene Reisedokumente oder Unterlagen, die er hätte vorlegen können.

Da die Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG vorliegen, sind zugleich auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt. Allerdings steht dem Kläger über die genannten Gründe hinaus ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs.1 AufenthG gegen die Beklagte aufgrund seines Übertritts zum christlichen Glauben zu.

Nach der Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 76, 143/158 f.) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 120, 16/19 f.), war bisher die Religionsausübung nur insoweit geschützt, als sie nicht Über deren Kernbereich im Sinn des sog. religiösen Existenzminimums hinausgegangen ist. Nicht geschützt waren deshalb bisher eine über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehende, öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung oder missionierende Tätigkeit. Demgegenüber und auch - jedenfalls in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht - gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 erweitert Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG den Bereich geschützter religiöser Betätigung (vgl. Bayer. VGH, U. v. 23.10.2007 - 16 B 06.30315 - zitiert nach juris).

Gegenüber dem religiösen Existenzminimum, dem sog. forum internum, umfasst der Begriff der Religion in diesem Sinn nunmehr die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit, aber auch sonstige Betätigungen, Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dazu zählen insbesondere das offene, nicht nur an die Mitglieder der eigenen Religionsgemeinschaft gewandte Bekenntnis der persönlichen religiösen Überzeugung wie auch die Darstellung ihrer Verheißungen und damit auch missionarische Betätigung, die gerade darin besteht, Nicht- oder Andersgläubigen vor Augen zu führen, welches Heil den die jeweiligen Lehren beachtenden Gläubigen im Gegensatz zu der Verdammnis Ungläubiger erwartet. Eine Beschränkung dieses Bekenntnisses und der Verkündigung auf den Bereich der eigenen Glaubensgemeinschaft kann weder dem Wortlaut noch der Systematik dieser Vorschrift entnommen werden. Es sind vielmehr alle Betätigungen, Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen erfasst, die sich auf eine ernst zu nehmende religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dem entspricht das Bedürfnis des Gläubigen, sich gegenüber anderen Menschen zu bekennen und für seine Überzeugung zu werben. Ihre Grenze finden solche religiösen Handlungen, wenn sie in einer erheblich den öffentlichen Frieden störenden Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger eingreifen oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar sind. Innerhalb dieser Grenzen ist nicht nur derjenige geschützt, der seine religiösen Überzeugungen ohne Rücksicht auf Verfolgungsmaßnahmen nach außen vertritt, sondern auch derjenige, der unter dem Zwang der äußeren Umstände aus Furcht vor Verfolgung seine religiösen Bedürfnisse nur abseits der Öffentlichkeit oder gar heimlich auslebt. Maßstab können auch nicht die im Iran traditionell beheimateten christlichen Konfessionen sein, die um ihrer Existenz willen auf Missionsarbeit verzichten (vgl. Bayer. VGH, a.a.O.).

Nach der Überzeugung des Gerichts könnte der Kläger im Falle seiner nunmehrigen Rückkehr in den Iran keine derartige - öffentliche - Glaubensbetätigung vornehmen, ohne mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit von im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen zu werden. Im Falle einer öffentlichen Bekundung seines Abfalls vom Islam - als in den Islam hineingeborener Sohn muslimischen Eltern, selbst wenn er nach eigenen Angaben den muslimischen Glauben im Iran nicht ausgelegt hat - und seiner Zuwendung zum Christentum sowie einer Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit, wie etwa der Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten oder der Vornahme von Gebeten unter freiem Himmel allein oder in Gemeinschaft mit anderen, würde sich der Kläger der beachtlichen Gefahr staatlicher Willkürmaßnahmen aussetzen.

Dabei kann es dahinstehen, ob, wie in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung einhellig angenommen, der bloße Umstand des Abfalls vom Islam als solcher im Iran aller Voraussicht nach - auch im Falle seines Bekanntwerdens - keine verfolgungsrelevanten Maßnahmen nach sich zieht (vgl. insoweit BVerwG, U. v. 20.01.2004, - 1 C 9/03 zitiert nach juris; Sächs. OVG, U. v. 04.05.2005 - A 2 B 524/04 -, zitiert nach juris; Bayer. VGH, U. v. 02.05.2005 - 14 B 02.30703 -, zitiert nach juris; VG Karlsruhe, U. v. 04.05.2006 - A 6 K 11574/04 - ).

Der Kläger würde aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch gegen seine nach Artikel 10 Abs.1 Satz 1 b der Qualifikationsrichtlinie geschützte Glaubensbetätigung gerichteten staatlichen Maßnahmen - landesweit - jedenfalls in seiner Freiheit beeinträchtigt werden.

Nach der dem Gericht zur Verfügung stehenden einhelligen Auskunftslage leben zwar die Muslime im Iran mit den Angehörigen der drei weiteren durch die Verfassung anerkannten Religionsgemeinschaften, (Christentum, Zoroastrismus und Judentum) im Wesentlichen friedlich nebeneinander. Die anerkannten religiösen Minderheiten sind weitestgehend frei in der Ausübung ihrer Religion, insbesondere die christlichen Kirchengemeinden, die ihre Arbeit ausschließlich auf die Angehörigen ihrer eigenen Religion beschränken, werden vom Staat nicht systematisch behindert oder verfolgt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.07.2007 [Erkenntnismittel Nr. 980]). Anhänger der traditionellen Kirchen wie die armenischen, assyrischen und chaldäischen Christen haben daher im Iran grundsätzlich keine Verfolgung zu befürchten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Themenpapier "Christen und Christinnen im Iran" vom 18.10.2005 [Erkenntnismittel Nr. 903]). Demgegenüber können Mitglieder solcher religiöser Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören, staatlichen Repressionen ausgesetzt sein. Dies gilt insbesondere für alle missionierenden Christen.

Nach der Auffassung des Gerichts ist aufgrund dieser Erkenntnislage von dem Vorliegen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für gegen den Kläger gerichtete zumindest freiheitsentziehende Maßnahmen auszugehen (vgl. ebenso VG Bayreuth, U. v. 27.04.2006 - B 3 K 06.30073 zitiert nach juris; VG Düsseldorf, U. v. 15.08.2006, Asylmagazin 2006, Heft 10, S. 22). Selbstredend kann insoweit kein bestimmter Prozentsatz hinsichtlich der Verfolgungswahrscheinlichkeit angegeben werden. Politische Verfolgung ist aber bereits dann als beachtlich wahrscheinlich anzunehmen, wenn bei einer qualifizierten Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, U. v. 05.11.1991, BVerwGE 89, 162 und U. v. 14.12.1993, DVBl.1994, 524). Entscheidend ist dabei eine wertende Betrachtungsweise, die auch die Schwere des befürchteten Verfolgungseingriffs berücksichtigt. Je gravierender die möglichen Rechtsverletzungen sind, desto weniger kann es dem Betroffenen zugemutet werden, sich der Verfolgungsgefahr auszusetzen. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer, der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, die begründete Furcht ableiten lässt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Letztlich maßgebend ist in diesem Zusammenhang der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der Rückkehr (BVerwG, U. v. 23.02.1988, Buchholz 402.25 AsylVfG, § 1 Nr. 80 sowie U. v. 23.07.1991, BVerwGE 88, 367).

Die von dem Kläger zu befürchtenden angesprochenen Verfolgungsmaßnahmen müssen danach als beachtlich wahrscheinlich angesehen werden. Zwar steht nicht zu erwarten, dass der iranische Staat jeden vom islamischen Glauben abgefallenen und zum christlichen Glauben übergetretenen Staatsangehörigen verfolgen wird. Aufgrund der Willkür des iranischen Regimes ist aber nach der Auffassung des Gerichts bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Falle einer nicht verheimlichten Religionsausübung jedenfalls in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle mit der Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass im Iran Folter bei Verhören, in der Untersuchungs- und in regulärer Haft vorkommt. Es gibt im Iran auch weiterhin willkürliche Festnahmen sowie lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil.

Der Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG kommt dem Kläger schließlich auch deswegen zu, weil das Gericht von der Ernsthaftigkeit seines Übertritts zum christlichen Glauben überzeugt ist. Der Kläger hat sowohl schriftlich als auch in der mündlichen Verhandlung seine persönlichen Beweggründe dargelegt und glaubhaft seine Entwicklung hin zum christlichen Glauben sowie seine Aktivitäten für die Glaubensgemeinschaft dargelegt.

Es ist auch davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seine bisher aufgenommene christliche Betätigung weiterführen wird. Aus der Art seines Vortrages ist deutlich geworden, dass es sich bei dem christlichen Glauben und seiner Verbreitung um eine Herzensangelegenheit des Klägers handelt, die eine zentrale Rolle in seinem Leben spielt.