VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 24.04.2008 - 10 A 482/07 - asyl.net: M13628
https://www.asyl.net/rsdb/M13628
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Oppositionelle, Auslandsvertretung, Ankettungsaktion, Medienberichterstattung, Folgeantrag, Änderung der Sachlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Soweit der Kläger sein Klagebegehren aufrecht erhält, führt die Klage zum Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Islamischen Republik Iran.

Der Kläger hat seine Teilnahme an der "Ankettungsaktion" vom 16. Februar 2006 vor dem Generalkonsulat der Islamischen Republik Iran in Hamburg mit dem bei der Beklagten am 22. März 2006 eingegangenen Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20. März 2006 und somit innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 71 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG geltend gemacht.

In der Teilnahme an diesen beiden "Ankettungsaktionen" liegt auch eine Änderung der Sachlage, welche der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG im Bescheid vom 20. November 2003 zugrunde lag (§ 71 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Nunmehr besteht nämlich eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran deshalb strafrechtliche Verfolgung und dabei unmenschliche Behandlung droht; hiervor ist er zu schützen.

Die Gefährdung von iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung stellt sich für das Gericht in Auswertung der hierzu in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen im Grundsatz wie folgt dar:

Das im Iran herrschende Regime hat in der Bundesrepublik Deutschland ein weit verzweigtes Agenten- und Spitzelnetz aufgebaut, über das systematisch Informationen über hier lebende Regimegegner gesammelt werden (vgl. die Lageberichte des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran - zuletzt vom 18. März 2008 [Stand: Februar 2008] -; Auskünfte des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 28.06.1994, 16.04.1996, 13.06.1997, 01.10.1997, 04.01.1999, 09.12.1999, 21.01.2000 und vom 23.08.2000; Stellungnahmen von amnesty international vom 11.09.1997, 12.09.1997, 06.07.1999 und 11.01.2000 sowie des Deutschen Orient-Instituts vom 30.04.2001 und 27.06.2001). Danach führt der iranische Geheimdienst u.a. V-Leute und Informanten innerhalb der oppositionellen Gruppierungen, die in der Vergangenheit umfassend über die Aktivitäten, Anhänger und politischen Vorgehensweisen der jeweiligen Organisationen berichtet haben. Bereits die einmalige Teilnahme eines Iraners an einer oppositionellen Demonstration kann demzufolge ausreichen, um vom iranischen Geheimdienst namentlich erfasst zu werden.

Geht somit das Gericht davon aus, dass iranische Stellen durch Agenten und Spitzel die oppositionellen Exilgruppen umfangreich bespitzeln und ausforschen, so bedeutet dies doch nicht, dass eine Gefahr für Teilnehmer an exiloppositionellen Veranstaltungen und Aktionen unterschiedslos bestünde. Nach der Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (vgl. z.B. die Auskünfte vom 04.01.1999, 23.08.2000 und 01.03.2001) sieht der Iran grundsätzlich alle oppositionellen Gruppen im Exil sowie regimekritische Einzelpersonen als potentielle Bedrohung an, wobei es zunächst unerheblich sei, welche Bedeutung diesen Gruppen im breit gefächerten Spektrum oppositioneller Kräfte zukomme. Allerdings sei der Grad der Ausforschung oppositioneller Tätigkeiten um so höher, je größer der Umfang der oppositionellen Aktivitäten sei; der Verfolgungsdruck sei bei den Organisationen am größten, die aufgrund von Guerillatätigkeiten im Iran als terroristisch eingestuft würden. Dagegen sei die bloße, wenn auch regelmäßige Teilnahme an politischen Veranstaltungen ohne Wahrnehmung herausgehobener Funktionen für die iranischen staatlichen Stellen ohne Relevanz.

In die gleiche Richtung gehen die Einschätzungen des Deutschen Orient-Instituts (vgl. dessen Stellungnahmen vom 17.06.1996, 31.03.1998, 28.01.1999, 04.10.2000 und 30.04.2001). Danach reichen untergeordnete und vereinzelte Erscheinungsformen regimekritischen Verhaltens im Ausland für sich genommen regelmäßig nicht dazu aus, das gezielte Interesse iranischer Verfolger zu erwecken. Auch wenn die Ausforschung exilpolitischer Aktivitäten durch den iranischen Geheimdienst als Faktum angenommen werde, sei bei der Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, welche Opposition der Iran für bedrohlich halte. Schließlich hängt auch nach der Einschätzung von amnesty international (vgl. Stellungnahmen vom 18.12.2000 und 15.03.2001) die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei exilpolitischer Betätigung davon ab, welche Auswirkungen auf die innere Stabilität des Iran den Aktivitäten von den iranischen Stellen beigemessen werden.

Die ins Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen sprechen weiterhin relativ übereinstimmend davon, dass exilpolitische Aktivitäten - jedenfalls außerhalb von Gruppierungen, die aktiv auf den Sturz des gegenwärtigen iranischen Systems hinarbeiten - nur dann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungsgefahr führen, wenn die einzelne Person nicht nur einfaches passives Mitglied ist, sondern sich in gewisser Weise exponiert (vgl. z.B. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 05.09.2000 und 16.11.2000; Stellungnahmen des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 23.08.2000 und 11.12.2000; Stellungnahmen des Deutschen Orient-Instituts vom 27.06.2001 und 26.05.2003). Diese Auffassung legen auch die für Verfahren iranischer Asylbewerber zuständigen Richter des Verwaltungsgerichts Hamburg seit geraumer Zeit in ständiger Rechtsprechung zugrunde. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erachtet in seinen Stellungnahmen vom 23.08.2000 und 11.12.2000 z.B. die Wahrnehmung von Führungs- oder Funktionsaufgaben in einer gegen das iranische Regime tätigen Exilorganisation (insbesondere als Vorstandsmitglied) und die Teilnahme an Veranstaltungen, die führenden Mitgliedern der Organisation vorbehalten sind, als Beispiele für exponierte oppositionelle Betätigung. Auch das Verlesen von Botschaften als Repräsentant einer oppositionellen Vereinigung auf größeren Demonstrationen kann hierzu gerechnet werden (vgl. Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts vom 27.06.2001).

Gemessen hieran drohen dem Kläger wegen seiner vorgetragenen und durch verschiedene Urkunden nachgewiesenen Teilnahme an zwei "Ankettungsaktionen" vom 16.Februar 2006 vor dem iranischen Generalkonsulat in Hamburg und vom 20. Februar 2007 vor der iranischen Botschaft in Berlin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren im Iran. Er hat sich hiermit zur Überzeugung des Gerichts im dargelegten Sinne hervorgehoben exilpolitisch gegen das iranische Regime betätigt.

Das Gericht hält an der dem Prozessbevollmächtigten des Klägers sowie der Beklagten bekannten und vom Gericht in das vorliegende Verfahren eingeführten Rechtsprechung der Kammer zu "Ankettungsaktionen" iranischer Staatsangehöriger (z.B. Urteil v. 13.12.2005 - 10 A 643/03 Urteil v. 16.1.2007 - 10 A 97/05 -; Urteil v. 14.3.2007 - 10 A 1425/04 -) fest.