VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 16.04.2008 - 3 E 1276/07.A - asyl.net: M13629
https://www.asyl.net/rsdb/M13629
Leitsatz:
Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, religiös motivierte Verfolgung, Übergriffe, Schikanen, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Musharraf, politische Entwicklung, Drittstaatenregelung, Luftweg, Reiseweg, Glaubwürdigkeit, Schlepper
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 2; AsylVfG § 26a
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Beklagte ihn als Asylberechtigten im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG anerkennt und feststellt, dass bei ihm die Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Diese Einschätzung ergibt sich vor dem Hintergrund der allgemeinen minderheitsfeindlichen Situation in Pakistan, insbesondere aus den Schilderungen, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung über seine Erlebnisse in Pakistan abgegeben hat.

Der Kläger war bei seiner Ausreise 14 Jahre und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 16.04.2008 15 Jahre alt. Bei diesem Lebensalter ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Erinnerungen vorhanden sind, gleichwohl hat der Kläger sowohl in der Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, als auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung sein politisches Verfolgungsschicksal in Pakistan anschaulich und widerspruchsfrei geschildert. Der Kläger ist Ahmadi und praktiziert entsprechend seine Religion, wozu das Beten, als auch der Besuch der Moschee gehören.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung Ereignisse geschildert, die etwa ein halbes Jahr vor seiner Ausreise von ihm datiert worden sind. Insoweit sind die täglichen Schikanen, Beschimpfungen und Ähnliches eskaliert, als der Kläger im Oktober 2006 vor Beginn des eigentlichen Unterrichtes vor allen Schülern beten sollte. Dies hat er auch gemacht, als Ahmadi ist ihm jedoch der Vorwurf gemacht worden, dass er dies nicht dürfe, da er kein richtiger Moslem sei. Es blieb jedoch nicht bei diesen Vorfällen und Beschimpfungen, sondern der Kläger wurde massiv von dem Lehrer geschlagen, hierbei hat er auch die anderen Kinder aufgefordert, dass diese ihn, den Kläger, töten sollten, um somit unmittelbar in das Paradies zu kommen. Am nächsten Tag seines Schulbesuchs ist der Kläger erneut beschimpft, bespuckt und geschlagen worden, das hat insoweit eskaliert, als er beim Verlassen der Schule auf den Kopf geschlagen wurde, was zu einer Platzwunde geführt hat. Sein Vater, der ihn regelmäßig von der Schule abgeholt hat, hat versucht, diese Verletzung in einem Krankenhaus behandeln zu lassen, eine Behandlung wurde jedoch verweigert, da eine entsprechende polizeiliche Anzeige nicht vorliegen würde, diese ist jedoch von der Polizei verweigert worden. Dementsprechend ist der Kläger in einer Privatklinik behandelt worden. Der Kläger hat sodann den Schulbesuch abgebrochen, obwohl er seine Bildung weiter fortsetzen wollte. Auch der Besuch seines Vaters bei dem Schulleiter mit der Bitte, ihm Schutz angedeihen zu lassen, ist abgelehnt worden, ein solcher Schutz sei nicht möglich, der Kläger könne jedoch seinen Glauben aufgeben. Auf entsprechende Frage in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger gesagt, dass ihm dies in keinster Weise vorstellbar gewesen wäre, selbst bei der Vorstellung, dass dann Schwierigkeiten aufhören würden. Als der Kläger erkrankt ist und mit seiner Mutter zum Arzt fahren wollte, erfolgte der nächste massive körperliche Übergriff gegen ihn. Um alldem zu entgehen ist die Familie dann an einen anderen Ort gezogen, als sich auf entsprechende Befragung herausgestellt hat, dass sie dem ahmadischen Glauben angehören würden, sind sie aus dieser Wohnung vertrieben worden und in das Heimatdorf zurückgekehrt. Eines Tages hat sich eine Menge vor dem Haus versammelt, die ihn töten wollten. Der Kläger ist durch die rückwärtige Tür jedoch entkommen, diese Personen sind in das Haus eingedrungen und haben seine dort anwesende Mutter und Schwester massiv beschimpft. All dies hat dazu geführt, dass der Vater des Klägers beschlossen hat, dass dieser aufgrund der nicht abwägbaren Gefahren sein Heimatland verlassen sollte. Mit Hilfe des Bekannten eines Freundes ist er sodann in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Es kann im Rahmen der notwendigen Prognose auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Situation für den Kläger als gläubigen Ahmadi-Muslim in absehbarer Zeit ändern wird. Denn entgegen ersten Hoffnungen hat sich auch unter Staatspräsident Musharraf keine positive Entwicklung für die Ahmadis ergeben.

Nichts geändert hat sich auch an den immer wieder zu beobachtenden Gewaltaufrufen orthodoxer Mullahs und an der allenfalls begrenzten Schutzbereitschaft pakistanischer Behörden und insbesondere der Polizei, wenn Ahmadis Opfer von Übergriffen zu werden drohen oder geworden sind. So wurden nach den Morden an Ahmadis am 30.10.2000 in Ghatalian Khurt und am 10.11.2000 in Takht Hazara ernsthafte polizeiliche Ermittlungen zur Ergreifung der teilweise sogar bekannten Straftäter offensichtlich nicht bzw. nur schleppend aufgenommen, wenn auch inzwischen einzelne Verdächtige festgenommen worden sein sollen (AA, Auskunft vom 07.02.2001 an VG Leipzig). Die vor der Bedrohung alarmierte Polizei griff erst ein, als die Angriffe vorüber waren (ai News Service vom 01.11. und 13.11.2000). Amnesty international warf der pakistanischen Militärregierung daraufhin vor, sie fördere religiöse Gewalt und trage mit ihrem Verhalten zu einem Klima bei, in dem sich militante Islamisten ermutigt fühlen können, die Angehörigen religiöser Minderheiten zu drangsalieren, zu attackieren und zu töten. Die beiden Mordattacken seien der Höhepunkt von seit Wochen anhaltender Drangsalierungen und Einschüchterungen. Dabei seien Ahmadiyya-Gräber geschändet, Ahmadis auf dem Weg zu ihren Sakralräumen bedroht und mit Äxten und Stichwaffen getötet worden. Bei amnesty international seien im vergangenen Jahr von religiösen Minderheiten mehr als 100 Beschwerden über Drangsalierungen eingegangen (s.a. ai vom 01.05.2001: Insufficient protection of religious minorities in Pakistan).

Auch bei dem Brandanschlag auf eine Gebetsstätte der Ahmadis in Syedwala nahe Sheikhupura Ende August 2001 geschah wenig, um die fanatischen Moslems an dem Überfall zu hindern. Immerhin wurden allerdings die betroffenen Ahmadi-Familien vorher gewarnt und konnten sich selbst in Sicherheit bringen (vgl. Dawn v. 28.08.2001).

Durch die klare Unterstützung der USA nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001 hat Musharraf nach außen hin im Herbst 2001 erneut seine Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen bekräftigt (vgl. FR vom 16.01.2002).

Andererseits hat er sich im eigenen Land damit aber auch zahlreiche Gegner geschaffen, gegen die er sich zwar zunächst durchsetzen konnte (FAZ v. 28.01.2002), die ihm aber mit der Stärkung der islamischen Parteien bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2002 doch einen deutlichen Denkzettel erteilt haben (vgl. Der Spiegel vom 14.10.2002). Formal mag dann mit der Vereidigung Musharrafs als Präsident die Militärherrschaft beendet worden sein (vgl. FR v. 18.11.2002); eine endgültige Rückkehrzur Demokratie ist damit aber schwerlich verbunden. Vielmehr ist der Einfluss islamistischer Kräfte bei Nachwahlen erneut gewachsen (vgl. FR v. 17.01.2003), so dass Musharraf weiterhin einen schwierigen Balanceakt zwischen innen- und außenpolitischen Belangen vor sich hat. Dies gilt erst recht seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Premierminister Zafarulluh Jamali, Chaudhry Shujaat Hussein und jetzt Shaukat Aziz. Auch sie stehen in der Tradition der religiös-islamischen Parteien, so dass von ihnen keine weiterreichenden Reformen im Sinne einer Liberalisierung Pakistans erwartet werden können.

Vor diesem Hintergrund ist mit einer grundlegenden Verbesserung der Situation von Ahmadis in Pakistan nicht zu rechnen, so dass der Kläger auch nicht hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung wäre.

Schließlich scheitert die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG auch nicht daran, dass etwa davon auszugehen wäre, dass er auf dem Landweg und damit über einen sicheren Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG eingereist wäre. Zwar konnte der Kläger keine Reiseunterlagen vorlegen; der Kläger hat jedoch schon beim Bundesamt und dann nochmals in der mündlichen Verhandlung umfassend erläutert, dass er mit Hilfe eines Schleppers nach Frankfurt gekommen ist und der Schlepper sämtliche Reiseunterlagen einbehalten habe. Es ist auch durchaus nachvollziehbar, dass dem Kläger selbst von dem Schlepper keine Reiseunterlagen überlassen worden sind, denn dies könnte leicht dazu führen, dass die Schlepper ergriffen und strafrechtlich belangt werden könnten. Anhand der sonstigen geschilderten Einzelheiten hat das Gericht sich aber trotz allem die nötige Überzeugung bilden können, dass die Einreise auf dem Luftweg und nicht etwa auf dem Landweg erfolgt ist. Dabei ist es ohnehin nicht so, dass den Asylbewerber eine Beweisführungspflicht für die Einreise auf dem Luftweg trifft; vielmehr muss das Gericht nur die von den Asylbewerbern gemachten Angaben und die evtl. Entziehung von Beweismitteln im Rahmen seiner richterlichen Überzeugungsbildung, wie viele andere Umstände auch, im Asylverfahren würdigen (siehe BVerwG, Urteil vom 29.06.1999, 9 C 36.98 = NVwZ 2000, S. 81 = DVBI. 2000, S. 414).