VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.06.2008 - 36 X 4.08 - asyl.net: M13643
https://www.asyl.net/rsdb/M13643
Leitsatz:

Weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr wegen exponierter exilpolitischer Betätigung für die PKK (hier: Beteiligung an Besetzung des Israelischen Generalkonsulats 1999).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Beweislast, exilpolitische Betätigung, Kurden, PKK, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Besetzungsaktion, Auslandsvertretung, Medienberichterstattung, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Politmalus, Folter, Reformen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr wegen exponierter exilpolitischer Betätigung für die PKK (hier: Beteiligung an Besetzung des Israelischen Generalkonsulats 1999).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ist zu Unrecht erfolgt, die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.

Einen den Widerruf rechtfertigenden Sachverhalt hat die insoweit beweisbelastete Beklagte weder ausreichend dargetan noch ist ein solcher ersichtlich. Ausweislich der gerichtlichen Entscheidung vom 24. November 2004 wäre der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei seiner Rückkehr in die Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen, da er von den türkischen Sicherheitskräften im Zusammenhang mit seinen in Deutschland entfalteten politischen Aktivitäten als exponierter Regimegegner, der sich in besonderem Maße aktiv gegen den türkischen Staat und für die von der PKK verfolgten terroristischen und separatistischen Ziele engagiert hat, angesehen würde und auch eine Identifizierung seiner Person ohne weiteres möglich war. Demgegenüber hat die Beklagte in dem angegriffenen Widerrufsbescheid ausgeführt, eine politische Verfolgung des Klägers könne nunmehr im Hinblick auf die veränderte Situation in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, zumal der Kläger nicht vorgetragen habe, sich seit März 2003 noch exilpolitisch - insbesondere herausragend - betätigt zu haben. Mit dieser Einschätzung verkennt die Beklagte sowohl die spezielle Situation des Klägers als auch die augenblickliche Lage in der Türkei.

Eine Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung bei einer Rückkehr in die Türkei, kommt nur bei politisch exponierten Personen in Betracht (OVG Berlin, Urteil vom 25. September 2003 - OVG 6 B 8.03), Nur derjenige, der politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus hinwirkt und damit Einfluss insbesondere auf seine hier lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der Sicht des türkischen Staates ein ernstzunehmender politischer Gegner, den es zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen gilt (Urteil vom 25. September 2003, a.a.O., amtlicher Abdruck, S. 14).

Den türkischen Stellen ist im Übrigen bekannt, dass die Aktivitäten vielfach in erster Linie der Förderung des Asylverfahrens in Deutschland dienen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. September 1999 an VG Kassel, A IX 47 b; amnesty international, Gutachten vom 27. Juli 1999 an das VG Oldenburg, A IX 38). Das Interesse des türkischen Staates gilt daher nicht der Masse der Teilnehmer und Mitläufer, sondern dem Personenkreis, der als Auslöser solcher Aktivitäten und als Organisator von derartigen Veranstaltungen, als Anstifter oder Aufwiegler angesehen wird (OVG Berlin, Urteil vom 25. September 2003, a.a.O.).

Das Risiko politischer Verfolgung ist aber nicht zwangsläufig auf diesen Personenkreis beschränkt. Wann sich die konkrete Betätigung deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt und ein Gewicht hat, das den Betreffenden aus der Sicht des türkischen Staates als ernst zu nehmenden oder jedenfalls zu bekämpfenden Gegner erscheinen lässt, bedarf einer sorgfältigen Würdigung und Gewichtung des Einzelfalles. Auch eine nach den oben dargelegten Maßstäben an sich gering profilierte exilpolitische Tätigkeit kann unter bestimmten Voraussetzungen die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit tragen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 64; OVG Beschluss vom 20. August 2004 - OVG 6 N 21.04 - S. 2). In diesem Zusammenhang ist einerseits zu berücksichtigen, dass auch eine Vielzahl von ihrem sachlichen Gehalt nach niedrig profilierten Aktivitäten einer exilpolitischen Tätigkeit nicht allein deshalb ein hinreichendes Gewicht verleiht, weil sie zum Gegenstand der Berichterstattung in den Medien gemacht worden ist (vgl. dazu VGH Mannheim, Urteil vom 27. Juli 2001 - A 12 S 228/99 -, zitiert nach juris). Insoweit können quantitative nicht in qualitative Gesichtspunkte umschlagen. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass sich der Betreffende aus der Sicht des türkischen Staates durch Tätigkeiten exponiert, denen in anderem Zusammenhang womöglich eine nur untergeordnete Bedeutung zukäme, die aber für den türkischen Staat aufgrund besonderer Umstände von herausragender Bedeutung sind (VG Berlin, Urteil vom 17. Februar 2003 - VG 36 X 541.95, S. 14; ebenso zum letzteren Gesichtspunkt OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 63). Die spektakulären Besetzungen der Generalkonsulate Griechenlands und Israels im Februar 1999 durch Anhänger Abdullah Öcalans, über die in allen europäischen und türkischen Medien berichtet worden ist, stellen nach ständiger Rechtsprechung der Kammer ein derartiges Ereignis dar. Dass diese Vorgänge auch im Mittelpunkt türkischer Interessen an der Ermittlung und Verfolgung von Einzelpersonen gestanden haben, wird durch das Schreiben des türkischen Generalkonsulats in Leipzig vom 3. Juni 1999 an den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Leipzig belegt, in dem das Konsulat die erbetenen Informationen über Prozesse gegen Besetzer des griechischen Konsulats in Leipzig als "für unsere Regierung von äußerster Wichtigkeit" einstuft (vgl. Anhang zur Anfrage des VG Berlin vom. 22. Juli 1999 an die Präsidenten des Landgerichts Berlin und des Amtsgerichts Tiergarten von Berlin, IX 46). Voraussetzung für die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit ist freilich auch in diesem Zusammenhang, dass der Asylsuchende für den türkischen Staat als Aktivist eindeutig identifizierbar hervorgetreten ist (vgl VG Berlin, Urteil vom 27. Juni 2002 - VG 36 X 682.96 -, S. 11 f. [dort verneint]; Urteil vom 13. März 2003 - VG 36 X 303.98 -, S. 7 f. [dort bejaht]; Urteil vom 11. September 2003 - VG 36 X 416.96 -, S. 12 [dort verneint]). Dies kann hier nach den gesamten Umständen angenommen werden: ...

Dementsprechend wird der türkische Staat den Kläger als Anhänger der PKK einstufen und möglicherweise strafrechtlich oder auch mit illegalen Mitteln gegen ihn vorgehen. Dass die o.g. Vorgänge mittlerweile einige Jahre zurückliegen, hat die Verfolgungsgefahr noch nicht entfallen lassen, zumal die Türkei nach wie vor mit allen Mitteln gegen Mitglieder und Anhänger der PKK vorgeht. Bei der Verfolgung vermeintlicher Unterstützer der PKK beschränkt sich die Türkei nach Auffassung der Kammer nicht auf rechtsstaatliche Mittel, sondern greift auf rechtsstaatswidrige Methoden zurück und wendet ein überhartes Strafmaß an oder greift innerhalb des Strafverfahrens zu rechtsstaatswidrigen Mitteln wie Geständnissen, die unter Folter zustande gekommen sind (sog. Politmalus). Eine solche Behandlung stellt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. zuletzt den Beschluss vom 12. Februar 2008 im Verfahren 2 BvR 2141/06) politische Verfolgung dar. Nach ihrer ständigen Rechtsprechung ist die Kammer der Auffassung, dass die Reformen in der Türkei noch nicht zu einer solch nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage geführt haben, dass früher von Verfolgung Bedrohte bei ihrer Rückkehr nur mit rechtsstaatlicher Behandlung zu rechnen hätten. Nach den der Kammer vorliegenden Materialien, insbesondere dem Gutachten von Oberdiek vom Januar 2006 zur Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, besteht insbesondere nach wie vor die Gefahr, dass Verurteilungen auf Grund von Aussagen zustande kommen, die unter Folter erlangt wurden. Auch nach dem Fortschrittsbericht der Europäischen Union vom 6. November 2007 besteht noch die Gefahr von Verurteilungen, bei denen unter Folter zustande gekommene Aussagen verwendet werden. Ferner bestätigt der Fortschrittsbericht das Vorkommen extralegaler Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, gerade auf ländlichen Polizeistationen ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistandes oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In dem Bericht wird außerdem moniert, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt, wie die Entlassung des Staatsanwalts zeige, der im Fall Semdinli ermittelt habe. Auch die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeige, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. Im Berichtszeitraum habe der EGMR die Türkei in 330 Fällen wegen der Verletzung von Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren im Zeitraum 1. September 2006 bis 31. August 2007 sei höher als im selben Zeitraum des Vorjahres. Mehr als zwei Drittel der Verfahren beträfen die Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren und die Verletzung von Eigentumsrechten. In einer Anzahl von Fällen werde aber auch die Verletzung des Rechts auf Leben und Verstoß gegen das Folterverbot geltend gemacht. Eine bemerkenswerte Anzahl von Entscheidungen sei von der Türkei auch noch nicht umgesetzt worden. Bei den offiziellen Menschenrechtsausschüssen seien 2006 mehr Beschwerden eingegangen als im vorangegangenen Jahr. Der Abnahmetrend von Folterfällen halte an, jedoch werde nach wie vor von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen. Zwar sei die Verwendung von Aussagen, die in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes zustande gekommen sind, und nicht vor einem Richter bestätigt wurden (d.h. bei denen häufig Misshandlung im Spiel war), nach der Strafprozessordnung verboten, jedoch habe der Kassationsgerichtshof entschieden, dass diese Vorschrift nicht auf zurückliegende Fälle Anwendung findet. So hätten in einigen Fällen niedrigere Instanzen sich auf solche Beweismittel gestützt, bei denen der Angeklagte geltend gemacht hatte, bei ihrer Erlangung sei misshandelt worden. Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen bleibe ein problematischer Bereich. Es fehle an schnellen und unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Im Gegenteil würden solche Verfahren eher verschleppt, die Täter blieben daher straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbiete, ereigneten sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden. Der Zugang zu Anwälten nach der Festnahme sei zwar in den Städten weitgehend gewährleistet, nicht aber in ländlichen Gebieten, vor allem nicht im Südosten des Landes. In den Gefängnissen gebe es einige Probleme wie Überfüllung und unzureichende Gesundheitsversorgung. Vor allem öffneten sich die zivilen und militärischen Gefängnisse (wie auch sonstige Einrichtungen, in denen Menschen festgehalten würden) nicht unabhängigen Beobachtern, die überprüfen könnten, ob das Folterverbot eingehalten wird (wie es im optionalen Protokoll der Konvention gegen die Folter gefordert wird). Die Anklagen und Verurteilungen wegen gewaltloser Meinungsäußerungen seien ferner ein Objekt ernsthafter Besorgnis. Die Zahl der deswegen angeklagten Personen habe sich 2006 im Vergleich zu 2005 verdoppelt und sei im Jahre 2007 weiter angestiegen. Die restriktive Rechtsprechung des Kassationshofes und die andauernden Verfolgungen hätten zu einem Klima der Selbstzensur geführt. Die Haltung der Türkei zu Minderheiten-Rechten sei unverändert. Nur die im Vertrag von Lausanne von 1923 aufgeführten Minderheiten (Juden, Armenier, Griechen) würden als solche anerkannt. Die Türkei müsse aber Sprache, Kultur, Religion, Versammlungsfreiheit und andere Rechte für alle Minderheiten anerkennen. Auf diesem Gebiet habe die Türkei keine Fortschritte gemacht. Vor diesem Hintergrund besteht auch die dem Kläger bei der Ausreise drohende Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit fort.