VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 21.05.2008 - 1 A 445/06 - asyl.net: M13660
https://www.asyl.net/rsdb/M13660
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen drohender Retraumatisierung bei Rückkehr ins Kosovo.

 

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Aufenthaltserlaubnis, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, fachärztliche Stellungnahmen, Glaubwürdigkeit, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen drohender Retraumatisierung bei Rückkehr ins Kosovo.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat Erfolg.

Die durch den Beklagten verfügte Ablehnung im Bescheid vom 12. Oktober 2006 - soweit von der Klägerin zum Klagegegenstand gemacht - ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden soll, wenn ihm dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin zur Überzeugung der Kammer erfüllt.

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben.

Nach diesen Kriterien und Abgrenzungen liegt in der Person der Klägerin ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Serbien/Kosovo vor.

Zwar kann dies nicht auf die durch haus- und fachärztliche Atteste belegten körperlichen Erkrankungen der Klägerin (Hypertonie, Hyperthyreose, Herz- und Kopfschmerzen, Gastritis, LWS-/HWS-Leiden, Migräne) gestützt werden. Denn solche Krankheiten sind nach dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 29. November 2007 (S. 18 ff.) im Kosovo behandelbar, und die benötigten Medikamente und Physiotherapie stünden der Klägerin auch als Angehöriger der ethnischen Minderheit der Roma dort zur Verfügung.

Indessen folgt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot wegen konkreter erheblicher Gefahr für Leib und Leben der Klägerin im Kosovo aus der psychischen Erkrankung der Klägerin.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Klägerin an einer ptBS nach Traumatisierung leidet, die ihre Ursache in Ereignissen und Erlebnissen im Herkunftsstaat Kosovo findet und die bei einer Rückkehr dorthin Retraumatisierung und Suizidalität der Klägerin hervorrufen würde. Auf die Frage einer Behandelbarkeit der Erkrankung durch Psychotherapie im Kosovo allgemein und individuell im Fall der Klägerin kommt es daher nicht an.

Zur Überzeugung der Kammer ergibt sich aus den Aussagen der sachverständigen Zeugin Dr. med. ... in der mündlichen Verhandlung, mit denen sie ihre in der Gerichtsakte befindlichen fachärztlichen Stellungnahmen vom 27. Mai 2006, 28. April 2007 und 6. Oktober 2007 erläutert, präzisiert und ergänzt hat, dass die Klägerin an einer ptBS leidet. Als Fachärztin für psychotherapeutische Medizin behandelt Dr. ... die Klägerin seit Juli 2005.

Die fachärztlichen Stellungnahmen in ihrer erläuterten Fassung enthalten neben einer Darstellung der Krankheitsvorgeschichte und der für ptBS typischen Symptome eine Schilderung der eigenen Befunderhebung unter Einbeziehung somatischer Befunde anderer Ärzte (Exploration), eine Identifikation traumaauslösender Ereignisse und eine eindeutige Diagnose der ptBS durch die Fachärztin sowie Angaben zur derzeitigen gesprächspsychotherapeutischen Behandlung und zur Prognose. Sie entsprechen damit den Anforderungen an einen Nachweis dieser psychischen Erkrankung.

Der gegen ärztliche Stellungnahmen bei einer ptBS immer wieder - so auch vom Beklagten - vorgetragene Einwand, gegen eine ptBS spreche bereits, dass die betreffenden Probleme erst Jahre nach den angeblich traumaauslösenden Erlebnissen vorgebracht werden, überzeugt nicht. Der pauschale Einwand, die Symptome einer ptBS würden in der Regel innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach den traumatisierenden Erlebnissen auftreten, trifft bereits in dieser Allgemeinheit nicht zu. Vielmehr ist es wegen unterschiedlichster Umstände sehr wohl möglich, dass die entsprechenden Symptome erst wesentlich später detailliert auftreten und entsprechend diagnostiziert werden. Dies kann von vielen Faktoren abhängen, die bei der psychotherapeutischen Diagnose und einer eventuell nachfolgenden Therapie abgeklärt und beachtet werden müssen. Insbesondere ist eine Aufklärung dahingehend notwendig, auf welchen Ursachen die erst später aufgetretenen Symptome einer ptBS beruhen und welche Konsequenzen daraus für die zu treffende Diagnose und Therapie folgen.

Den vorliegend vom Beklagten und vom Bundesamt konkret erhobenen Einwand, die Stellungnahmen Dr. ... ließen eine Begründung dafür vermissen, warum sich die Klägerin erst mehrere Jahre nach der Flucht aus der Heimat wegen ihrer Beschwerden in fachärztliche Behandlung begeben hat, vermag die Kammer insbesondere nach der Vernehmung Dr. ... in der mündlichen Verhandlung nicht zu teilen. Denn die Fachärztin legt im Rahmen der Krankheitsgeschichte bereits in ihrer Stellungnahme vom 27. Mai 2006 (Bl. 24 f. der Gerichtsakte) dar, dass die Klägerin offenbar bald nach der Einreise immer wieder Ausnahmezustände erlitten habe, "wenn [sie] in Gedanken [versank]". Allerdings habe die Klägerin zunächst eine organische Ursache der von ihr wahrgenommenen Beschwerden vermutet und sich deshalb zunächst wegen der verschiedenen körperlichen Symptome in Behandlung - z.T. stationär - begeben. Eine Psychotherapie sei der Klägerin - auch aus kulturellen Gründen - zunächst nicht als Behandlungsmethode bekannt gewesen.

Es erscheint plausibel, dass erst, nachdem diese Beschwerden offenbar mit den Methoden rein somatischer Medizin nicht beseitigt werden konnten, - wenngleich verzögert - eine psychotherapeutische Behandlung begonnen wurde. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat erklärt, dass die Klägerin erst auf Anraten seiner Kanzlei nach dem Erstgespräch in psychotherapeutische Behandlung gekommen sei. Dies alles spricht für einen bei ptBS typischen Verlauf des Krankheits- und Behandlungsweges und gibt daher für die Kammer ebenfalls keinen Anlass dafür, von einer Widersprüchlichkeit der fachärztlichen Stellungnahmen und Zeugenaussagen von Dr. ... auszugehen, die der Diagnose ptBS entgegenstünde.

b) Dr. ... ist aufgrund ihrer mehr als zweijährigen gesprächspsychotherapeutischen Begleitung der Klägerin davon überzeugt, dass die Klägerin im Herkunftsstaat Kosovo ein Trauma erlitten hat.

Soweit die Klägerin dabei Reihenfolgen, genaue Zeitpunkte und Personengruppen nicht bei jeder Befragungssituation zuordnen kann, stellt dies nicht in Frage, dass diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben.

d) Dr. ... hält angesichts der Schwere des Krankheitsbildes eine Gesprächspsychotherapie für erforderlich.

Dass Dr. ... parallel zur Psychotherapie selbst keine medikamentöse Behandlung der Klägerin mit Psychopharmaka verordnet hat (vgl. Stellungnahmen vom 28. April 2007 [Bl. 3-7 der Gerichtsakte] und vom 6. Oktober 2007 [Bl. 40 der Gerichtsakte]), spricht weder gegen die Diagnose einer schweren ptBS noch gegen die Erforderlichkeit der Therapie. Denn Dr. ... hat in ihrer Vernehmung ausdrücklich und plausibel erklärt, dass sie auf eine eigene Verordnung von derartigen Medikamenten nur deshalb verzichtet habe, weil Antidepressiva (Opipramol, Doxepin) und gelegentliche Spritzen mit Neuroleptika parallel zu ihrer Therapie ohnehin weiterhin durch den Hausarzt (Dr. med. ...) verschrieben würden.

e) Nach Würdigung der fachärztlichen Beurteilungen von Dr. ... steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Klägerin ohne die notwendige Therapie und psychiatrische Behandlung in eine lebensbedrohliche Gesundheitskrise geraten würde. Dies gilt erst recht bei einer erzwungenen Rückkehr in ihr Heimatland.

Bei einer Konfrontation mit der möglichen Rückkehr der Klägerin in das Kosovo, so Dr. ... weiter, bestehe allerdings ein reales Suizidrisiko, weil dann subjektiv die Bilder der Bedrohung wieder in den Vordergrund kämen. Die Klägerin habe mehrfach ihr gegenüber erklärt, dass sie im Falle einer Rückkehr den eigenen Tod als einzigen Ausweg sehe, weil sie die Rückkehr dann nicht mehr erleben müsse. Die Fachärztin schätzt die Klägerin - die sie grundsätzlich als "starke Frau, die auch Konflikte schon bewältigt hat", bezeichnet - aufgrund ihrer Wahrnehmungen so ein, dass deren Konfliktbewältigungspotentiale im Fall einer neuerlichen Bedrohung und bei einer Rückkehr nicht mehr ausreichen werden. Der Suizid sei dann auch unter Berücksichtigung der "starken Persönlichkeitsanteile" der Klägerin, d.h. insbesondere der bei ihr intensiv ausgeprägten Familienorientierung, zu erwarten. Damit sei selbst eine Rückkehr mit der Familie in das Kosovo nicht geeignet, den Selbstmord auszuschließen.

Die Kammer schließt sich dieser Prognose an. Wenn sich die Klägerin schon in Deutschland - in einem "Schutzraum" - von den traumatischen Erlebnissen nicht lösen kann, bereits bei dem Gedanken an eine Rückkehr in Panik und Suizidalität gerät und bei diesen Anlässen die traumatisierenden Erlebnisse sie immer wieder bis hin zu akuten Ohnmachten, Herzattacken und dissoziativen Zuständen überrollen, ist diese Gefahr aufgrund der besonderen psychischen Situation der Klägerin um ein Vielfaches stärker vorhanden, wenn sie zurück in ihr Heimatland gehen müsste. Allein das Bewusstsein, wieder in dem Land zu sein, in dem die traumatisierenden Übergriffe und Erlebnisse stattgefunden haben, würde die Klägerin extrem belasten. Es ist davon auszugehen, dass es bei einer Rückkehr eine große Anzahl traumaspezifischer Auslösereize (Trigger) geben würde und sich diese Trigger bei der Rückkehr in ihr Heimatland aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin gegenüber ihrem Vorhandensein im Bundesgebiet noch steigern würden. Daraus leitet sich wieder die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen Gesundheitszustand der Klägerin ab. Deshalb spricht alles für die Schlussfolgerung, dass sich die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland in kurzer Zeit völlig aufgeben und ihr eine konkrete erhebliche Gefahrenlage für Leib und Leben drohen würde. Insbesondere kann überzeugend geschlossen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in das Kosovo dem schon jetzt vorhandenen realen Drang erliegen würde, infolge ihrer Ausweg- und Hilflosigkeit ihrem Leben ein Ende zu setzen, ohne insoweit einen hinreichenden "Schutz vor sich selbst" zu genießen.

Diese drohende psychische Dekompensation und Suizidgefahr könnten aus psychiatrischer Sicht nicht durch eine Behandlung in der Umgebung, in der multiple traumatische Erfahrungen stattgefunden haben, abgewendet werden, da "ein Vermeiden der Konfrontation mit dem Umfeld, in dem die Traumatisierung möglich gewesen ist, bei einer Rückkehr nicht möglich" wäre (Stellungnahme vom 27. Mai 2006, Bl. 26 der Gerichtsakte). Denn im Falle einer Abschiebung nach Serbien/Kosovo würde die Klägerin mit den ihre Traumatisierung auslösenden Umständen nachhaltig konfrontiert. Diesen erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahren für die sich ohnehin in einem schlechten psychischen Gesundheitszustand befindende Klägerin kann nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung - deren Verfügbarkeit und Zugänglichkeit unterstellt - begibt, in deren Rahmen eine Retraumatisierung gleich "mitbehandelt" werden könnte. Eine Behandlung von seelischen Wunden ist nämlich nur dann sinnvoll und erfolgversprechend, wenn sie nicht durch die tägliche Konfrontation mit der Umgebung und verorteten leidvollen Erinnerungen wieder neu aufgerissen werden. Es geht also nicht nur um die Sicherung der Fortsetzung eines eventuell in der Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Heilungsprozesses im Heimatstaat, sondern insbesondere auch um Schutz vor eigenständigen neuen seelischen Verletzungen. Da es nicht möglich ist, die Gefahren einer erneuten Traumatisierung der Klägerin räumlich auf die Orte, an denen die Verletzungshandlung erfolgte, oder auch regional einzugrenzen, kann die Klägerin nicht auf eine Aufenthaltsnahme an anderen Orten in Serbien/Kosovo als Alternative zur Gewährung von individuell konkretem Abschiebungsschutz verwiesen werden. Denn den Orten und Verursachern des erlittenen Grauens ähnliche Gebäude, Plätze, Landschaften, Wälder und Personen werden ihr auch andernorts begegnen und ihre traumaauslösenden Erinnerungen wachrufen (vgl. Maßstäbe des erkennenden Gerichts im Urteil vom 3. Mai 2005 - 1 A 264/04 -).

Die sich wiederholenden Einwendungen des Beklagten gegen eine hinreichende Aussagekraft der fachärztlichen Stellungnahmen und der Zeugenaussage in diesem Punkt überzeugen nicht. Der Einwand des Beklagten, dem von Dr. ... (vgl. bereits Stellungnahme vom 27. Mai 2006, Bl. 26 der Gerichtsakte) beschriebenen Trigger für eine Retraumatisierung ("Konfrontation mit Uniformierten im Kosovo") komme keine zielstaatsbezogene Dimension zu, geht fehl. Denn zum einen dürfte es nicht zutreffen, dass sich die Klägerin in Deutschland in gleicher Häufigkeit und Intensität uniformierten Personen gegenübersieht wie im Kosovo (vgl. Nds. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2007 - 11 LB 398/05 -, NVwZ-RR 2008, 280 [281]). Zum anderen hat die Konfrontation der Klägerin - deren Traumatisierung durch misshandelnde uniformierte Männer für die Kammer feststeht - mit derlei Personen im Kosovo wegen des spezifischen räumlich-situativen Kontexts und der charakteristischen Gestaltung spezifisch "triggernder" Uniformen eine völlig andere Qualität als im Bundesgebiet, so dass sich Mutmaßungen des Beklagten über die vor Ort denkbare Reaktion der Klägerin auf diesen Reiz als spekulativ erweisen.