VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 18.06.2008 - 9 ZB 07.2316 - asyl.net: M13672
https://www.asyl.net/rsdb/M13672
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Bleiberechtsregelung 2006, Erlasslage, Behinderung der Aufenthaltsbeendigung, Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung, Vorsatz, China, Chinesen, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Identität ungeklärt, Beweislast, Falschangaben, Mitwirkungspflichten, Auslandsvertretung, Integration, Aufenthaltsdauer, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Passpflicht, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Reiseausweis für Ausländer
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 23 Abs. 1; EMRK Art. 8; AufenthV § 5 Abs. 1
Auszüge:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Der Beklagte beruft sich auf ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

2. Das Zulassungsvorbringen hält die Entscheidung, den Beklagten zur Erteilung der begehrten Duldungen zu verpflichten, für falsch, weil das Verwaltungsgericht den Ausschluss des Bleiberechts aufgrund Nr. II. 6.1 des Beschlusses der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren (IMK) der Länder vom 17. November 2006 (Bleiberechtsbeschluss) nicht beachtet habe (zur Frage, ob die im Hinblick auf diesen Beschluss erlassenen Anordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG trotz § 104a AufenthG weiter gelten, der zum 28.8.2007 in Kraft getreten ist und den selben Hintergrund hat, vgl. einerseits Funke-Kaiser in GK AufenthG, RdNr. 2 zu § 104a, sowie Hailbronner, Ausländerrecht, RdNr. 1 zu § 104a, und andererseits die Hinweise des BMI zum RL-UmsetzungsG, Teil I AufenthG L Nr. I.1. sowie VGH Mannheim vom 26.11.2007 InfAuslR 2008, 85; sie ist hier unerheblich, weil zufolge Nr. 2a – vgl. nachfolgend - die hier maßgeblichen Voraussetzungen gleich geblieben sind).

a) Der Beklagte geht von einem Ausschlussgrund aus, weil er die Angaben, die die Klägerin zu 1 zum Zweck ihrer Identifizierung und ihrer Ausstattung mit Passersatzpapieren durch die chinesischen Behörden gemacht hat, für falsch hält.

Die Darlegungen des Beklagten begründen keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem angefochtenen Bescheid liege eine Fehleinschätzung des Verhaltens der Klägerin zu 1 zu Grunde und es sei kein Fall gegeben, für den die Anordnung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern (vorläufige bayerische Bestimmungen vom 21.11.2006 zur Umsetzung des Bleiberechtsbeschlusses der IMK vom 17.11.2006 – vorläufige bayerische Bestimmungen) den Ausschluss von der Altfallregelung vorsieht; diese Anordnung in Verbindung mit § 23 Abs. 1 AufenthG bildet die eigentliche Entscheidungsvorgabe für die Ausländerbehörde. Die Frage, ob das Verhalten der Klägerin zu 1 im Rahmen des Ausschlussgrundes nach Nummer II. 6.1 des Bleiberechtbeschlusses zu erörtern ist, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, kann im Hinblick auf die Identität der anzuwendenden Grundsätze offen bleiben (der Bleiberechtsbeschluss erfasst das vorsätzliche Behindern oder Hinauszögern behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung in Nr. II. 6.2). Entgegen der Annahme des Beklagten steht nicht fest, dass die Klägerin zu 1 unwahre Identitätsangaben gemacht hat.

Nach Nrn. II. 6.1 und II. 6.2 des Bleiberechtsbeschlusses, an den sich die vorläufigen Bestimmungen anlehnen, sind diejenigen Personen von einem Bleiberecht ausgeschlossen, die die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert oder behindert haben (vgl. auch § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Die vorläufigen bayerischen Bestimmungen weisen – entsprechend dem Schlussstrich-Charakter der Regelung (vgl. die Anmerkung im Bleiberechtsbeschluss) - darauf hin, dass die Täuschung oder Behinderung von einigem Gewicht gewesen sein muss (zu Nrn. II. 6.1 und II. 6.2 des Bleiberechtsbeschlusses; für einen großzügigen Maßstab auch bei der Anwendung des § 104a AufenthG - der den Bleiberechtsbeschluss ohne eine abweichende Zielsetzung in Gesetzesform fasst, vgl. BT-Drucks. 16/5065, S. 201/202 - : Hinweise des BMI zum RL-UmsetzungsG, Teil I AufenthG L Nr. I.6, sowie Hailbronner, Ausländerrecht, RdNrn. 9 ff. zu § 104a; a.A. – nur am Gesetzeswortlaut orientiert - Funke-Kaiser in GK AufenthG, RdNr. 37 zu § 104a). Dies berücksichtigt, dass eine sinnvolle Bleiberechtsregelung (also eine Regelung für Fälle langjährigen, ausländerrechtlich nicht gebilligten Aufenthalts, die neben dem Verhalten des Ausländers auch den Zeitfaktor und den Aufwand an Sozialausgaben und Verwaltungskraft in den Blick nimmt) von einem strengen Maßstab bei der Bewertung ausländerrechtlicher Pflichtenverstöße Abstand nehmen muss. Weiterhin muss nach den vorläufigen bayerischen Bestimmungen der ausländerrechtswidrige Erfolg in den Vorsatz aufgenommen sein (zu Nrn. II. 6.1); der Ausschlussgrund ist von der Ausländerbehörde nachzuweisen (zu Nr. II. 6).

Nach dem Ergebnisprotokoll über ein Arbeitsgespräch im Bayerischen Staatsministerium des Innern am 11. Januar 2007 zum Bleiberechtsbeschluss, das der Feinsteuerung der Behördenpraxis dient und daher für die am Maßstab des Art. 3 GG orientierte gerichtliche Überprüfung ebenfalls Bedeutung besitzt, soll das Bleiberecht nicht für Personen ausgeschlossen sein, die zwar in mehr oder minder vorwerfbarer Weise ihre Rückführung verhindert haben, aber im Hinblick auf ihre Integrationsbemühungen eine neue Chance verdient haben (S. 8). Die Nichtanwendung des Bleiberechtbeschlusses durch manche Ausländerbehörden, etwa wenn "nach jahrelanger Nichtmitwirkung nun plötzlich Pässe vorgelegt werden", erklärt das Staatsministerium für zu restriktiv. Im Ergebnis komme es auf eine Gesamtbetrachtung an, die nicht nur auf das Verschulden abstellt, sondern auch Integrationsanstrengungen und -perspektiven des Betroffenen berücksichtigt (S. 10). Diese Maßgaben können - im Zusammenhang mit dem Bleiberechtsbeschluss und den vorläufigen bayerischen Bestimmungen - nur so verstanden werden, dass im Grenzbereich zur schwer wiegenden und vorsätzlichen Täuschung oder Behinderung eine Abwägung gegenüber den Integrationsanstrengungen und -perspektiven zu erfolgen hat (zu den Integrationsanforderungen im allgemeinen vgl. Nr. II. 3 des Bleiberechtbeschlusses).

cc) Das Zulassungsvorbringen legt die meldetechnischen Möglichkeiten der chinesischen Behörden dar, Personen zu identifizieren, für die zutreffende Identitätsangaben an sie übermittelt werden. Der Beklagte meint, aus dem Umstand, dass auf diesem Weg die Identifizierung der Klägerin zu 1 nicht gelungen ist, ergebe sich die Unrichtigkeit ihrer Angaben.

Die Leistungsfähigkeit des chinesischen Meldewesens kann vorliegend offen bleiben. Jedenfalls bestehen Zweifel daran, dass die chinesischen Behörden das Interesse der Ausländerbehörde an einer Rückführung der Kläger teilen und ihre Auskünfte und Tätigkeiten an diesem Interesse orientieren. Angesichts dieser Zweifel kann nicht allein wegen der Mitteilung der chinesischen Behörden, dass sie keinen Erfolg gehabt haben, von einer Unrichtigkeit der Identitätsangaben der Klägerin ausgegangen werden.

In ihrer Antragserwiderung führt die Klägerin zu 1 aus, von einer Abschiebung bedrohte chinesische Staatsangehörigen erhielten von ihren Heimatbehörden in der Regel keine Identitätsnachweise oder Reisepapiere. Diese Unterlagen würden erst dann ausgestellt, wenn der chinesische Staatsangehörige nachweise, dass die Abschiebungsandrohung aufgehoben und ihm ein Aufenthaltsrecht zugestanden worden sei. Der Beklagte will dies zwar nicht allgemein gelten lassen. Auch den Äußerungen der Zentralen Rückführungsstelle Nordbayern ist jedoch mittelbar zu entnehmen, dass die Darlegungen der Klägerin zu 1 nicht vollständig von der Hand zu weisen sind. In der Stellungnahme vom 13. Dezember 2007 (Anlage zum Schriftsatz des Beklagten vom 18.12.2007) wird ausgeführt, die Ausstellung von Passersatzpapieren durch die chinesischen Behörden sei auch ohne Vorlage von Dokumenten, allein auf Grund von Identitätsangaben der Betroffenen, und auch ohne Vorlage von Zusicherungen eines Aufenthaltsrechts "durchaus möglich", setze aber wahrheitsgemäße und korrekte Angaben voraus. Gleichzeitig räumt die Zentrale Rückführungsstelle ein, dass das Verfahren zur Beschaffung von Passersatzpapieren in Zusammenarbeit mit den Auslandsvertretungen und Behörden der Volksrepublik China nicht unproblematisch ist. Sie geht jedoch nicht näher darauf ein, welcher Art diese Problematik ist, sondern stellt im Weiteren die Möglichkeiten und Erfolge der Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden in den Vordergrund. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die chinesischen Behörden Identitätspapiere ausstellen, wenn der chinesische Staatsangehörige nachweist, dass ihm ein Aufenthaltsrecht zugestanden worden ist, dass sie diese Papiere nicht ausstellen, wenn die Angaben nicht vollständig korrekt sind, und dass sich bei korrekten und vollständigen Angaben (zum Zwecke der Aufenthaltsbeendigung) das Verhalten der chinesischen Behörden nicht sicher einschätzen lässt. Dies spricht für eine mangelnde Rückübernahme-Bereitschaft der chinesischen Behörden, nicht jedoch für ein vollständiges und offensichtliches Missachten der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Übernahme der eigenen Staatsangehörigen (ähnlich die Mitteilung im Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 5. September 1995 - 514-516.80/3 CHN, Abschnitt IV.4 -, die chinesischen Regierungsbehörden zeigten erfahrungsgemäß wenig Bereitschaft, bei der Identifizierung ihrer mutmaßlichen Staatsangehörigen mitzuwirken und Identitätspapiere auszustellen; Äußerungen chinesischer Regierungsmitglieder in Rücknahmeverhandlungen mit westlichen Ländern deuteten darauf hin, dass die chinesische Regierung nur geringes Interesse an einer Rückkehr illegaler Auswanderer oder abgelehnter Asylbewerber habe; im gleichen Sinne sämtliche nachfolgenden Lageberichte des Auswärtigen Amtes bis zum Lagebericht vom 8.11.2005 Az. 508-516.80/3 CHN, Abschnitt IV.3). Bei dieser Sachlage stellt es keinen überzeugenden Beleg für eine Unrichtigkeit der Identitätsangaben der Klägerin zu 1 dar, wenn die chinesischen Behörden das Nichtgelingen der Identifizierung mitteilen.

c) Nachdem für ein vorsätzliches und schwer wiegendes Fehlverhalten der Klägerin zu 1 im Zusammenhang mit den Rückführungsbemühungen der Ausländerbehörde keine hinreichenden Anhaltspunkte vorliegen, kann offen bleiben, inwieweit ein Verstoß mit einem grenzwertigen Schweregrad durch besondere Integrationsleistungen aufgewogen wäre (vgl. hierzu Nr. 2 vor Buchst. a). Der Senat weist jedoch darauf hin, dass entgegen der Auffassung des Beklagten überdurchschnittliche Integrationsleistungen und -perspektiven vorliegen. In diesem Zusammenhang sind die Belange der Kläger zu 2 bis 4 mit zu berücksichtigen, auch wenn sie (noch) nicht als Ausländer der zweiten Generation anzusehen sind (vgl. auch § 104b AufenthG). Es widerspricht Art. 8 EMRK, wenn der Beklagte im streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid und in seinen Ausführungen diesen Belangen keine eigenständige Bedeutung zumisst (vgl. die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16.6.2005 InfAuslR 2005, 349 <Sisojeva> zur Anwendbarkeit des Art. 8 EMRK bei Ansprüchen auf Aufenthaltstitel sowie die Entscheidungen vom 26.1.1999 Az. 43279/98 <Sarumi>, vom 16.9.2004 NVwZ 2005, 1046 <Ghiban> und vom 7.10.2004 NVwZ 2005, 1043 <Dragan> zur Anwendbarkeit nach unerlaubtem Aufenthalt). Im Rahmen des Art. 8 EMRK ist von Bedeutung, ob der von der ausländerrechtlichen Maßnahme Betroffene Kinder hat, welches Alter diese haben und inwieweit die Maßnahme Auswirkungen auf das Kindeswohl hat (EGMR vom 18.10.2006 DVBl 2007, 689 <Üner>, st. Rspr.).

3. Der Beklagte führt aus, die Kläger hätten ihre Passpflicht nicht erfüllt. Auch dies zieht die angefochtene Entscheidung nicht ernstlich in Zweifel.

Der Bleiberechtsbeschluss fordert die Erfüllung der Passpflicht (Nr. II.4.4). Die vorläufigen Bestimmungen, die die Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG enthalten, konkretisieren dies dahingehend, dass "der bisher ausweislose Ausländer bereit sein muss, nunmehr fehlende Identitätsnachweise vorzulegen. In Einklang mit § 5 Abs. 1 Hs. 1 ist es selbstverständlich, dass die Aufenthaltserlaubnis von Rechts wegen nur "Zug um Zug" gegen Vorlage eines Nationalpasses erteilt werden kann" (vorläufige Bestimmungen zu Nr. II.6.1). Das Ergebnisprotokoll zum Arbeitsgespräch am 11. Januar 2007 wendet sich gegen die Praxis mancher Ausländerbehörden, den Bleiberechtsbeschluss allein deshalb restriktiv zu handhaben, weil "nach jahrelanger Nichtmitwirkung plötzlich Pässe vorgelegt werden" (vgl. 2.a vor aa). Diese Handreichung ermöglicht eine differenzierende Betrachtung auch hinsichtlich der Nichterfüllung der Passpflicht und steht in Einklang mit der Zielsetzung des Bleiberechtbeschlusses. Dieser will nur die Ausländer von der Altfallregelung ausschließen, die ihre Rückführung in gravierender Weise verhindert oder behindert haben (Anmerkung zur Einleitung des Bleiberechtbeschlusses), was auch bei der Auslegung der Nr. II.4.4. nicht unberücksichtigt bleiben kann (insoweit nicht eindeutig Funke-Kaiser a.a.O. RdNr. 71). In der wohl überwiegenden Zahl der Altfälle ist es wegen des Fehlens von Heimreisepapieren nicht zu einer Rückführung gekommen. Bei einer strikten Handhabung des Passpflicht-Erfordernisses würde das mit der Bleiberechtsregelung beabsichtigte Ziehen eines Schlussstrichs auch in den Fällen scheitern, in denen zwar eine Behinderung der Aufenthaltsbeendigung vorliegt (eine jahrelange Nichterfüllung der Ausreisepflicht liegt ohnehin stets vor), diese aber nicht schwer wiegt und deshalb durch die Nrn. II. 6.1 und II. 6.2 nicht erfasst werden soll.

Der Klägerin zu 1 können die Ausschlussgründe in Nrn. II.6.1 und II.6.2 des Bleiberechtbeschlusses nicht entgegengehalten werden, weil weder feststeht, dass sie unrichtige Identitätsangaben gemacht hat, noch feststeht, dass sie die Heiratsurkunde zu dem Zweck vorgelegt hat, ihren Aufenthalt zu verlängern (vgl. Nr. 2). Bei dieser Sachlage ist bereits fraglich, ob im Rahmen der Bleiberechtsregelung davon ausgegangen werden kann, dass sie einen Pass oder Passersatz auf zumutbare Weise erlangen kann (vgl. § 5 Abs. 1 AufenthaltV). Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Klägern lediglich Duldungen zugesprochen. Dem zitierten Abschnitt der vorläufigen bayerischen Bestimmungen ist zu entnehmen, wie bei dem vorliegenden Sachstand weiter zu verfahren ist.