1. Die Deutsche Botschaft in Ankara erhält durch die Art und Weise der Beschaffung ihrer Erkenntnisse von der Lage der Aramäer in der Region Tur Abdin kein realistisches Bild der dortigen Realität vermittelt.
2. Entgegen den Ausführungen des Auswärtigen Amtes in den letzten Lageberichten Türkei hat sich die Situation für syrisch-orthodoxe Glaubensangehörige im Südosten der Türkei nicht entspannt und stabilisiert.
3. Die im Tur Abdin verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen werden nach wie vor von Einzelpersonen oder Personengruppen systematisch erpresst und ihre wirtschaftlichen Existenzgrundlagen werden durch die regelmäßige Abholzung/Abfackelung/Brandrodung ihrer Äcker- und Weideflächen sowie ihrer Weinberge zerstört.
4. Die Lage der Christen in der Westtürkei hat sich im Vergleich zu den siebziger und achtziger Jahren aufgrund des in der Türkei aufgekommenen Kampfes gegen missionarische Aktivitäten deutlich verschlechtert.
1. Die Deutsche Botschaft in Ankara erhält durch die Art und Weise der Beschaffung ihrer Erkenntnisse von der Lage der Aramäer in der Region Tur Abdin kein realistisches Bild der dortigen Realität vermittelt.
2. Entgegen den Ausführungen des Auswärtigen Amtes in den letzten Lageberichten Türkei hat sich die Situation für syrisch-orthodoxe Glaubensangehörige im Südosten der Türkei nicht entspannt und stabilisiert.
3. Die im Tur Abdin verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen werden nach wie vor von Einzelpersonen oder Personengruppen systematisch erpresst und ihre wirtschaftlichen Existenzgrundlagen werden durch die regelmäßige Abholzung/Abfackelung/Brandrodung ihrer Äcker- und Weideflächen sowie ihrer Weinberge zerstört.
4. Die Lage der Christen in der Westtürkei hat sich im Vergleich zu den siebziger und achtziger Jahren aufgrund des in der Türkei aufgekommenen Kampfes gegen missionarische Aktivitäten deutlich verschlechtert.
(Amtliche Leitsätze)
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
Zwar wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung mittlerweile eine mittelbare Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin verneint (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 22.02.2006 - 6 UE 2268/04.A - juris -; OVG Bremen, Urt. v. 21.02.2001 - 2 A 291/99.A - juris -; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.06.2005 - 11 LB 256/02 - juris -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.10.2005 - A 12 S 603/05 - juris -). Hieraus kann jedoch nicht auf eine Verfolgungssicherheit geschlossen werden, zumal in diesen Entscheidungen erstmals um die Anerkennung als politischer Flüchtling gestritten wurde und nicht um den Widerruf einer seinerzeit ausgesprochenen Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Im Widerrufsverfahren ist keine generalisierende Betrachtungsweise und auch keine Erörterung einer Gruppenverfolgung geboten, maßgebend ist vielmehr die Frage, ob konkret die als politisch Verfolgte anerkannte Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit hinreichend sicher ist (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 05.06.2007 - 10 A 11576/06 - juris -).
Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Rechtslage und die Menschenrechtssituation hätten sich deutlich zum Positiven verändert. Konkrete Bezüge auf den Fall der Klägerin in ihrer speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids jedoch nicht. Da das Bundesamt es schon versäumt hat, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen in der Türkei zu vergleichen, fehlt bereits der für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erforderliche Nachweis, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr vorliegen. Schon deshalb ist der Widerrufsbescheid rechtswidrig, zumal bei dieser Vorgehensweise des Bundesamts offen bleibt, ob nicht in Wirklichkeit eine unzulässige Neubewertung der Asylrelevanz der geltend gemachten Vorfluchtgründe erfolgt ist.
Unabhängig davon sind entgegen der Behauptung des Bundesamts seit dem Anerkennungsbescheid vom 27.10.1997 keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.
Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.
Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Minderheitenschutz und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.05.2007 an VG Magdeburg). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Die bisherigen Schwierigkeiten, mit denen nichtmuslimische Glaubensgemeinschaften in der Türkei konfrontiert waren und sind, bestehen unverändert fort (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; EU-Fortschrittsbericht vom 06.11.2007).
Soweit in dem angefochtenen Widerrufsbescheid unter Bezugnahme auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes ausgeführt wird, die Lage in der Region Tur Abdin habe sich weitgehend normalisiert und Übergriffe gegen Aramäer kämen nicht mehr vor, übersieht das Bundesamt, dass die Deutsche Botschaft in Ankara durch die Art und Weise der Beschaffung ihrer Erkenntnisse diesbezüglich kein realistisches Bild der dortigen Realität vermittelt bekommt (vgl. instruktiv hierzu Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Tatsache ist vielmehr, dass sich die Situation für syrisch-orthodoxe Glaubensangehörige im Südosten der Türkei nicht entspannt und stabilisiert hat. Nach wie vor wird von Übergriffen von im Tur Abdin lebenden Kurden gegenüber syrisch-orthodoxen Christen berichtet: ...
Darüber hinaus werden die im Tur Abdin verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen nach wie vor von Einzelpersonen oder Personengruppen systematisch erpresst und ihre wirtschaftlichen Existenzgrundlagen werden durch die regelmäßige Abholzung/Abfackelung/Brandrodung ihrer Acker- und Weideflächen sowie ihrer Weinberge zerstört; da diese Zerstörungen auch durch Vertreter des Staates erfolgen, kann strafrechtlicher Schutz seitens des Staates nicht erwartet werden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Außerdem wird von Übergriffen auf syrisch-orthodoxe Mädchen beim Schulbesuch berichtet, die zum Ziel haben, hierdurch Druck auf die verbliebenen Christen zum Verlassen ihrer Heimat auszuüben (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Schließlich gibt es nach wie vor Probleme bei der Katastrierung von Liegenschaften und ihrer Eintragung in die Grundbücher, Probleme im Hinblick auf die Namensgebung sowie Probleme im Hinblick auf die Befreiung vom islamisch-sunnitischen Religionsunterricht (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart).
Zwar gab es vor einigen Jahren verschiedene Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen mit dem Ziel, verlassene Dörfer wieder neu zu errichten; auch wurden beispielsweise in Kafro bereits mehrere Häuser neu errichtet (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme vom 28.06.2004 an OVG Lüneburg; ai, Stellungnahme vom 24.06.2004 an OVG Lüneburg). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese syrisch-orthodoxen Christen aus Europa die Situation in der Türkei nicht mehr als bedrohlich empfinden und von einer hinreichenden Sicherheit ausgehen. Denn zum einen verbringen sie im Wesentlichen nur ihren Sommerurlaub in ihren neuen Häusern (vgl. Okolisan, Reisebericht Tur Abdin 2006; Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Zum anderen behalten die zeitweiligen Rückkehrer wohlweislich ihre in den europäischen Staaten erworbene Staatsangehörigkeit bei, so dass sie die Türkei auch jederzeit wieder verlassen können. Die Rückkehrer haben sich auf Zusagen türkischer Behördenvertreter verlassen, die vor dem Hintergrund der Hoffnung des türkischen Staates, durch Wohlverhalten eine positive Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei sicherzustellen, abgeben wurden; sämtliche Zusagen wurden jedoch nicht eingehalten (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Der Umstand, dass syrisch-orthodoxe Christen Besuchsreisen in ihre ursprünglichen Heimatdörfer machen, ist ein Zeichen ihrer Sehnsucht nach ihrer Heimat, keineswegs aber ein Indiz für eine stabile Sicherheitslage für die religiöse Minderheit in der Südosttürkei (vgl. Oberkampf, Der Tur Abdin zwischen Aufbruch, Unsicherheit und Angst, Reisebericht vom September 2006).
Die gegenwärtige Sicherheitslage der syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin kann nur als sehr instabil und brüchig bezeichnet werden (vgl. Oberkampf vom 31.10.2006, abgedruckt in: www.nordirak-turabdin.info/cms/index.php =view&id=297Iter). Die von kurdischen Stämmen rekrutierten staatstreuen Dorfschützer haben nach der Vertreibung der Yeziden und syrisch-orthodoxen Christen deren Dörfer und Siedlungen mit Einverständnis der Gouverneure, Landräte und Militärkommandanten des türkischen Staates besetzt. Diese haben im Einklang mit den staatstreuen kurdischen Stammesführern und Großgrundbesitzern kein Interesse an einer Rückkehr der Yeziden und Christen und damit an einer Wiederinbesitznahme der landwirtschaftlichen Flächen durch die Rückkehrer (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 242-243 vom 28.05.2005). Die muslimischen Kurden aus dem Gebiet Tur Abdin versuchen nach wie vor, die verbliebenen Aramäer im Südosten der Türkei einzuschüchtern und zu vertreiben, um sich ihre Dörfer und die dazugehörenden landwirtschaftlichen Nutzflächen anzueignen (vgl. Eastern Star News Agency vom 05.09.2006 aaO; Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Der türkische Staat ist weder willens noch in der Lage, Schutz hiergegen zu gewähren (vgl. Oehring, a.a.O.).
Seit dem Jahr 2005 hat die antichristliche Stimmung in der ganzen Türkei zugenommen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 29.05.2006; Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart).
Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit wieder verbessert und derart stabilisiert, dass die zu verlangende Sicherheit nunmehr gegeben ist. Dem steht zum einen entgegen, dass die Reformbemühungen in der Türkei in letzter Zeit zum Stillstand gekommen sind. Hiergegen spricht auch das deutliche Erstarken des Nationalismus wie auch des Islamismus in der Türkei. Schließlich verstärken die Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen die Angst und die Abwehrhaltung der muslimischen Bevölkerungsteile, da diese den Verlust von Land und anderen Wirtschaftsgütern fürchten müssen. Nach allem kann von einer hinreichenden Sicherheit vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr in den Südosten der Türkei keine Rede sein.
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei, insbesondere in Istanbul, verwiesen werden. Die mittlerweile 72 Jahre alte Klägerin besitzt keine Berufsausbildung und spricht ausschließlich aramäisch. Verwandte in der Westtürkei hat die Klägerin nicht. Da ihr in der Westtürkei nur ein Leben unterhalb des Existenzminimums möglich wäre, kann in ihrem Fall eine Existenzmöglichkeit in Istanbul oder in den übrigen Gebieten der Türkei nicht angenommen werden. Gegenteiliges wird von der Beklagten weder behauptet noch im angefochtenen Bescheid dargelegt. Von der Klägerin kann somit vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass sie sich im Westteil der Türkei, insbesondere in Istanbul aufhält (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004). Die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG verwendete Formulierung "vernünftigerweise erwartet werden kann" verbindet objektive, vernunftbezogene Aspekte mit dem subjektiv angefüllten Kriterium der Erwartung, das auch die individuellen Fähigkeiten und Gegebenheiten des Flüchtlings umfasst (vgl. Lehmann, NVwZ 2007, 508). Hinzu kommt, dass sich die Lage der Christen in der Westtürkei im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren aufgrund des in der Türkei aufgekommenen Kampfes gegen missionarische Aktivitäten deutlich verschlechtert hat (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Von einem internen Schutz kann somit nicht ausgegangen werden.