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VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 16.05.2008 - 8 L 445/07 - asyl.net: M13698
https://www.asyl.net/rsdb/M13698
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Erfassungsbescheinigung, Türken, Stillhalteklausel, Antragstellung, Aufenthaltserlaubnis, Eheschließung, Visum nach Einreise, Visumsverstoß, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Straftat, Ausweisungsgründe, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AuslG § 21 Abs. 3 a.F.; AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthV § 39 Nr. 5; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 95 Abs. 1
Auszüge:

a) Der Antrag auf Verpflichtung zur Erteilung einer Erfassungsbescheinigung bleibt ohne Erfolg.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn ein Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss (Anordnungsgrund). Der Antragsteller hat Anordnungsgrund und -anspruch glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO).

Die Antragstellerin begehrt eine Erfassungsbescheinigung, d. h. eine Bescheinigung darüber, dass ihr Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Anwendung des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 vorläufig als erlaubt gilt. Sie hält diese Vorschrift über die Standstill-Klauseln der assoziationsrechtlichen Vereinbarungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei (Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - und Art. 41 Abs. 1 des mit der Verordnung EWG Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 bestätigten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen) für anwendbar, weil § 21 Abs. 3 AuslG 1965 mit der dort geregelten Erlaubnisfiktion eine günstigere Regelung als die des nunmehr geltenden Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) enthalte.

Selbst wenn man unterstellt, dass ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Folge der Standstill-Klausel eine vorläufige Erlaubnisfiktion des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 auslösen kann, gilt dies jedenfalls nicht, wenn zuvor bereits ein Antrag bestandskräftig abgelehnt worden ist und es sich nun um einen wiederholten Antrag handelt (vgl. Guttmann in Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht (GK AuslR), IX-1, Art. 13 ARB1 /80, Rdnr. 28.1).

Mit anderen Worten: Wenn möglicherweise aus einer Standstill-Klausel eine Anwendung des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 folgt, der Ausländer also für einen Antrag in eine ihm günstigere frühere verfahrensrechtliche Position gesetzt wird, kann er von dieser Rücksetzung nach einer bestandskräftigen Ablehnung nicht erneut profitieren. Wird unter der Wirkung der besseren verfahrensrechtlichen Position ein Antrag bestandskräftig abgelehnt, so bewirkt die Bestandskraft, dass der Ausländer verfahrens- und materiellrechtlich in die Gegenwart versetzt wird, die Bestandskraft konfrontiert ihn also mit dem nunmehr geltenden Ausländerrecht.

So liegt der Fall hier.

b) Der Hilfsantrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Aufenthalt der Antragstellerin zu dulden und hierüber eine Bescheinigung zu erteilen, hat jedoch Erfolg.

Insoweit ist aus den oben dargelegten Gründen ein Anordnungsgrund und auch ein Anordnungsanspruch gegeben. Die Antragstellerin hat nämlich das Vorliegen eines Duldungsgrundes gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG - rechtliche und/oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung - glaubhaft gemacht.

Die Abschiebung erweist sich als rechtlich unmöglich, weil die Antragstellerin aufgrund der am 10. Mai 2007 erfolgten Eheschließung nach Maßgabe des § 39 Nr. 5 AufenthV berechtigt ist, die erforderliche Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug - nach der Einreise - im Bundesgebiet einzuholen. Die Verwirklichung dieser Rechtsposition wäre ohne Sicherung im Wege einer einstweiligen Anordnung gefährdet.

Die Kammer teilt nicht die Auffassung des Antragsgegners, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis komme nicht in Betracht, weil die Antragstellerin nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfülle und außerdem entgegen der Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG durch den (mangels eines für den längerfristigen Aufenthalt erforderlichen Visums) nicht rechtmäßigen Aufenthalt einen Ausweisungsgrund verwirklicht habe.

Es trifft zu, dass die Antragstellerin die Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt. Sie ist mit einem nur für Besuchszwecke bestimmten Schengen-Visum nach Deutschland eingereist. Dies ist jedoch ohne Belang, weil § 5 Abs. 2 AufenthG hier nicht anwendbar ist. Die Regelung kommt nämlich nicht zum Tragen, wenn und soweit der Ausländer den Spezialregelungen der §§ 39 bis 41 AufenthV gemäß den Aufenthaltstitel nach der Einreise einholen darf (vgl. hierzu nunmehr grundlegend OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007 - 18 B 1535/07 - unter Hinweis auch auf auch Nr. 5.2.1.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise AufenthG, FreizügG/EU, vgl. auch Beschluss der Kammer vom 21. September 2006 - 8 L 204/06 -).

Entgegen der Rechtsansicht des Antragsgegners kommt es in den Anwendungsfällen des § 39 Nr. 5 AufenthV nicht auf den Visumsverstoß an. § 5 Abs. 2 AufenthG ist aus gesetzessystematischen Gründen lediglich anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des § 39 Nr. 5 AufenthG nicht erfüllt sind. Die Vorschrift setzt schon ihrem eindeutigen Wortlaut nach gerade nicht - wie früher z. B. § 9 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 DVAuslG - eine erlaubte Einreise des Ausländers mit dem erforderlichen Visum voraus. Zwar hat der Gesetzgeber mit dem Aufenthaltsgesetz an der schon dem Ausländergesetz 1990 zugrunde gelegten Wertung festgehalten, wonach der für den jeweils beabsichtigten Aufenthaltszweck erforderliche Aufenthaltstitel grundsätzlich vom Ausland aus, also vor der Einreise in einem Visumsverfahren zu beantragen ist. Daneben aber hat der Ausländer in begrenztem Umfang weiterhin die - gegenüber § 9 DVAuslG teilweise an günstigere Voraussetzungen - geknüpfte Möglichkeit, den Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen zu dürfen, nämlich nach den auf der Verordnungsermächtigung des § 99 AufenthG beruhenden besonderen Regelungen der §§ 39 bis 41 AufenthV.

Die Entstehungsgeschichte bestätigt die aufgezeigte Rechtslage. In der Begründung zu § 39 AufenthV (vgl. BT-Drucks. 731/04) heißt es, dass in den dort geregelten Fällen die fehlende Erfüllung der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG einem Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nicht entgegen stehe (vgl. zu Vorstehendem: OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007, a.a.O.).

Hieraus folgt zugleich zwingend, dass der Antragstellerin entgegen der Auffassung des Antragsgegners ihr mangels eines für den längerfristigen Aufenthalt erforderlichen Visums nicht erlaubter Aufenthalt nicht als etwaiger Ausweisungsgrund (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. §§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) entgegengehalten werden kann. Der nicht rechtmäßige Aufenthalt ist eine logische Folge der Einreise ohne das erforderliche Visum, die - wie sich aus Vorstehendem ergibt - hier wegen der Geltung der Spezialregelung des § 39 Nr. 5 AufenthV unerheblich bleibt. Daraus folgt zwingend, dass dem Ausländer in Fällen des § 39 AufenthG auch nicht die aus dem nicht rechtmäßigen Aufenthalt folgende abstrakte Verwirklichung eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) zum Nachteil gereichen kann. Anderenfalls würde die vom Gesetzgeber in § 39 AufenthG konzipierte Erleichterung der Einholung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet konterkariert werden.