VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.06.2008 - 13 S 2809/07 - asyl.net: M13704
https://www.asyl.net/rsdb/M13704
Leitsatz:

1. Die Rechtskraft eines Urteils, das die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung abgewiesen hat, kann deren Rücknahme auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 LVwVfG entgegenstehen.

2. Zu den Voraussetzungen, unter denen dieser Grundsatz durch Gemeinschaftsrecht modifiziert wird.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Rücknahme, Anfechtungsklage, Rechtskraft, Rechtskraftwirkung, Rechtswidrigkeit, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, Freizügigkeit, Unionsbürger, Gemeinschaftsrecht, EuGH, Vorlageverfahren
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; VwGO § 121; EG Art. 10; EG Art. 234 Abs. 3
Auszüge:

1. Die Rechtskraft eines Urteils, das die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung abgewiesen hat, kann deren Rücknahme auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 LVwVfG entgegenstehen.

2. Zu den Voraussetzungen, unter denen dieser Grundsatz durch Gemeinschaftsrecht modifiziert wird.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

1. a) Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag zulässig. Insbesondere steht ihr nicht die Rechtskraft der Gerichtsentscheidungen entgegen, mit denen die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 gerichtlich bestätigt worden ist. Es liegt hier kein Fall vor, in dem die Behörde oder das Gericht schon gehindert ist, überhaupt eine neue Sachentscheidung zu treffen. Gemäß § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dies bedeutet, dass sich die Bindungswirkung nicht auf alle Urteilselemente, sondern nur auf den Entscheidungssatz erstreckt. § 121 VwGO ist nicht zu entnehmen, dass die Bindung nur für identische Streitgegenstände gilt. Allerdings unterscheidet sich die Bindungswirkung je nachdem, ob es sich um einen identischen oder einen anderen Streitgegenstand handelt. Bei identischen Streitgegenständen ist der Folgeprozess - oder eine neue Behördenentscheidung - wegen entgegenstehender Rechtskraft bereits unzulässig. Die Rechtskraft wirkt hier als Prozesshindernis und hindert bereits jede abweichende neue Sachentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.5.1994 - 9 C 501/93 -, BVerwGE 96, 24 ff.; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 6.12.2007 - 15 A 3294/07.A -, Ls. in DVBl. 2008, 133; vgl. auch Senatsbeschluss vom 5.3.2008 - 13 S 58/08 -). Ein solcher vollkommen identischer Streitgegenstand liegt hier jedoch nicht vor, da der in diesem Verfahren geltend gemachte Anspruch auf die Rücknahme einer Ausweisungsverfügung nach §§ 51 Abs. 5, 48 Abs. 1 LVwVfG nicht identisch mit deren damaliger Anfechtung ist.

b) Der Hauptantrag ist unbegründet. Es fehlt an den tatbestandlichen Voraussetzungen der begehrten Rücknahme auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 LVwVfG. Nach dieser Vorschrift können nur rechtswidrige Verwaltungsakte zurückgenommen werden. Für das vorliegende Verfahren ist jedoch bindend von einer rechtmäßigen Ausweisung auszugehen. Aufgrund der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24.4.2001 - 5 K 1684/00 -, die bezüglich der Ausweisung durch die Ablehnung des Berufungszulassungsantrags des Klägers mit Beschluss des erkennenden Gerichtshofs vom 14.8.2001 - 10 S 1409/01 - eingetreten ist, ist gemäß § 121 Nr. 1 VwGO für das vorliegenden Verfahren für beide Beteiligte bindend davon auszugehen, dass die damalige Ausweisung rechtmäßig ist.

Auch bei fehlender Identität der Streitgegenstände kann eine Bindungswirkung nach § 121 VwGO eintreten. Dies gilt für die Konstellationen, in denen die rechtskräftige Zuerkennung oder Aberkennung eines prozessualen Anspruchs für einen anderen prozessualen Anspruch, der zwischen denselben Beteiligten streitig ist, vorgreiflich ist (präjudizielle Rechtskraft). Denn Zweck des § 121 VwGO ist es zu verhindern, dass die aus einem festgestellten Tatbestand hergeleitete Rechtsfolge, über die bereits durch Urteil entscheiden worden ist, bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut - mit der Gefahr unterschiedlicher Ergebnisse - zum Gegenstand eines Verfahrens zwischen denselben Beteiligten gemacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.9.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118 = NVwZ 2002, 345; OVG Nordrh.-Westf., a.a.O.; Senatbeschluss, a.a.O.). Die Wirkung der Rechtskraft auf nachfolgende Verfügungen derselben Behörde gegenüber demselben Betroffenen rechtfertigt sich aus dem Sinn der Rechtskraft, dem Rechtsfrieden zu dienen und das Vertrauen in die Beständigkeit des Rechts zu schützen (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992 - 1 C 12/92 -, BVerwGE 91, 256). Im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage wird festgestellt, dass der Kläger keinen Rechtsanspruch auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts besitzt und dieser ihn nicht in solchen Rechten verletzt, deren Verletzung seine Aufhebung zur Folge haben müssten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 121 Rn. 21). Begehrt ein Kläger die Rücknahme einer Behördenentscheidung, deren Rechtmäßigkeit durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist, steht diesem Begehren die Rechtskraft des Urteils entgegen (Nds. OVG, Beschluss vom 6.9.2002 - 8 LA 126/02 -, juris; vgl. auch OVG Saarl., Beschluss vom 16.7.1999 - 2 Q 22/99 -, juris).

Die Rechtskraftwirkung eines Urteils tritt allerdings dann nicht ein, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage verändert hat (BVerwG, ebd. sowie BVerwGE 14, 359 <362 f.>; 35, 234 <236>; BVerfGE 47, 146 <165>). Eine solche Fallkonstellation ist hier jedoch nicht gegeben. Die Rechtskraftwirkung entfällt nicht schon dann, wenn - wie hier - im Vorprozess eine Ausweisungsverfügung aus sachlichrechtlichen Gründen bestätigt worden ist, die sich im Lichte einer späteren Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung möglicherweise als nicht stichhaltig erweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.). Eine maßgebliche Änderung der Sach- und Rechtslage, liegt mit anderen Worten nicht schon dann vor, wenn sich lediglich die Erkenntnislage oder deren Würdigung ändert (insoweit wohl auf die vorliegende Konstellation übertragbar: BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 112, 80 = NVwZ 2001, 335).

Diese Rechtskraftwirkungen treten auch dann ein, wenn sich die im Vorprozess obsiegende Behörde wie im vorliegenden Fall nicht auf deren Bindungswirkungen beruft, sondern selbst die Rechtmäßigkeit der Erstverfügung überprüft und hiernach davon ausgeht, der ursprüngliche Verwaltungsakt sei (nach heutiger Erkenntnislage) rechtswidrig. Das Bundesverwaltungsgericht hat - insoweit nicht tragend - ausgeführt, die im Vorprozess obsiegende Behörde sei durch die Rechtskraftwirkung allein nicht gehindert, unter Beachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf die Durchsetzung des von ihr erlassenen belastenden Verwaltungsaktes zu verzichten oder den begehrten begünstigenden Verwaltungsakt zu erlassen; die Rechtskraft wirke nur zugunsten, nicht zuungunsten der obsiegenden Partei (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.; Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 13 und 21).

Diese Auffassung vermag jedoch jedenfalls insoweit dogmatisch nicht zu überzeugen, als sie die Wirkungen der Rechtskraft im Folgeprozess davon abhängig macht, ob sich der im Erstprozess obsiegende Beteiligte auf sie beruft. Die Ansicht, dass die Rechtskraft und deren Wirkungen zur Disposition eines Beteiligten stehen sollen, beruht wohl auf der Übernahme zivilprozessualer Grundsätze, die ihrerseits durch die Dispositionsbefugnis der Parteien im Zivilprozess gerechtfertigt sind. Da die Parteienherrschaft im Verwaltungsprozess jedoch weit weniger ausgeprägt ist, kann es dort nicht zulässig sein, dass ein Beteiligter auf die Wirkungen der Rechtskraft für den Folgeprozess verzichtet - sei es bewusst oder auch weil er sich (wie wohl hier) dieser Wirkungen gar nicht bewusst ist.

Diese Grundsätze werden - die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zu seinen Gunsten unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der Europäische Gerichtshof respektiert die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätzen zählt (vgl. EuGH, Urteil vom 13.1.2004 - C-453/00 - Kühne u. Heitz -, Slg. 2004 I, 837 = NVwZ 2004, 459 Rn. 24). Die in dieser Entscheidung entwickelten Voraussetzungen eines Rücknahmeanspruchs im Anschluss an eine rechtskräftige, die Vorlagepflicht verletzende letztinstanzliche Gerichtsentscheidung sind hier nicht gegeben. Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet hiernach eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn

- die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,

- die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,

- das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war, und

- der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

Hier fehlt es zumindest an der dritten Voraussetzung, dass das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war. Denn der damals zuständige 10. Senat des erkennenden Gerichtshofs war nicht berechtigt oder gar verpflichtet, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen. Der Kläger hatte in seinem damaligen Zulassungsantrag allein geltend gemacht, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, da das Verwaltungsgericht seine persönlichen Belange nicht zutreffend gewürdigt habe, denn er habe nicht nur bei der Überführung anderer Rauschgifthändler mitgewirkt, sondern sei tragender Zeuge in einem anhängigen Mordprozess; seine Unterstützung in diesem Verfahren und die gegen ihn ausgesprochenen Morddrohungen ließen eine Ausweisung als unbillige Härte erscheinen; im übrigen werde auf die Begründung der Klage hingewiesen. Mit diesem Vorbringen hatte der Kläger keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu den europarechtlichen Voraussetzungen der gegen ihn verfügten Ausweisung dargelegt.

Es kann dahingestellt bleiben, ob ausnahmsweise eine Durchbrechung der Rechtskraft dann geboten ist, wenn die Aufrechterhaltung des durch die Vorentscheidung geschaffenen Zustandes schlechthin unerträglich wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.). Eine solche Situation besteht im vorliegenden Fall nicht. Schwere und unerträgliche Folgen für den Ausländer können im Regelfall im Rahmen einer Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG vermieden werden.