VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 09.04.2008 - 5 K 3125/07.A - asyl.net: M13711
https://www.asyl.net/rsdb/M13711
Leitsatz:
Schlagwörter: Armenien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Nierenerkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, denn im Hinblick auf seine dialysepflichtigen Niereninsuffizienz liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf Armenien vor.

Der Kläger ist aufgrund seiner terminalen Niereninsuffizienz auf die lebenserhaltende Dialysebehandlung einschließlich der erforderlichen begleitenden Medikamentierung sofort nach Rückkehr nach Armenien angewiesen. Ohne eine Behandlungsmöglichkeit dort würde sich sein Gesundheitszustand alsbald erheblich und konkret verschlechtern. In Armenien kann er die erforderliche medikamentöse Behandlung nicht erlangen.

Zwar sind die gerätetechnischen Behandlungsmöglichkeiten ausreichend gewährleistet. Nach der im Verfahren eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Eriwan vom 14. Dezember 2007 werden in Armenien alle armenischen Staatsangehörigen, die an dialysepflichtiger, chronischer Niereninsuffizienz im terminalen Stadium leiden, im Rahmen des staatlichen Gesundheitsauftrages unentgeltlich behandelt; sofern der Botschaft die Rückkehr des Betroffenen ca. zwei Wochen im Voraus angezeigt wird, kann auch ein Behandlungsplatz ab Einreise sichergestellt werden. Hat der Patient in Armenien ein Anrecht auf unentgeltliche Behandlung, dann wird er sie - entgegen den Behauptungen des Klägers - auch erhalten; sollte sie ihm verweigert werden, kann er sich entweder an das Gesundheitsministerium wenden oder den Rechtsweg wählen, auf dem mit einer Entscheidung innerhalb von zwei Monaten gerechnet werden kann (vgl. Auskünfte des Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan an das VG Schleswig vom 16. August 2007 (RK-10-516.80/1788) und an das VG Düsseldorf vom 14. Dezember 2007 (RK-10-516.80/1943)).

Der Behandelbarkeit steht nicht entgegen, dass nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Eriwan vom 14. Dezember 2007 die in Armenien bei der Dialyse eingesetzten Filter nach Sterilisation 4 - 5 Mal benutzt werden, obwohl gesetzlich vorgeschrieben ist, dass Patienten mit Infektionserkrankungen wie HIV oder Hepatitis B und C an separaten Geräten dialysiert werden. Es stehen nicht in ausreichendem Umfang Dialysegeräte zur Verfügung, so dass die gesetzliche Vorgabe nicht immer eingehalten werden kann. Jedoch werden nach der auf vertrauensärztlicher Information beruhenden Auskunft die Hygienevorschriften in Bezug auf die Sterilisierung der Geräte etc. ausnahmslos eingehalten.

Trotz dieser Praxis des Mehrfacheinsatzes von Filtern ist es dem Kläger zuzumuten, die Dialysemöglichkeiten in Armenien zu nutzen. Denn ausweislich der vom Gericht bei dem führenden - auch Dialysekliniken in Armenien ausstattenden - Hersteller von Dialysegeräten eingeholten Auskunft vom 11. Februar 2008 reicht eine fachgerechte Sterilisierung der Geräte und Filter aus, um nicht infizierte Patienten vor Infektionen mit HIV- oder Hepatitiserregern zu schützen.

Für den Kläger sind aber die für eine ausreichende Behandlung seiner dialysepflichtigen Niereninsuffizienz erforderlichen Medikamente nicht zu erlangen, weil er deren Beschaffung nicht finanzieren kann.

Nach der im Verfahren eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan an das VG Düsseldorf vom 14. Dezember 2007 sind die in Rede stehenden Medikamente oder Alternativmedikamente in Armenien i.W. erhältlich. Allerdings werden nach dieser Auskunft in der Praxis in Armenien nur die Blutdruckmedikamente unentgeltlich ausgegeben; die übrigen Medikamente muss sich der Patient auf eigene Kosten in der Apotheke beschaffen.

Unter Zugrundelegen der Angaben über die Kosten der erforderlichen Medikamente in der Auskunft der Botschaft vom 14. Dezember 2007 und der Mengenangaben in der ergänzenden Auskunft der Amtsärztin des Gesundheitsamtes der Stadt S vom 22. Januar 2008 ergeben sich für den Kläger für die zur Vermeidung konkreter und erheblicher Gesundheitsgefahren notwendige, selbst zu finanzierende Medikamentenkosten (ohne die kostenlosen Blutdruckmittel) im Umfang von 68.000,- AMD/monatlich, d.h. bei einem Kurs von 1,- Euro : 454 AMD von 150,- Euro/monatlich oder von 1.800,- Euro/jährlich.

Dieses erforderliche Medikamentenbudget übersteigt die finanziellen Möglichkeiten des Klägers bei weitem.

Nach seinen glaubhaften Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17. September 2007 konnte er vor seiner Ausreise, die im Jahre 2004 stattfand, für seine Medikamentierung nur rund 40,- bis 50,- Euro/mtl. aufbringen, zumal seine eigenen finanziellen Möglichkeiten nach der Veräußerung seines Eigentums erschöpft waren.

Die Angaben zu den Finanzierungsschwierigkeiten sind auch vor dem Hintergrund glaubhaft, dass Armenien nach wie vor mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von etwa 1430 US-Dollar nach Weltbank-Definition nur wenig über der Schwelle der ärmsten Länder liegt.

Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist vorliegend auch nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG "gesperrt". Zwar droht die Gefahr einer aus finanziellen Gründen nicht ausreichenden medizinischen Versorgung grundsätzlich der gesamten Bevölkerungsgruppe der mittellosen Kranken in Armenien allgemein, d.h. der Gruppe derjenigen, die dort die erforderlichen Behandlungskosten für ihre Krankheit nicht aufbringen können. Die derart verstandene (nach sozialen Merkmalen bestimmten) Gruppe bildet - ungeachtet der Frage, wie umfangreich die Gruppe der Kranken in Armenien ist - eine eigene Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (vgl. zur Gruppe, die aus finanziellen Gründen beschränkten Zugang zu einer Heilbehandlung hat BVerwG, Beschl. v. 29. April 2002 - 1 B 59/02; BVerwG Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; VGH München, Beschl. v. 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077; OVG S-H, Urt. v. 29. Oktober 2003 - 14 A 246/02).

Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers "gesperrt", wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. 27. April 1998, - 9 C 13.97).

Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte zu respektieren. Sie dürfen daher im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zusprechen, wenn keine anderen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzten würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

Vorliegend würde der Kläger aber bei einer Abschiebung nach Armenien derartigen schwersten Verletzungen ausgeliefert. Denn ohne die erforderliche Medikamentierung, die der Kläger mangels finanzieller Möglichkeiten in Armenien nicht erlangen kann, wäre er der Gefahr dialysefolgenbedingten Siechtums und damit einer nicht mehr hinnehmbaren Gefahr ausgesetzt.