VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 11.06.2008 - 4 K 2548/07 - asyl.net: M13720
https://www.asyl.net/rsdb/M13720
Leitsatz:

Die Ausländerbehörde trägt die materielle Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 LVwVfG. Führt die rückwirkende Rücknahme von Aufenthaltstiteln der ausländischen Eltern zum rückwirkenden Wegfall der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG durch Geburt erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes, ist es ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde nicht prüft, ob eine Rücknahme mit Wirkung ex-nunc genügt hätte.

 

Schlagwörter: D (A), Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Falschangaben, Libanon, Staatenlose, Türken, Staatsangehörigkeit, Beweislast, Glaubwürdigkeit, Rückwirkung, Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt im Inland, deutsche Staatsangehörigkeit, Entziehung, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Ermessen
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 3; VwVfG § 48 Abs. 2; StAG § 4 Abs. 3; GG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

Die Ausländerbehörde trägt die materielle Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 LVwVfG. Führt die rückwirkende Rücknahme von Aufenthaltstiteln der ausländischen Eltern zum rückwirkenden Wegfall der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG durch Geburt erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes, ist es ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde nicht prüft, ob eine Rücknahme mit Wirkung ex-nunc genügt hätte.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Nach § 48 Abs. 1 und Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 LVwVfG kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Vorliegend ist davon auszugehen, dass die dem Kläger erteilten Aufenthaltstitel rechtswidrig waren. Ausschlaggebend für deren Erteilung war die Erklärung u.a. des Klägers, staatenloser Kurde aus dem Libanon zu sein, und die daraus - nach fehlgeschlagenen Passbeschaffungsmaßnahmen - folgende Unmöglichkeit der Beendigung des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland. Demgegenüber ist aufgrund des vorliegenden Auszuges aus dem türkischen Personenstandsregister (Nüfus Kayit Örnegi) davon auszugehen, dass der Kläger und wohl auch seine Ehefrau sowie die fünf ältesten gemeinsamen Kinder türkische Staatsangehörige sind.

Die Bescheide der Beklagten sind jedoch ermessensfehlerhaft.

Liegen die Voraussetzungen der Rücknahme eines begünstigten Verwaltungsaktes vor, hat die Behörde unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund einer Abwägung aller für und gegen eine Rücknahme sprechenden Gründe zu prüfen, ob die Rücknahme geboten ist. Die Richtigkeit dieser Entscheidung ist im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO durch das Verwaltungsgericht nur in beschränktem Umfang nachprüfbar.

Die Beklagte hat ihre Ermessenserwägungen maßgeblich darauf gestützt, dass der Kläger wissentlich falsche Angaben gemacht habe (vgl. S. 5 des Bescheids der Beklagten vom 29.12.2005 und S. 2 f. des Bescheids vom 22.05.2007 sowie S. 4 f. des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 16.07.2007). Dem kann das Gericht nicht folgen. Die Beklagte stellt in ihrer Entscheidung auf die "Ausschlussgründe" in § 48 Abs. 2 Satz 3 LVwVfG ab. Ein "Erwirken" im Sinne dieser Vorschrift verlangt ein zweck- und zielgerichtetes Handeln des Begünstigten (grundlegend BVerwG, Urt. v. 28.10.1983, BVerwGE 68, 159; Sachs, in: Stelken/Bonk/Sachs, a.a.O., § 48 Rn. 150 m.w.N.). Für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen trägt die Beklagte nach allgemeinen Beweisgrundsätzen die materielle Beweislast (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 108 Rn. 15 m.w.N.). Ein derartiges zweck- und zielgerichtetes Handeln des Klägers zur Erlangung der Aufenthaltstitel kann diesem vorliegend aber nicht hinreichend nachgewiesen werden.

Nach dem dem Gericht vorliegenden Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister wurde der Kläger am 11.10.1961 eingetragen. Es liegt auf der Hand, dass die Eintragung nicht von dem im Jahr 1961 geborenen Kläger getätigt worden sein kann.

Auch die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung lassen eher darauf schließen, dass er sich seiner türkischen Staatsangehörigkeit nicht bewusst gewesen war, da er der Ableistung des Wehrdienstes und der Innehabung eines türkischen Passes keine staatsbürgerrechtliche Bedeutung beigemessen hat.

Daraus, dass der Kläger in der Türkei den Militärdienst abgeleistet hat und im Anschluss daran einen für zwei Jahre gültigen türkischen Pass bekommen hat, kann nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass der Kläger bewusst über seine türkische Staatsangehörigkeit getäuscht hat. Die Angaben des Klägers zu seinen Aufenthalten sind glaubwürdig und in sich schlüssig. Aus den vom Kläger geschilderten Lebensweg kann durchaus geschlossen werden, dass er seinen Aufenthalten in der Türkei und dem kurzfristigen Besitz des türkischen Passes keinerlei oder nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen hat. Der Kläger hat bis zu seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nach eigenen Angaben fast ausschließlich im Libanon gelebt, seine Aufenthalte in der Türkei haben sich auf kurze Zeiträume beschränkt. Auch hat er sich wohl auch niemals um eine Verlängerung des türkischen Passes bemüht. Dass er dies deshalb nicht gemacht haben soll, um weiter als Staatenloser auftreten zu können, kann nicht ohne weiteres angenommen werden.

Nach Auffassung des Gerichts ist es auch ermessensfehlerhaft, dass die Beklagte ihre Entscheidung von vornherein auf eine ex-tunc-Rücknahme ausgerichtet und in ihrer Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt hat, ob nicht eine Rücknahme mit Wirkung ex-nunc genügt hätte. Damit hat sie einen wesentlichen Gesichtpunkt nicht in ihre Ermessenserwägungen eingestellt. Die Rücknahme der Aufenthaltstitel des Klägers mit Wirkung ex-tunc hat nämlich vorliegend zur Folge, dass mit Bestandskraft der Rücknahmeverfügung auch die deutsche Staatsbürgerschaft des jüngsten Kindes ... entfallen würde. ... hat gem. § 4 Abs. 3 StAG mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, da der Kläger zum Zeitpunkt der Geburt seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte und über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügte. Eine bestandskräftige Rücknahme der Aufenthaltstitel des Klägers mit Wirkung ex-tunc würde die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 StAG rückwirkend zu Fall bringen und die zuvor bestehende deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes beseitigen und nicht etwa nur den Schein einer solchen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2006 - 2 BvR 696/04 -, zit. in Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.07.2007 - 18 A 2065/06 -, zit. in Juris jeweils zur rechtskräftigen Feststellung des Nichtbestehens einer Vaterschaft). Dieser mit der rückwirkenden Rücknahme der Aufenthaltstitel einhergehende Verlust der deutsche Staatsangehörigkeit unterfällt zweifelsohne dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 GG (BVerwG, Urt. v. 05.06.2006, AuAS 2007, 3, 5; wohl auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl v. 28.05.2008 - 18 B 425/08 - zit. in Juris). Denn gesetzliche Vorschriften oder Rechtsakte, die eine einmal wirksam erworbene deutsche Staatsangehörigkeit in Wegfall zu bringen beanspruchen, entgehen der Prüfung am Maßstab des Art. 16 Abs. 1 GG nicht dadurch, dass der Wegfall rückwirkend zum Erwerbszeitpunkt vorgesehen ist und die Staatsangehörigkeit danach von einem ex-post-Standpunkt aus als nie erworben erscheint (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2006, a.a.O.). Der mit der rückwirkenden Rücknahme des Aufenthaltstitel verbundene Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eines Dritten, der am Fehlverhalten des von der Rücknahme Betroffenen nicht beteiligt war, ist notwendigerweise in die Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Rücknahme und den schutzwürdigen privaten Belangen einzustellen (BVerwG , Urt. v. 05.09.2006, a.a.O.). Dies hat die Beklagte zwar getan und die Auswirkungen der Rücknahme auf die Staatsbürgerschaft von ... insbesondere wegen des Alters des Kindes als hinnehmbar erachtet. Dem kann jedoch nicht ohne weiteres gefolgt werden. Die Beklagte stellt im angefochtenen Bescheid vom 22.05.2007 darauf ab, dass der rückwirkende Wegfall der Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 StAG dazu führe, dass ... nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erworben habe. Dies ist jedoch - wie bereits ausgeführt - nicht der Fall. Die Beklagte scheint damit zu verkennen, dass der Schutzbereich des Art 16 Abs. 1 GG betroffen ist. Allein der Hinweis auf das Alter des Kindes und dem daraus folgenden fehlenden Bewusstsein seiner Staatsangehörigkeit reicht nicht aus (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 28.05.2008, a.a.O.). Die Staatsbürgerschaft ist nämlich nicht nur ein persönliches Recht des Einzelnen, sondern kommt dieser zugleich rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung zu (VGH Bad.-Württ., Urt. 17.09.2007, VBlBW 2008, 226, 227). Mithin betrifft der bürgerschaftliche Status die konstituierenden Grundlagen der Rechtsordnung und des Gemeinwesens und geht damit weit über eine schützenswerte Rechtsposition des Einzelnen hinaus. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung folgt daraus, dass § 48 (L)VwVfG mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 GG nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bietet (BVerfG, Urt. v. 24.05.2006, BVerfG 116, 24 ff.; BVerwG, Urt. v. 14.02.2008, AuAS 2008, 116, 117; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.09.2007, a.a.O.; noch enger VG Stuttgart, Urt. v. 19.09.2007 - 11 K 2800/06 -, zit. in Juris). Nichts anderes kann aber bei anderen behördlichen Maßnahmen gelten, die zu den gleichen staatsbürgerschaftlichen Rechtsfolgen führen wie die Rücknahme einer Einbürgerung.