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Zitieren als:
, Bescheid vom 08.07.2008 - 5184507-423 - asyl.net: M13815
https://www.asyl.net/rsdb/M13815
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Kommunisten, DVPA, Mitglieder, Sippenhaft, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Wohnraum, Existenzminimum, alleinstehende Personen, Alter, Krankheit, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Bei dem vorliegenden Antrag handelt es sich um einen Folgeantrag nach § 71 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Ein weiteres Asylverfahren ist danach aber nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erfüllt sind, mithin Wiederaufgreifensgründe vorliegen.

Das Verfahren war hiernach wieder aufzugreifen, weil unter Berücksichtigung der vorgelegten Beweismittel eine positive Entscheidung über den Antrag auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht von vornherein ausgeschlossen war.

2. Es besteht kein Anspruch auf Flüchtlingsschutz im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Nach den hier vorliegenden Informationen könnte nur dann von einer landesweiten Verfolgungsgefahr auszugehen sein, wenn der Antragsteller eine exponierte Stellung in der früheren kommunistischen Regierung oder in der kommunistischen Partei innegehabt hätte oder in seinem engsten Familienkreis Angehörige diesbezüglich exponiert tätig gewesen wären.

Eine Gefahr besteht für hochrangige Kommunisten nur dann, wenn sie als Mitglieder des Zentralkomitees, von Stadt- oder Distriktkomitees der DVPA oder als Vorsitzende oder hochrangige Mitglieder von Organisationen der DVPA (z.B. Jugend-, Frauenorganisation) auf Landes-, Provinz-, Stadt- oder Distriktebene bekannt sind oder wenn sie mit Menschenrechtsverletzungen während des kommunistischen Regimes in Zusammenhang gebracht werden können. Das Gleiche gilt für Mitglieder der früheren Streitkräfte, der Polizei oder des Geheimdienstes. Auch Mitglieder von neuen Linksparteien, die von ehemaligen DVPA-Führern geleitet werden, können gefährdet sein, wenn sie sich öffentlich für deren Sache einsetzen. Dies gilt insbesondere in ländlichen Gegenden wie etwa in der Provinz Kunar oder anderen Distrikten im Osten (vgl. UNHCR's Eligibilty Guidelines for assessing the international protection needs of Afghan asylum-seekers vom Dezember 2007; UNHCR: Update of the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations vom Juni 2005).

Zur Situation ehemaliger Kommunisten ist weiterhin zu bedenken, dass keine Berichte über eine Verfolgung durch die Regierung Karzai vorliegen und offenbar viele von ihnen unbehelligt in Afghanistan leben können. Viele ehemalige Kommunisten arbeiten auch für die Regierung. Im August 2003 wurde auf einem Kongress ehemaliger DVPA-Mitglieder die Hezb-e-Mutahid-e-Mili (Nationale Vereinigte Partei) gegründet. Sie wurde 2005 vom Justizministerium zugelassen und hat ca. 600 Mitglieder. Darüber hinaus entstanden mindestens 15 weitere Parteien, die von früheren DVPA-Mitgliedern gegründet wurden (vgl. UNHCR's Eligibilty Guidelines for assessing the international protection needs of Afghan asylum-seekers vom Dezember 2007; Ruttig, Thomas: Islamists, Leftists - and a Void in the Center. Afghanistan's Political Parties and where they come from (1902 - 2006), herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung). Hieraus kann geschlossen werden, dass die gegenwärtige Regierung nicht grundsätzlich gegen ehemalige Kommunisten eingestellt ist, sondern sich eher darum bemüht, im Interesse der Zukunft Afghanistans die "alten Zeiten ruhen" zu lassen. Auch private Racheakte drohen grundsätzlich nur hochrangigen Repräsentanten des kommunistischen Systems oder solchen, die mit Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang gebracht werden können. Aufgrund des zwischenzeitlich eingetretenen zeitlichen Abstands zum Ende der kommunistischen Herrschaft im April 1992, der Entmachtung der Taliban Ende 2001, der Präsenz der ISAF-Truppen und der amerikanischen Streitkräfte mit ihren Verbündeten sowie der internationalen Hilfeleistung und Beobachtung, sind tendenziell an eine landesweite Lebens- oder Leibesgefährdung ehemaliger DVPA-Mitglieder eher höhere Anforderungen an deren herausragende Stellung, an ihren überregionalen Bekanntheitsgrad und an ihre Teilnahme an gegen Mujahedin gerichtete Aktivitäten, die ihnen zum Vorwurf gemacht werden könnten, zu stellen als unter der Herrschaft der Taliban. Diese Ansicht wird auch in der Rechtsprechung vertreten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.08.2007, Az.: 12 N 98.06; VGH Kassel, Urteil vom 12.07.2007, Az.: 8 UE 3140/05; OVG Münster, Beschluss vom 16.03.2007, Az.: 20 A 111/06.A).

3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG liegen nicht vor.

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vor.

Die Gesamtschau der vorliegenden Informationen gibt hinsichtlich der Versorgungslage ein differenziertes Bild. Einerseits profitiert gerade Kabul vom Wiederaufbau und den Versorgungsleistungen durch die internationale Gemeinschaft, andererseits steht die Stadt durch die enorm hohe Anzahl von Rückkehrern vor dem Problem der adäquaten Versorgung. Während ein Teil der Rückkehrer die Möglichkeit hat, etwa im aufstrebenden Bausektor oder durch selbstständige Arbeit ein Auskommen zu finden, sind andere auf ein Leben ohne gesicherte Einkommensquelle am Rande des Existenzminimums in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern oder informellen Siedlungen angewiesen.

Hinsichtlich der Versorgung mit Nahrungsmitteln berichtet der Gutachter Dr. Danesch, dass Grundnahrungsmittel für die meisten Menschen kaum erschwinglich seien. Die Versorgungslage in Kabul sei derartig schlecht, dass täglich Menschen verhungerten bzw. infolge Unterernährung an Krankheiten stürben. Nach Angaben der Hilfsorganisation "Action contre la faim" stürben in nur drei Krankenhäusern täglich fünf bis sieben Personen durch Unterernährung. Die Dunkelziffer sei sehr viel höher (vgl. Dr. Danesch, Mostafa: Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.01.2006. S. 16 ff.; Gutachten vom 04.12.2006 an VGH Kassel, S. 22 ff.).

Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist Afghanistan hinsichtlich der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern weiterhin auf die Leistungen der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich zwar grundsätzlich verbessert. Wegen mangelnder Kaufkraft profitierten jedoch nicht alle Bevölkerungsschichten hiervon (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Az.: 508-516.8013 AFG).

Die bereits oben erwähnte Hilfsorganisation "Action contre la faim" zeichnet ein ähnliches Bild wie das Auswärtige Amt. Es sei festzustellen, dass sich Kabul und die ländlichen Gebiete nicht in gleichem Maße entwickeln würden und dass auch innerhalb Kabuls ein starker Kontrast bestehe. So lebten über die Hälfte der Einwohner in informellen Randsiedlungen ohne ausreichender Infrastruktur. Über 90 Prozent dieser Menschen ernährten sich ausschließlich von Tee und Brot, wofür sie den größten Teil ihres Einkommens aufwenden müssten. Die modernen Gebäude und großzügigen Häuser, die andererseits errichtet würden, seien ein deutlicher Beleg für die sozialen Unterschiede und den erworbenen Reichtum in einem Teil der Bevölkerung. Seit 2002 seien nach Angaben des UNHCR ca. 4,5 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt. Einige, die sich im Ausland etabliert hätten, kämen wegen ihrer Bindungen zurück, um am Wiederaufbau und der Entwicklung teilzuhaben. Sie seien meist gut ausgebildet und nähmen heute zentrale Positionen in der afghanischen Gesellschaft ein. Andere wiederum kämen mit weniger Mitteln als bei ihrer Ausreise zurück, in der Hoffnung wenigstens ihr "altes Leben" wieder aufnehmen zu können oder doch ein besseres als in den Flüchtlingslagern. Ihnen bleibe oft nichts anderes übrig, als sich in den Randgebieten der Städte niederzulassen, um hier nach Arbeit zu suchen (vgl. Action against Hunger: Afghanistan. October 2001 - October 2006). Auch Amnesty International berichtet, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die nicht wohlhabende Bevölkerung als unzureichend bezeichnet werden müsse. Viele litten unter Mangel- und Unterernährung. Zusammen mit einer mangelhaften Trinkwasserversorgung und unhygienischen Wohnverhältnissen in den Armenvierteln führe dies zu verschiedenen Krankheiten, deren Behandlung in der Regel nicht möglich sei (vgl. Amnesty International vom 17.01.2007 an VGH Kassel, Az.: ASA 11-06.031).

Die medizinische Versorgung ist in Afghanistan aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals - trotz mancher Verbesserungen - völlig unzureichend. Auch in Kabul, wo mehr Krankenhäuser als im übrigen Afghanistan angesiedelt sind, ist für die afghanische Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben. Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht bekannt. Familien und Stämme übernehmen die soziale Absicherung (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Az.: 508-516.80/3 AFG).

Die Versorgung mit Wohnraum ist nach übereinstimmenden Auskünften ungenügend. Das Angebot an Wohnraum ist knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich. Für die Reintegration der nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlinge ist das Ministerium für Flüchtlinge zusammen mit einigen anderen Ministerien verantwortlich. UNHCR (und z.T. IOM) leisten über ihre Rückkehrerprogramme Hilfe und sind bemüht, die afghanische Regierung zu unterstützen. Die Regierung beabsichtigt, Rückkehrer, die nicht bei Familienangehörigen unterkommen können, in Neubausiedlungen (sog. "townships") unterzubringen. Diese sind jedoch aufgrund fehlender Infrastruktur oder ihrer Lage in abgelegenen Gebieten häufig nicht für eine permanente Ansiedlung geeignet (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Az.: 508-516.80/3 AFG). In Kabul haben sich große Slumviertel gebildet. Die Caritas schätzt, dass etwa eine Million Menschen weder über einen ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser verfüge. Wohnungen seien praktisch unerschwinglich, auch einfache Zimmer mit Etagenbad überstiegen bei weitem das Budget vieler Einwohner. Die hygienischen Verhältnisse in den Armenvierteln seien katastrophal (vgl. Amnesty International vom 17.01.2007 an VGH Kassel, Az.: ASA 11-06.031).

Die wirtschaftliche Lage Afghanistans wird vom Auswärtigen Amt trotz eines bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwungs in manchen Städten (z.B. Kabul, Herat) weiterhin als desolat bezeichnet (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 07.03.2008, Az.: 508-516.8013 AFG). Die Arbeitslosenrate wird auf 65 Prozent geschätzt. Die Möglichkeit, eine legale und nachhaltige Erwerbsmöglichkeit zu finden, ist für Personen, die weder über besondere Qualifikationen noch über Beziehungen verfügen, gering. Diese Personen sind darauf angewiesen, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa im Bausektor, ein geringes Einkommen zu erwirtschaften. Eine Unterstützung durch Hilfsorganisationen ist nicht gesichert und i.d.R. nur zeitlich befristet (vgl. Dr. Bernt Glatzer, Gutachten vom 31.01.2008 für OVG Koblenz; Peter Rieck, Gutachten vom 15.01.2008 für OVG Koblenz).

Aus den vorliegenden Erkenntnissen folgt, dass es Bevölkerungsteile gibt, die Schwierigkeiten bei der Versorgung haben. Es gibt zwar einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere in Kabul, an dem aber nicht alle Bewohner gleichermaßen teilhaben. Insbesondere mittellose Rückkehrer müssen häufig ein Leben am Rande des Existenzminimums führen. Anzeichen für eine derart schlechte Versorgung, dass jeder Rückkehrer alsbald einer extremen Gefahr i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgesetzt wäre, gibt es aber nicht.

Unter diesem Gesichtspunkt kann es letztlich dahingestellt bleiben, ob die bislang vorliegenden ärztlichen Unterlagen für sich genommen ausreichen, um vom Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG für den Antragsteller auszugehen.

Vielmehr ist in seinem Falle unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustandes, seines Alters und seiner wirtschaftlichen Situation sowie seines siebenjährigen Auslandsaufenthaltes und den damit im Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Alltagsprobleme und einer etwaigen Arbeitsaufnahme nach Rückkehr in den Herkunftsstaat zu erwarten, dass es dem Antragsteller nicht gelingt, sich eine Lebensgrundlage zu verschaffen bzw. dass er am Rande des Existenzminimums leben müsste. Erschwerend kommt in seinem Falle hinzu, dass er in Afghanistan über keinen familiären Rückhalt mehr verfügt. Daher ist davon auszugehen, dass ihm nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG droht.