VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 20.06.2008 - 11 A 8034/06 - asyl.net: M13821
https://www.asyl.net/rsdb/M13821
Leitsatz:

Leistungen nach dem BAföG stehen der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 2 Abs. 3 AufenthG nicht entgegen; zur Passbeschaffung von iranischen Staatsangehörigen.

 

Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Untätigkeitsklage, Aufenthaltsdauer, Duldung, Unterbrechung, Altfälle, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Lebensunterhalt, BAföG, Referendare, allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, Passpflicht, atypischer Ausnahmefall, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Beurteilungszeitpunkt, Kennkarte, Geburtsurkunde, Iran, Iraner, Auslandsvertretung, Zeugen, Familienangehörige, Vollmacht, Beweislast, Ermessen
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 102 Abs. 2; AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 2 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; VwGO § 75
Auszüge:

Leistungen nach dem BAföG stehen der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 2 Abs. 3 AufenthG nicht entgegen; zur Passbeschaffung von iranischen Staatsangehörigen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist als Untätigkeitsklage im Sinne von § 75 VwGO zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Die Kläger haben Anspruch auf Bescheidung ihrer Anträge auf Erteilung von Niederlassungserlaubnissen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 26 Abs. 4 AufenthG, die das Ermessen des Beklagten eröffnet, liegen vor.

Die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erfüllen die Kläger. Nach § 26 Abs. 4 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Auf die 7-Jahres-Frist wird nach § 102 Abs. 2 AufenthG die Zeit einer Duldung vor dem 01.01.2005 angerechnet. Hierbei kommt es weder auf den Duldungsgrund noch darauf an, ob der Ausländer ihn verschuldet hat (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.05.2007 - 11 A 2093/06 - Juris). Die fünf Jahre und neun Monate zwischen dem 27.02.1998 und dem 31.12.2004, in denen die Kläger eine Duldung hatten, sind nach § 102 Abs. 2 AufenthG anrechenbar. Hinzu kommt der Zeitraum von einem Jahr und sechs Monaten zwischen dem 06.06.2005 und dem 05.12.2006, in denen die Kläger eine Aufenthaltserlaubnis besaßen. Die Kläger kommen damit auf eine nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anrechenbare Zeit von sieben Jahren und drei Monaten.

Auch der Lebensunterhalt der Kläger zu 2) und 3) ist gesichert i.S.d. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Die beiden Kläger beziehen Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Eine Anspruchsberechtigung besteht über die langjährige Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1) nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BAföG. Ebenso wie Fördermaßnahme nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BAFöG stellt diese Förderung keine für die Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG schädliche öffentliche Leistung dar (VG Stuttgart, Urt. v. 20.07.2006 - 4 K 921/06 - Juris). Dies folgt zwar in erster Linie nicht unmittelbar aus § 2 Abs. 3 AufenthG, erschließt sich aber direkt aus den maßgeblichen gesetzlichen Wertungen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Wenn das Gesetz in § 8 Abs. 3 (nicht privilegierten) Ausländern nach bestimmten Mindestbeschäftigungszeiten gesetzliche Förderungsansprüche einräumt, so kommt darin zum Ausdruck, dass dieser Personenkreis nach der Wertung des Gesetzgebers deshalb förderungswürdig ist, weil er in bestimmtem Umfang durch seine Erwerbstätigkeit mit dazu beigetragen hat, dass Sozialinvestitionen wie die Ausbildungsförderung möglich sind (vgl. ausdrücklich BT-Drucks. VI/1975 zu § 8). Ausgehend hiervon würde es aber einen systematischen Widerspruch bedeuten, wenn man andererseits solchen Ausländern ein Aufenthaltsrecht verweigern wollte mit der Folge, dass bei typisierender Betrachtungsweise diese Ansprüche dann in Ermangelung eines Aufenthalts nicht realisiert werden könnten. Zu bedenken ist weiterhin, dass die Kläger zu 2) und zu 3) in ihrem Studium mittlerweile fortgeschritten sind und sich auf die 1. Juristische Prüfung vorbereiten. Wenn sie diese bestanden haben, können sie als Rechtsreferendare in Niedersachsen in ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis eintreten (§ 5 Abs. 1 NJAG). Sie werden eine Unterhaltsbeihilfe nach § 5 Abs. 3 NJAG in Höhe von derzeit 873,73 EUR brutto erhalten, wodurch ihr Lebensunterhalt auch nach Abschluss des universitären Studiums gesichert sein wird.

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an die Kläger auch nicht die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 S. 1 AufenthG, soweit sie neben § 9 AufenthG anwendbar sind, entgegen.

Die Passpflicht erfüllen die Kläger nicht. Allerdings liegen im vorliegenden Einzelfall Gründe vor, die ausnahmsweise eine Abweichung von der Passpflicht rechtfertigen. Zu solchen Gründen gehören außer die in § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG genannten Fällen insbesondere die im früheren § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG ausdrücklich geregelten Fälle. Hierzu zählt auch der Fall, dass sich der Ausländer rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und einen Pass in einem anderen Staat in zumutbarer Weise nicht erlangen kann (BT-Drs. 15/420, S. 70). Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Kläger haben sich zum Zeitpunkt, in dem sie einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gestellt haben, rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, weil sie eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG hatten; seit Antragstellung gilt die Aufenthaltserlaubnis gem. § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend. Das Gericht geht auch davon aus, dass sie einen iranischen Pass nicht in zumutbarer Weise erlangen können.

Die Kläger haben zur Überzeugung des Gerichts die erforderlichen und zumutbaren Anstrengungen Anstrengungen nachgewiesen, Passpapiere zu erhalten. Auf die frühere Weigerung, Anträge zu stellen, kommt es nicht an, weil der maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bei der Unterlassungsklage nach § 75 VwGO der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist. Zu diesem Zeitpunkt müssen die fraglichen Tatbestandsvoraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch vorliegen.

Liegt - wie im Fall der Kläger - eine Kennkarte nicht vor, muss zunächst eine Ersatzkennkarte beantragt werden. Die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Ersatzkennkarte sind nach der Erkenntnislage neben einem entsprechenden Antrag die Vorlage eines iranischen Dokuments, das ein Lichtbild des Antragstellers trägt; in Betracht kommen etwa der Personalausweis, der Führerschein, Studentenausweis oder Schülerausweis. Dies ergibt sich aus einem Antragsformular der iranischen Botschaft in Berlin, das der Prozessbevollmächtigte der Kläger in dem Gerichtsverfahren der Kläger gegen die Region Hannover (4 A 140/01) unter dem 12.05.2005 zur Akte gereicht hat, wobei dieses Formular weitere Voraussetzungen aufzählt (Vorlage von beglaubigten Kopien der Geburtsurkunde des Antragstellers oder seiner Eltern, Original und Kopie einer mit einem Lichtbild versehenen ausländischen Urkunde, Original und Kopie der Aufenthaltsstatusurkunde). Das Erfordernis der Vorlage von iranischen Urkunden mit Lichtbild gilt ausweislich eines Antragsformulars, das der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 29.07.2005 in dem Verfahren gegen die Region Hannover (11 A 2423/05) vorgelegt hat, auch für die Ausstellung eines Passersatzpapiers (Laissez Passer). Ergebnisse der Recherchen des Gerichts, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, bestätigen diese Anforderungen (vgl. Auskunft des "Immigration and Refugee Board of Canada", dortiges Az. IRN101296.E, www.irb-cisr.gc.ca, zuletzt aufgerufen am 18.06.2008). Diese Voraussetzungen erfüllen die Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht, da sie über keine Originaldokumente aus dem Iran verfügen, die ein Lichtbild tragen. Die Klägerin zu 1) vergaß ihre bei Asylantragstellung noch vorliegenden iranischen Führerschein und Dienstausweis, die Lichtbilder trugen, in einer Telefonzelle auf dem Gelände des Bundesamtes in Oldenburg, von der aus sie Verwandte angerufen hatte. Nachdem sie den Verlust bemerkt hatte und die Unterlagen suchte, musste sie feststellen, dass sie sich nicht mehr in der Telefonzelle befanden. In der mündlichen Verhandlung konnte die Klägerin zu 1) aus ihrer Erinnerung nachvollziehbar und unter Schilderung von Details auch aus dem Randgeschehen die Umstände des Verlusts schildern, so dass das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit ihrer Darstellung hat.

Die Kläger können auch nicht den offenbar alternativ möglichen Weg des Identitätsnachweises durch Zeugen beschreiten. Ein ebenfalls vom Prozessbevollmächtigten am 12.05.2005 vorgelegtes Antragsformular der iranischen Botschaft zur Ausstellung einer Ersatzkennkarte sieht die Bestätigung der Richtigkeit der Angaben durch zwei Zeugen vor, wobei dieses Formular nicht danach unterscheidet, ob es sich bei den Zeugen um Verwandte oder Bekannte handelt oder ob diese Zeugen den Antragsteller aus dem Iran kennen oder nicht. Unter den Beteiligten besteht jedoch Übereinstimmung, dass die Zeugen mit den Antragstellern nicht verwandt oder verschwägert sein dürfen und die Zeugen die Antragsteller jedenfalls noch aus dem Iran kennen müssen. Dies wird bestätigt durch die Stellungnahme des Sachbearbeiters ... der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde (ZAST) Braunschweig - Außenstelle Lüneburg - vom 01.02.2006 und vom 11.12.2007 sowie durch eine Information der iranischen Botschaft in Ungarn zur Ausstellung einer Ersatzkennkarte (www.iranembassy/hu/birthcertificate.html, zuletzt aufgerufen am 18.06.2008). Diese Information konnte das Gericht nutzbar machen, da sie in englischer Sprache abgefasst ist. Sie ist auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Selbst wenn also davon ausgegangen werden kann, dass der Identitätsnachweis auch durch Zeugen geführt werden kann, ist dieser Nachweis den Klägern nicht möglich. In der mündlichen Verhandlung haben sie vorgetragen, dass im Bundesgebiet zwar viele ihrer Verwandten lebten, aber keine ehemaligen Nachbarn aus dem Iran, die ihre Identität bestätigen könnten. An der Richtigkeit dieser plausiblen und nicht zu widerlegenden Aussage hat das Gericht keine Zweifel.

Schließlich soll es auch möglich sein, eine Kennkarte oder Geburtsurkunde im Iran zu beschaffen. Nach einer im Verfahren gegen die Region Hannover (11 A 2423/05) erlangten Auskunft der Deutschen Botschaft in Teheran vom 20.01.2006 ist das ehemals praktizierte Verfahren, hierzu einen Vertrauensanwalt einzusetzen, nicht mehr möglich. Davon geht ersichtlich auch die Beklagte mittlerweile aus. In Betracht kommt danach allein die Antragstellung durch Verwandte. In der mündlichen Verhandlung bestand Übereinstimmung zwischen den Beteiligten, dass dies für die Kläger kein gangbarer Weg ist. Es kann dahinstehen, ob diese Verwandten eine von der iranischen Botschaft beglaubigte Vollmacht des Antragstellers vorlegen müssen, die ihrerseits einen Identitätsnachweis verlangte, oder eine einfache Bevollmächtigung ausreicht. Auch für letzteren Fall verweist die ergänzende Auskunft der Deutschen Botschaft vom 14.03.2006 auf einen Identitätsnachweis:

"Einen Versuch ist es sicherlich wert, allerdings erfährt man wohl erst im Rahmen einer persönlichen Vorsprache, was machbar ist und was nicht. Mit einer einfachen Bevollmächtigung sollte es vielleicht schon klappen, und Unterlagen, die das Verwandtschaftsverhältnis belegen."

Dass keinerlei Identitätsnachweis durch den Antragsteller erforderlich ist, ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht aus der Stellungnahme des Herrn ... von der ZAST Braunschweig vom 11.12.2007; die Stellungnahme geht von einer Vollmacht für den Stellvertreter im Iran aus und schweigt im Übrigen zu den formalen Anforderungen an die Vollmacht. Die Bevollmächtigung von im Iran lebenden Verwandten mit oder ohne durch die iranische Auslandsvertretung beglaubigte Vollmacht ist den Klägern nicht möglich, da sie nach eigenen Angaben keine näheren Verwandten im Iran mehr haben.

Die Kläger sind ihrer Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich der im Ergebnis erfolglosen Mitwirkung bei der Passbeschaffung mithin nachgekommen. Das Gericht hat bei der Wertung ihres Vortrags berücksichtigt, dass die Anforderungen an den Nachweis des Fehlens von Dokumenten nicht zu hoch angesetzt werden können; das Nichtvorliegen von Dokumenten ist im Einzelfall nämlich ebenso schwierig zu beweisen wie der Nichteintritt von Ereignissen. Die Kläger haben, wie oben ausgeführt, das Fehlen der Dokumente jedenfalls plausibel gemacht.

Der Vortrag der Kläger, über keine iranischen Dokumente mit Lichtbild zum Nachweis ihrer Identität zu verfügen, verliert nach Auffassung des Gerichts auch nicht dadurch an Plausibilität, dass sie sich jahrelang weigerten, überhaupt einen Antrag auf Ausstellung eines iranischen Passes zu stellen. Es kann den Klägern nicht vorgeworfen werden, sich nicht von vornherein auf die Unzumutbarkeit der Antragstellung aufgrund ihrer fehlenden Erfolgsaussichten berufen zu haben, sondern sich mit der von einer Vielzahl von abgelehnten Asylbewerbern praktizierten Weigerung, überhaupt etwas zu unternehmen, gegen eine Abschiebung gesperrt zu haben. Hieraus kann allenfalls der Schluss gezogen werden, dass die damals nicht anwaltlich vertretenen Kläger sich am Verhalten Dritter orientiert haben, ohne sich um die Klärung ihnen nicht bekannter Rechtsfragen zu bemühen. Dies gilt insbesondere für die Kläger zu 2) und 3), die sich ersichtlich der Strategie ihrer Mutter angeschlossen hatten.

Weitere Versuche zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapiers konnten von den Klägern nicht verlangt werden. Die einem Ausländer zur Beseitigung der Ausreisehindernisse im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (§ 82 Abs. 1 AufenthG) zumutbaren Anforderungen enden dann, wenn erkennbar ist, dass entsprechende Handlungen von vornherein aussichtslos sind, d.h. wenn praktisch ausgeschlossen erscheint, dass sie den gewünschten Erfolg erzielen könnten. Dies ist - wie ausgeführt - vorliegend der Fall.

Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an jeden der Kläger steht daher, weil die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen und die Erteilungsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG zu bejahen sind, im Ermessen der Beklagten. Da für das Gericht nicht erkennbar ist, dass sich das Ermessen der Beklagten auf Null reduziert hat, ist die Beklagte im Wege eines Bescheidungsurteils zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes über die Anträge auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an die Kläger zu bescheiden.