VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2008 - A 11 K 1399/08 - asyl.net: M13831
https://www.asyl.net/rsdb/M13831
Leitsatz:

Die Einbürgerung des Stammberechtigten rechtfertigt den Widerruf von Familienasyl gem. § 73 Abs. 2 b AsylVfG; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für Drogenhändler wegen Gefahr der Doppelbestrafung im Iran.

 

Schlagwörter: Iran, Widerruf, Asylanerkennung, Familienasyl, Einbürgerung, Stammberechtigter, Erlöschen, Sippenhaft, Oppositionelle, Auslandsaufenthalt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Drogendelikte, Doppelbestrafung, Todesstrafe, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Auswärtiges Amt
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2b; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 3; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Einbürgerung des Stammberechtigten rechtfertigt den Widerruf von Familienasyl gem. § 73 Abs. 2 b AsylVfG; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für Drogenhändler wegen Gefahr der Doppelbestrafung im Iran.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Das Bundesamt hat die angegriffene Widerrufsentscheidung entsprechend seiner Begründung allein auf die Rechtsgrundlage des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützt. Die dort genannten Voraussetzungen liegen jedoch eindeutig nicht vor.

Unabhängig von der behördlichen Begründung ist das Gericht aber nach § 113 Abs. 1 VwGO von sich aus zur Prüfung verpflichtet, ob der angefochtene Verwaltungsakt mit dem objektiven Recht in Einklang steht.

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 b Satz 2 und 3 AsylVfG sind vorliegend erfüllt. Die Asylanerkennung der stammberechtigten Mutter, von der der Kläger seine Rechtsstellung ableitet, ist infolge von deren Einbürgerung in den deutschen Staatsverband gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG kraft Gesetzes erloschen. Selbst wenn aber der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht anwendbar sein sollte, hätte sich die Asylberechtigung der Mutter des Klägers durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit "eo ipso" bzw. im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG in anderer Weise erledigt, da ein deutscher Staatsangehöriger nicht zugleich Asylberechtigter im Sinne des § 26 Abs. 2 AsylVfG sein kann und das Asylrecht nach § 1 Abs. 1 AsylVfG und das Ausländerrecht nach § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 AufenthG auf Deutsche keine Anwendung findet (vgl. zum Meinungsstreit VG Schleswig, Urt. v. 17.11.2006 - 4 A 277/04 - juris - ; VG Karlsruhe, Urt. v. 21.09.2006 - A 6 K 11328/04 - juris-; VG Sigmaringen, Urt. v. 19.07.2006, InfAuslR 2006, 496; VG Darmstadt, Urt. v. 19.12.2007 - 9 E 687/06.A - juris -; VG Ansbach, Urt. v. 12.09.2007 - AN 11 K 07.30560 - juris -; OVG Münster, Beschl. v. 28.05.2008 - 8 A 1101/08.A - juris -; OVG Schleswig, Urt. v. 28.06.2007 - 1 LB 4/07 - juris -; VG München, Urt. v. 15.06.2007 - M 4 K 06.51044 - juris -; VG Köln, Urt. v. 07.02.2008 - 15 K 3805/07.A - juris -). Mit der Annahme einer neuen Staatsangehörigkeit verliert der Stammberechtigte - aus welchem der vorstehenden genannten Rechtsgründen auch immer - seinen Asylstatus. Dies löst die Rechtsfolge nach § 73 Abs. 2 b Satz 2 und 3 AsylVfG aus, da die Stammberechtigung als Grundlage für das Ehegattenasyl/Familienasyl nicht mehr vorhanden ist.

Eine Durchbrechung der strengen Akzessorietät des Familienasyls zum Stammrecht ist nicht aus Billigkeitsgründen geboten, da der Familienasylberechtigte nicht schutzlos wird. Vor einer asylrechtlich erheblichen Verfolgung im Heimatland ist der Familienasylberechtigte geschützt, weil der Widerruf nur erfolgen darf, wenn zuvor festgestellt wird, dass eine solche Gefährdungssituation nicht besteht. Alle anderen Gesichtspunkte (Familieneinheit, Vertrauensschutz, langer Aufenthalt, jugendliches Alter u. ä.) sind ausländerrechtlich zu berücksichtigen.

Gegen die Anwendung des § 73 Abs. 2 b Satz 2 und 3 AsylVfG im Falle der Einbürgerung des Stammberechtigten in den deutschen Staatsverband kann auch nicht - im Wege einer teleologischen Reduktion - eingewandt werden, der Stammberechtigte erwerbe mit der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband lediglich eine Rechtsstellung, die über die Anerkennung als Asylberechtigter hinausgehe und Schutz vermittle, ohne dass sich mit Blick auf das Heimatland an dem fortbestehenden Bedürfnis nach Schutz vor politischer Verfolgung durch den deutschen Staat etwas geändert habe (so VG Schleswig, Urt. v. 17.11.2006 a.a.O.; VG Köln, Urt. v. 07.02.2008 a.a.O.). Diese Ansicht übersieht jedoch, dass sich an der Verfolgungssituation im Heimatland auch dann nichts ändert, wenn der Stammberechtigte die Staatsangehörigkeit eines dritten Staates erwirbt und in diesem Fall die Asylanerkennung des Stammberechtigten unzweifelhaft nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erlischt. Dann muss aber dasselbe auch gelten im Falle der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

Der Kläger kann auch nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden; gleiches gilt hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der im Alter von 9 Jahren in das Bundesgebiet eingereiste Kläger hat im Iran politische Verfolgung nicht erlitten; dies macht er auch nicht geltend. Ihm droht bei einer Rückkehr in den Iran auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Sippenhaft. Die Gefahr der Sippenhaft besteht nur dann, wenn die iranischen Behörden entweder im Hinblick auf die Person des Angehörigen oder wegen der von ihr entfalteten politischen Betätigung ein besonderes Interesse daran haben, durch Druck auf den Asylbewerber zu bewirken, dass sich der Angehörige den iranischen Behörden stellt, bzw. den Asylbewerber im Hinblick auf seine Verwandtschaft zum Angehörigen (Oppositionellen) mit zu verfolgen. Ein derartiges politisches Interesse ist gegeben, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen um einen prominenten Regimegegner handelt oder dieser wegen politisch motivierter Verbrechen im Iran gesucht wird (vgl. Deutsches Orient-Institut, Stellungnahmen vom 01.12.2003 an VG Oldenburg und an VG Köln; Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 03.08.2000 an OVG Lüneburg, vom 27.11.2000 an VG Neustadt, vom 08.01.2003 an VG Leipzig und vom 12.07.2004 an das Bundesamt; ai, Stellungnahme vom 18.12.2000 an VG Berlin).

Im vorliegenden Fall ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich, dass nahe Angehörige des Klägers prominente Regimegegner sein könnten oder diese wegen politisch motivierter Verbrechen im Iran gesucht werden.

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Bei einem wegen Drogenhandels in Deutschland rechtskräftig verurteilten Iraner besteht bei einer Rückkehr in den Iran eine erhöhte Gefährdung. Dies folgt aus der Tatsache, dass das iranische Recht ein Verbot der Doppelbestrafung nicht kennt. Vielmehr ist es zulässig, einen Iraner, der im Ausland eine auch im Iran strafbare Handlung begangen hat und dort verurteilt wurde, nach Rückkehr einem erneuten Strafverfahren zu unterziehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19.03.2007 an VG Münster). Nach Art. 7 des iranischen Strafgesetzbuches wird jeder Iraner, der sich im Ausland strafbar gemacht hat und im Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden Gesetzen der Islamischen Republik Iran bestraft (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008, S. 24). Zwar hat das Auswärtige Amt bis zum Lagebericht vom 04.07.2007 regelmäßig mitgeteilt, dass konkrete Fälle einer Doppelbestrafung nicht bekannt geworden sind. Diese Aussage ist jedoch bezeichnender Weise im neuesten Lagebericht vom 18.03.2008 nicht mehr enthalten. Darüber hinaus ist die Aussage des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht vom 18.03.2008, S. 24), dass eine eventuell im Ausland verbüßte Strafe nach Aussagen von Vertretern der Justiz bei der Strafzumessung im iranischen Verfahren Anrechnung finden soll, nur verständlich vor dem Hintergrund, dass es erneut zu einer Bestrafung kommen kann.

Die Todesstrafe kann nach iranischem Recht für eine große Zahl von Delikten verhängt werden, u.a. auch für Rauschgiftschmuggel (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008, S. 30).

Ob dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran die Gefahr der Todesstrafe droht, braucht nicht entschieden zu werden. Denn im Falle des Klägers besteht bereits eine konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit bei der Abschiebung in den Iran. Jeder Iraner muss nach längerer Aufenthaltsdauer im Ausland mit einem Überprüfungsverfahren rechnen, in dessen Verlauf er detaillierte Angaben über seinen Aufenthalt im Ausland sowie dort ausgeübte Tätigkeiten machen muss (vgl. ai, Stellungnahme vom 17.12.1996 an VG Hannover). Diese Befragung kann in Ausnahmefällen mit einer ein- bis zweitägigen Inhaftierung einhergehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008, S. 34). Da nach Überzeugung des Gerichts eine Rückkehr des Klägers in den Iran nur im Wege der Abschiebung erfolgen wird, wird sich den iranischen Behörden aufdrängen, dass die Rückkehr des Klägers in den Iran auf besondere Umstände zurückgeführt werden kann. Um die Ursachen der Abschiebung herauszufinden, wird der Kläger einer intensiven Befragung unterzogen werden. Die Verhörmethoden im Iran umfassen jedoch seelische Folter, körperliche Folter sowie unmenschliche Behandlung (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008, S. 30). Bei diesen Verhörmethoden spricht alles dafür, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung in den Iran seine Verurteilung durch das Landgericht Stuttgart vom 26.10.2005 zu zwei Jahren Freiheitsstrafe wegen Rauschgifthandels nicht verheimlichen könnte. Zwar führt das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 18.03.2008 (S. 34) aus, dass keiner westlichen Botschaft bisher ein Fall bekannt geworden ist, in dem ein Zurückgeführter staatlichen Repressionen ausgesetzt war oder im Rahmen seiner Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurde. Diese Aussage des Auswärtigen Amtes besagt aber nicht, dass rechtsstaatswidrige Verhörmethoden bei der Einreise in den Iran nicht vorkommen, sondern lediglich, dass das Auswärtige Amt von derartigen Verhörmethoden bei Zurückgeführten keine Kenntnis erlangt hat. Angesichts der Willkür der iranischen Behörden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update vom 02.08.2006 S. 2) kann dieser Aussage des Auswärtigen Amtes über fehlende Referenzfälle keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden. Bei der Entscheidung, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint, sind nicht nur die Zahl der Referenzfälle stattgefundener Verfolgung, sondern auch das Vorhandensein eines feindseligen Klimas und die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991, BVerwGE 89, 162). Im vorliegenden Fall ist dabei in Rechnung zu stellen, dass der Iran kein Rechtsstaat ist, die Behörden willkürlich handeln, Folter bei Verhören, in der Untersuchungshaft und in regulärer Haft vorkommt, sowie willkürliche Festnahmen sowie lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil festzustellen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O. S. 2; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.03.2008 S. 30, 32). Unter diesen Umständen kann aber bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers trotz der möglicherweise unter fünfzig Prozent liegenden Wahrscheinlichkeit die Furcht vor Eingriffen in Leib, Leben und Freiheit, die vorliegend in Rede stehen, hervorgerufen werden. Dies führt zur Anerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. auch VG Hamburg, Urteil vom 24.04.2008 - 10 A 430/07 - juris -, VG Würzburg, Urteil vom 31.10.2005 - W 6 K 05.30306 - juris -; a. A. OVG Hamburg, Urteil vom 18.01.2002 - 1 Bf 21/98 - juris -).