BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 09.07.2008 - 2 BvR 1336/08 - asyl.net: M13836
https://www.asyl.net/rsdb/M13836
Leitsatz:

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts nach Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet kommt nur ausnahmsweise in Betracht; ein Ausnahmefall liegt vor, wenn der Antragsteller erhebliches Vorbringen im Wege des Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 VwGO geltend macht.

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerde, einstweilige Anordnung, Folgenabwägung, Sachaufklärungspflicht, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Abänderungsantrag, Flughafenverfahren, offensichtlich unbegründet, Präklusion
Normen: BVerfGG § 32 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 7; VwGO § 80 Abs. 5; GG Art. 2 Abs. 2; AsylVfG § 36 Abs. 4; GG Art. 16a Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7; AsylVfG § 18a
Auszüge:

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 35>; 89, 109 110 f.>; stRspr).

2. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Dies gilt jedenfalls insoweit, als sie sich gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts nach § 80 Abs. 7 VwGO vom 5. Juni 2008 und vom 2. Juli 2008 richtet. Insbesondere bedarf es näherer Klärung, ob das Verwaltungsgericht den namentlich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergehenden Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung (vgl. BVerfGE 52, 214 220 ff.>; 70, 297 308>; 101, 275 294 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 2008 - 2 BvR 1661/06 -, juris) hinsichtlich der durch den Antragsteller geltend gemachten Rückkehrgefährdungen gerecht geworden ist.

3. a) In Verfassungsbeschwerdeverfahren, denen Asylverfahren zugrunde liegen, in denen Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sind, ist bei der Folgenabwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG zu berücksichtigen, dass bereits verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung gewährt werden darf. Art. 16a Abs. 4 GG modifiziert insoweit die Rechtsschutzgarantien aus Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. BVerfGE 94, 166 218 f.>). Damit wird für die offensichtlich unbegründeten Asylanträge dem öffentlichen Interesse an dem Sofortvollzug der behördlichen Entscheidung von Verfassungs wegen der Vorrang vor dem Individualinteresse eingeräumt, solange das Verwaltungsgericht nicht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils hat. Hat die Verfassung mit dieser Abwägung und Gewichtung von Individual- und Gemeinwohlbelangen Art. 19 Abs. 4 GG modifiziert und insoweit schon verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz nur eingeschränkt zugelassen, so bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf die nach § 32 BVerfGG vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG kommt in Fällen, in denen das Bundesamt den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, kaum in Betracht (vgl. BVerfGE 94, 166 218 f.>).

b) Hier ist ausnahmsweise auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorprägung der Folgenabwägung durch Art. 16a Abs. 4 GG Raum für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (aa)). Die Nachteile, die der Beschwerdeführer hinnehmen müsste, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, er aber mit der Verfassungsbeschwerde obsiegte, wiegen hier schwerer als die Nachteile für die Allgemeinheit, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Beschwerdeführer aber später mit seiner Verfassungsbeschwerde nicht durchdringen könnte (bb)).

aa) Im Unterschied zum Regelfall einer Verfassungsbeschwerde gegen eine das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes bestätigende verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidung sind die hier für das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 5 oder 7 AufenthG wesentlichen tatsächlichen Umstände im Verfahren vor dem Bundesamt nicht erörtert und erst mit dem ersten der beiden Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO geltend gemacht worden, ohne dass das Verwaltungsgericht den Antrag insoweit als unzulässig erachtet oder aber den neuen Vortrag nach § 18a Abs. 4 Satz 6, § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylVfG unberücksichtigt gelassen hätte. Damit handelt es sich hier nicht um den Regelfall, bei dem zunächst das Bundesamt zu einem Offensichtlichkeitsurteil gelangt ist und das Verwaltungsgericht dieses Ergebnis auf der Grundlage von im Wesentlichen gleichen Tatsachen auf das Bestehen ernstlicher Zweifel an seiner Richtigkeit überprüft hat. Jedenfalls wenn es wie hier an der übereinstimmenden Tatsacheneinschätzung von Bundesamt und Verwaltungsgericht fehlt, weil im verwaltungsgerichtlichen Verfahren andere Umstände im Mittelpunkt der Erwägungen stehen als vor dem Bundesamt, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht von vornherein ausgeschlossen. Er wird aber, auch schon wegen der in § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylVfG verankerten Möglichkeit der Zurückweisung von Tatsachen und Umständen, die einer Abschiebung entgegenstehen, im Verwaltungsverfahren aber nicht vorgebracht worden sind, nur ausnahmsweise in Betracht kommen.

bb) Bliebe dem Beschwerdeführer der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnte dies seine Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr angemessen kompensieren. Das Vorliegen der von ihm behaupteten Verfolgungsgründe und Abschiebungsverbote wäre dann nicht vor seiner Rückkehr in einem den Anforderungen der Verfassung gerecht werdenden Gerichtsverfahren überprüft worden. Träfe sein Vortrag inhaltlich zu, wären die Folgen bereits unabänderlich. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Beschwerdeführer der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen hier ausnahmsweise weniger schwer.

4. Mit der einstweiligen Anordnung wird nur die Zurückweisung nach Eritrea einstweilen untersagt, nicht aber die Verpflichtung zur Gewährung der Einreise ausgesprochen. Letzteres entspräche dem Begehren im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Da aber selbst bei einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde nur die Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse und eine Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht in Betracht kommt, kann der Beschwerdeführer auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung in der Sache (hier: Einreise in das Bundesgebiet) nicht erhalten.