OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 17.06.2008 - 4 Bs 76/08 - asyl.net: M13840
https://www.asyl.net/rsdb/M13840
Leitsatz:

Bei der Frage, ob die Abschiebung in unverhältnismäßiger Weise in die allgemeine Handlungsfreiheit des Ausländers eingreift, ist auch ein Umgangsrecht, das dem Ausländer gemäß § 1685 Abs. 2 BGB im Interesse des Kindes zusteht, zu berücksichtigen (in Abgrenzung zu VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006, AuAS 2007, 38).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Adoption, Elternrecht, Eltern, Persönlichkeitsrecht, Verhältnismäßigkeit, Umgangsrecht, enge Bezugspersonen, Kindeswohl, Straftaten, Ausweisung, Wiederholungsgefahr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 1; BGB § 1751 Abs. 1; AufenthG § 56 Abs. 1; BGB § 1685 Abs. 1; BGB § 1685 Abs. 2
Auszüge:

Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben. Vielmehr ist die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegt. Es kann jedenfalls im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben, ob es sich trotz der erfolgten Adoption des Kindes gleichwohl noch aus Art. 6 GG ergeben kann. Der Antragsteller ist zwar der leibliche Vater des Kindes, trägt jedoch keine Elternverantwortung mehr. Bereits mit der Zustimmungserklärung zur Adoption ruht die elterliche Sorge und erlischt das Umgangsrecht (§ 1751 Abs. 1 BGB). Durch die Adoption erlangt das Kind die Stellung eines leiblichen Kindes des oder der Annehmenden; die verwandtschaftlichen Beziehungen des Kindes zur Ursprungsfamilie erlöschen (§ 1755 Abs. 1 BGB). Daneben kann der Antragsteller nicht mehr Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sein. Denn Inhaber dieses Rechts ist, wer zugleich die Elternverantwortung trägt, unabhängig davon, ob sich die Elternschaft auf Abstammung oder auf Rechtszuweisung gründet (BVerfG, Beschl. v. 20.9.2006, FamRZ, 1661). Daneben kann es keine weiteren Träger des Elternrechts geben, da dies für ein Kind nur eine Mutter und ein Vater sein können (BVerfG, Beschl. v. 9.4.2003, BVerfGE 108, 82). Fraglich erscheint allerdings, ob das zugleich zur Folge hat, dass eine gleichwohl fortbestehende Lebensgemeinschaft des (adoptierten) Kindes mit seinem biologischen Vater auch nicht mehr unter den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fällt (so: OLG Schleswig, Beschl. v. 30.1.2004, FamRZ 2004, 1057; offen lassend: OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.3.2006, FamRZ 2006, 1865).

Diese Frage kann dahingestellt bleiben, weil auch dann, wenn sie zu verneinen sein sollte, gleichwohl ein rechtliches Abschiebungshindernis vorliegen dürfte. Denn die Abschiebung des Antragstellers erweist sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls als unverhältnismäßiger Eingriff in sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG.

Es spricht viel dafür, dass mit der Abschiebung die Handlungsfreiheit des Antragstellers nach diesen Maßstäben in einer Weise eingeschränkt wird, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr entspricht. Seine Handlungsfreiheit umfasst das Recht, mit dem jetzt knapp 13 Jahre alten A., dessen biologischer Vater der Antragsteller ist, in Deutschland Umgang zu pflegen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ihm dieses Umgangsrecht zusteht. Es ergibt sich aus § 1685 Abs. 1 und 2 BGB. Danach haben enge Bezugspersonen des Kindes ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn sie für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben und wenn der Umgang dem Wohl des Kindes dient. Wie sogar das nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht ist dieses Umgangsrecht auf das Kindeswohl ausgerichtet und deshalb ein Recht im Interesse des Kindes (zu Art. 6: BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287). Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen vorliegen. Auf die vom VGH Mannheim aufgeworfene (und verneinte) Frage, ob sich aus § 1685 Abs. 2 BGB ein rechtliches Abschiebungshindernis ergeben könne (Beschl. v. 22.11.2006, AuAS 2007, 38), kommt es bei einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht an.

Ob der Antragsteller deshalb - wenn nicht als Vater, so zumindest als sonstige enge Bezugsperson im Sinne des § 1685 Abs. 2 BGB - ein eigenes Umgangsrecht mit dem Kind hat, hängt entscheidend davon ab, ob dieser Umgang dem Wohl des Kindes dient. Nach dem Vorbringen des Antragstellers und den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen kann hiervon ausgegangen werden. Hiernach deutet alles darauf hin, dass der Antragsteller - jedenfalls heute - die entscheidende Bezugsperson für das Kind ist, die ihm den nötigen Halt gibt. Die Eltern des Antragstellers (und Adoptiveltern des Kindes) scheinen nach den eigenen Angaben des Antragstellers zwar bemüht zu sein, dem Wohl des Kindes Rechnung zu tragen. Allerdings wird hier nicht unberücksichtigt bleiben können, dass der Antragsteller nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen in der Familie offenbar durchgehend als der Vater von A. in Erscheinung getreten ist, und zwar auch nach dessen Adoption durch die Eltern des Antragstellers.

Bei der Bewertung, ob die Abschiebung in unverhältnismäßiger Weise dieses Recht auf Umgang einschränkt, ist ebenfalls das Kindeswohl zu berücksichtigen, dem das Umgangsrecht entscheidend dient. Je stärker das Wohl des Kindes von diesem Umgang abhängt, desto gewichtiger müssen die Gründe sein, die es rechtfertigen, das Kindeswohl gleichwohl zurücktreten zu lassen.

Nach diesen Maßstäben erscheint hier der mit der Abschiebung des Antragstellers verbundene Eingriff in seine Handlungsfreiheit und in das hiermit in untrennbarem Zusammenhang stehende Kindeswohl nicht gerechtfertigt. In welchem Umfang das Kindeswohl tatsächlich von der Anwesenheit des Antragstellers abhängt, steht bislang zwar nicht mit Sicherheit fest. Wie oben ausgeführt, spricht alles dafür, dass der Umgang des Antragstellers dem Kindeswohl dient. Nicht geklärt ist hingegen, wie erheblich der Schaden für das Wohl des Kindes wäre, wenn es auf den Umgang mit dem Antragsteller verzichten müsste. Die Antragsgegnerin, die sich mit dem Kindeswohl bislang überhaupt nicht befasst hat, hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die der Umgang des Kindes mit seinen Eltern für seine Entwicklung hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287, juris Rn. 79 und 85), dürfte im Regelfall von einer erheblichen Gefahr für das Kindeswohl beim Abbruch des Umgangs auszugehen sein. Das gilt auch hier, obwohl der Antragsteller nicht mehr im Rechtssinne der Vater des Kindes ist. Denn das offenbar tatsächlich gelebte Vater-Kind-Verhältnis dürfte nicht deshalb belastbarer sein, weil die Bezugsperson, die das Kind als Vater ansieht und die auch tatsächlich der biologische Vater ist, im Rechtssinne diese Rolle nicht mehr innehat.

Demgegenüber sind keine öffentlichen Belange von solchem Gewicht erkennbar, denen der Vorrang gegenüber dem Umgangsrecht des Antragstellers und dem Kindeswohl einzuräumen wäre. Trotz der ganz erheblichen Straftaten unter Gewaltanwendung, die der Antragsteller in der Vergangenheit begangen hat, dürfte gegenwärtig wohl keine konkrete Wiederholungsgefahr mehr anzunehmen sein.