VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.07.2008 - 11 S 158/08 - asyl.net: M13845
https://www.asyl.net/rsdb/M13845
Leitsatz:

1. Die Soll-Vorschrift in § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedeutet, dass die Aufenthaltserlaubnis in der Regel erteilt werden muss und nur bei Vorliegen von atypischen Umständen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist. Ob atypische Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde erfordern, ist als Rechtsvoraussetzung von den Gerichten zu überprüfen.

2. Wann ein atypischer Fall anzunehmen ist, ist nach dem Zweck des § 104 a Abs. 1 AufenthG - Gewährung einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive für langjährig geduldete und integrierte Ausländer - zu bestimmen. Dabei dürften nur Umstände berücksichtigungsfähig sein, die nicht bereits in den Tatbestandsvoraussetzungen von § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG als Integrationskriterien geregelt sind.

3. Der "tatsächliche Schulbesuch" dürfte i. S. des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nachgewiesen sein, wenn das Kind während seines schulpflichtigen Alters - ungeachtet der in den Bundesländern in Bezug auf geduldete vollziehbar ausreisepflichtige Kinder unterschiedlich beantworteten Frage, ob es der Schulpflicht unterliegt oder nicht - ohne Unterbrechung in eine Schule aufgenommen war und im Sinne der landesrechtlichen Regelungen über die Schulbesuchspflicht am Unterricht teilgenommen hat.

4. Ob unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht ("Schulschwänzen") den Nachweis des "tatsächlichen Schulbesuchs" ausschließt, ist eine Frage des Einzelfalls und gemäß dem integrationspolitischen Zweck des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu beantworten, also danach, ob es - auch unter ergänzender Berücksichtigung erlaubter Abwesenheitszeiten - die aufgrund des jeweiligen Schulbesuchs erwartbare sprachliche wie soziale Integration und das Erreichen des gegebenenfalls angestrebten Schulabschlusses ausschließt oder ernsthaft in Frage stellt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Aufenthaltserlaubnis, atypischer Ausnahmefall, Ermessen, Erlasslage, Schulbesuch, Schulschwänzen, Lebensunterhalt, Zukunftsprognose
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 3; VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 23 Abs. 1
Auszüge:

Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Überprüfung der Senat grundsätzlich beschränkt ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), gebieten keine andere Entscheidung über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Sicherung der in der Hauptsache verfolgten Ansprüche auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Mit der Ausgestaltung als Soll-Vorschrift wird die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen im Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 AufenthG erleichtert. Während der Ausländer nach § 23 Abs. 1 AufenthG keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, sondern nur Gleichbehandlung nach Maßgabe der von der obersten Landesbehörde gebilligten praktischen Anwendung ihrer Anordnung i. S. des § 23 Abs. 1 AufenthG innerhalb des jeweiligen Bundeslandes beanspruchen kann (vgl. <zur Vorgängervorschrift in § 32 AuslG> BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63), bedeutet die Soll-Vorschrift in § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass die Aufenthaltserlaubnis in der Regel erteilt werden m u s s und nur bei Vorliegen von atypischen Umständen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist (vgl. <zur Soll-Vorschrift des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG> BVerwG, Urt. v. 22.11.2005 - 1 C 18.04 - BVerwGE 124, 326). Zweck dieser gesetzlichen "Altfallregelung", die sich eng an den Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz - IMK-Beschluss - vom 17.11.2006 (abgedruckt bei Hailbronner, AuslR, § 23 - Stand Februar 2008 - Anlage I) anlehnt, ist es, dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und hier integrierten Ausländer nach einer dauerhaften Perspektive in Deutschland Rechnung zu tragen, wobei die in § 104 a Abs. 1 AufenthG genannten Kriterien diejenigen begünstigen sollen, "die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind und sich rechtstreu verhalten haben" (BT-Drs. 16/5065 S. 201 f.). Ob atypische Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde erfordern, ist als Rechtsvoraussetzung von den Gerichten zu überprüfen (Senatsbeschluss vom 16.04.2008 - 11 S 100/08 - juris; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 22.11.2005, a.a.O., m.w.N.). Die Ausländerbehörde hat insoweit kein Ermessen. Verwaltungsvorschriften oder ministerielle Anwendungshinweise binden die Gerichte mithin ebenso wenig wie bei der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 104 a Abs. 1 AufenthG. Wann ein atypischer Fall anzunehmen ist, ist nach dem Zweck des § 104 a Abs. 1 AufenthG - Gewährung einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive für langjährig geduldete und integrierte Ausländer - zu bestimmen. Dabei dürften aus systematischen Gründen freilich nur Umstände berücksichtigungsfähig sein, die nicht bereits in den Tatbestandsvoraussetzungen von § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG als Integrationskriterien geregelt sind (vgl. Hailbronner, a.a.O. §104 a AufenthG - Stand Februar 2008 - Rn. 3).

b) § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG verlangt für Kinder im schulpflichtigen Alter - lediglich - einen Nachweis über den "tatsächlichen Schulbesuch". Der Gesetzgeber formuliert damit in Anlehnung an Nr. 4.2 Satz 1 IMK-Beschluss ein bildungsbezogenes Integrationskriterium. Der Besuch einer Schule im schulpflichtigen Alter fördert die sprachliche wie soziale Integration und ermöglicht den Erwerb eines die spätere Berufsausbildung ermöglichenden Schulabschlusses. Anders als Nr. 4.2 Satz 1 IMK-Beschluss, wonach der Nachweis "durch Zeugnisvorlage" zu führen ist, schreibt § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG allerdings keinen qualifizierten Nachweis vor. Insbesondere ermächtigt die Vorschrift die Behörde abweichend von Nr. 4.2 Satz 1 IMK-Beschluss nicht, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis von einer "positiven Schulabschlussprognose" abhängig zu machen. Es genügt, dass die Schule tatsächlich besucht wird. Der Gesetzgeber begnügt sich mit der Erwartung, dass bereits mit dem Nachweis des Schulbesuchs im schulpflichtigen Alter als solchem aufgrund des gesetzlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schulen ein Erwerb hinreichender sprachlicher wie sozialer Fähigkeiten und das Erreichen eines die Berufsausbildung ermöglichenden Schulabschlusses gewährleistet erscheinen. Die Voraussetzung dürfte mithin erfüllt ein, wenn das Kind während seines schulpflichtigen Alters - ungeachtet der in den Bundesländern in Bezug auf geduldete vollziehbar ausreisepflichtige Kinder unterschiedlich beantworteten Frage, ob es der Schulpflicht unterliegt oder nicht - ohne Unterbrechung in eine Schule aufgenommen war und im Sinne der landesrechtlichen Regelungen über die Schulbesuchspflicht am Unterricht teilgenommen hat. Ein erlaubtes Fernbleiben vom Unterricht wegen zwingender Verhinderung, z. B. infolge Krankheit, oder aufgrund einer Befreiung, Beurlaubung oder auch aufgrund einer Schulordnungsmaßnahme, dürfte demnach unschädlich sein, selbst wenn Fehlzeiten dieser Art - wie bei Schulordnungsmaßnahmen - vom Kind selbst verschuldet sind. Ob unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht ("Schulschwänzen") den aufenthaltsrechtlich gebotenen Nachweis des "tatsächlichen Schulbesuchs" ausschließt, ist im übrigen eine Frage des Einzelfalls und gemäß dem integrationspolitischen Zweck des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu beantworten, also danach, ob es - auch unter ergänzender Berücksichtigung erlaubter Abwesenheitszeiten - die aufgrund des jeweiligen Schulbesuchs erwartbare sprachliche wie soziale Integration und das Erreichen des gegebenenfalls angestrebten Schulabschlusses ausschließt oder ernsthaft in Frage stellt. Das dürfte allenfalls bei unerlaubtem Fernbleiben von erheblicher Dauer und/oder Häufigkeit in Betracht kommen und nur nach Einholung einer diesbezüglichen fachkundigen Stellungnahme der jeweiligen Schule sachgerecht zu entscheiden sein.

b) Aber auch soweit das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss das Vorliegen eines atypischen Falls in Bezug auf die künftige Sicherung des Lebensunterhalts durch eigene Erwerbstätigkeit verneint hat, greift die Beschwerde nicht durch.

Der Antragsgegner meint zum einen, das Verwaltungsgericht sei insoweit den Rechtswirkungen der "ermessensleitenden Richtlinien" in den ministeriellen Anwendungshinweisen zu § 104 a AufenthG nicht gerecht geworden. Dieser Einwand ist schon deshalb unbegründet, weil das Vorliegen eines atypischen Falles - wie dargelegt - nicht dem Ermessen der Behörde unterliegt, sondern über diese Frage - als Rechtsvoraussetzung - von den Gerichten ohne Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle zu entscheiden ist.

Grundsätzlich und im Regelfall wird der Aufenthaltstitel dem Personenkreis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG erteilt, auch wenn der Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist. Allerdings ist auch der Aufenthaltstitel nach § 104 a Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1 AufenthG darauf angelegt, in eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu münden. Daher kann ein atypischer Fall bejaht und bereits die erstmalige Erteilung abgelehnt werden, wenn schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass der Ausländer eine eigenständige Sicherung auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des Absatzes 6 nicht vorliegen werden. Bloße Zweifel genügen jedoch insoweit nicht, denn das System der Legalisierung nach § 104 a AufenthG ist in dieser Hinsicht gerade auf Probe angelegt. Ein atypischer Fall kann in Bezug auf die Sicherung des Lebensunterhalts daher nur angenommen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit absehbar ist, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104 a Abs. 5 AufenthG noch nach den Härtefallvorschriften des § 104 a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird (vgl. Senatsbeschluss vom 16.04.2008, a.a.O.). Erforderlich ist insoweit entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht eine positive Prognose hinsichtlich der künftigen Sicherung des Lebensunterhalts. Vielmehr müsste bereits jetzt hinreichend sicher sein, dass eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausscheidet. Diese negative Prognose ist nur in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 16.04.2008, a.a.O.). Zwar ist absehbar, dass der Antragsteller zu 1 insbesondere aufgrund seiner geringen Qualifikation Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Das rechtfertigt aber nicht die sichere Prognose, das die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausgeschlossen erscheint, aus der ein Einkommen zur Deckung des gesamten Lebensunterhalts der Familie erzielt werden kann.