BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 25.07.2008 - 2 BvR 31/06 - asyl.net: M13869
https://www.asyl.net/rsdb/M13869
Leitsatz:

Ein im Haftaufhebungsverfahren angebrachtes Feststellungsbegehren kann nicht unter Hinweis auf die Rechtskraft von Entscheidungen im Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung abgelehnt werden, wenn es sich auf Tatsachen stützt, die im Beschwerdeverfahren keine Berücksichtigung finden konnten; Abschiebungshaft ist zu beenden, wenn eine Aufenthaltsbeendigung bis zum angeordneten Haftende nicht mehr zu erwarten ist.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Rechtsweggarantie, Rechtsschutzbedürfnis, Feststellungsantrag, Beurteilungszeitpunkt, Änderung der Sachlage, Auslegung, Streitgegenstand, Antrag, Haftaufhebungsantrag, Beschwerde, Verhältnismäßigkeit, Abschiebung, Haftdauer
Normen: BVerfGG § 93c Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; AufenthG § 62 Abs. 2; FreihEntzG § 10 Abs. 2
Auszüge:

Ein im Haftaufhebungsverfahren angebrachtes Feststellungsbegehren kann nicht unter Hinweis auf die Rechtskraft von Entscheidungen im Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung abgelehnt werden, wenn es sich auf Tatsachen stützt, die im Beschwerdeverfahren keine Berücksichtigung finden konnten; Abschiebungshaft ist zu beenden, wenn eine Aufenthaltsbeendigung bis zum angeordneten Haftende nicht mehr zu erwarten ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer ist für die Entscheidung zuständig, da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie nimmt die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Beschlüsse des Landgerichts Hannover vom 22. Juli 2005 und des Oberlandesgerichts Celle vom 20. Oktober 2005 zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

1. Für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung in Abschiebungshaft besteht auch nach Eintritt der Erledigung ein von der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG umfasstes Rechtsschutzbedürfnis. Dieses ergibt sich aus dem Gewicht des in einer Inhaftierung liegenden Eingriffs in das Grundrecht der Freiheit der Person. Die Gewährung von Rechtsschutz kann schon im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon abhängen, ob in Abschiebungshaftfällen Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann, (vgl. BVerfGE 104, 220 <235 f.>). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie auf einen entsprechenden Feststellungsantrag die Überprüfung des gesamten Zeitraums ermöglichen, in dem dem Betroffenen die Freiheit entzogen worden ist (vgl. auch BVerfGK 6, 303 <308 ff.>). Dazu gehört, dass für das Fortbestehen eines Haftgrundes erhebliche Änderungen der Sachlage, die während des Haftvollzugs - gleich, zu welchem Zeitpunkt - eingetreten sind, berücksichtigt werden.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat allerdings nicht den Sinn, den von einem - sei es auch tiefgreifenden - Grundrechtseingriff Betroffenen von der Einhaltung der für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes allgemein geltenden Regeln des jeweiligen Verfahrensrechts zu befreien (vgl. BVerfGK 2, 14 <15 f.>). Es ist Sache der Fachgerichte, anhand des maßgeblichen Verfahrensrechts zu entscheiden, auf welche Weise dem Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen Rechnung getragen wird (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, NVwZ 2008, S. 304). Durch Verfassungsrecht ist nicht festgelegt, ob die Prüfung auch hinsichtlich aller während des gesamten Haftzeitraums neu eingetretener Umstände innerhalb des Rechtsmittelverfahrens gegen die Haftanordnung zu erfolgen hat oder ob sie auf mehrere gerichtliche Verfahren verteilt, etwa auch in Anknüpfung an einen späteren Haftaufhebungsantrag, stattfinden kann (vgl. zu diesem Problemkreis KG, OLGZ 1977, 161 <162 ff.>; OLG Stuttgart, FGPrax 1996, S. 40; LG Lüneburg, InfAusIR 2001, S. 294 <295>; Brandenburgisches OLG, FGPrax 2002, S.278, OLG Celle, Beschluss vom 19. Mai 2003 - 17 W 40/03; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. April 2005 - 20 W 139/05 -, juris). Wählen die Gerichte die zuletzt genannte Verfahrensweise, so ist es allerdings unzulässig, ein im Haftaufhebungsverfahren angebrachtes Feststellungsbegehren, das sich auf Tatsachen stützt, die in dem Rechtsmittelverfahren gegen die Haftanordnung keine Berücksichtigung finden können, unter Hinweis auf die Rechtskraft der in diesem Verfahren ergangenen Entscheidungen abzulehnen.

Soweit Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, dem Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen gerecht zu werden, ergeben sich aus dem Grundrecht auch Anforderungen an die gerichtliche Bewertung seines Vortrags. Legt ein Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise aus, die das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und verstellt es sich dadurch die an sich gebotene Sachprüfung, so liegt darin eine Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 1997 - 2 BvR 2989/95 juris, Absatz-Nr. 13; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 - 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, S. 2699 <2700>).

2. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Landgericht und Oberlandesgericht haben angenommen, der im Rahmen des Haftaufhebungsverfahrens nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG gestellte Antrag sei unzulässig, weil er denselben Streitgegenstand betreffe wie das Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung vom 18. März 2005. Das steht im Zusammenhang mit den Ausführungen des Oberlandesgerichts, die Instanzgerichte seien zur Abänderung ihrer Entscheidung nur befugt, wenn sich seit der Entscheidung des Beschwerdegerichts die tatsächlichen Verhältnisse geändert hätten. Daraus ist zu entnehmen, dass über das Feststellungsbegehren in der Sache zu entscheiden gewesen sein könnte, wenn die Gerichte zu dem Ergebnis gekommen wären, eine nach der Entscheidung des Beschwerdegerichts eingetretene Änderung der Verhältnisse sei vorgetragen. Sie haben das Verfahrensrecht folglich dahingehend ausgelegt, dass über das Feststellungsbegehren insoweit in Fortsetzung des Haftaufhebungsverfahrens zu entscheiden sei, als Änderungen des Sachverhalts nach dem Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung im Haftanordnungsverfahren geltend gemacht werden.

Von dieser Rechtsauffassung aus war es für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags von entscheidender Bedeutung, ob er sich auf in diesem Sinne neue Tatsachen bezog. Landgericht und Oberlandesgericht haben das verneint. Dadurch haben sie das Vorbringen des Beschwerdeführers zu dem Lebenssachverhalt, der den von ihm anhängig gemachten Verfahrensgegenstand bestimmte, in nicht mehr nachvollziehbarer und deswegen Art. 19 Abs. 4 GG verletzender Weise behandelt.

Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft haben die Gerichte unter anderem zu klären, ob der mit der Haft verfolgte Zweck noch erreicht werden kann. Das ist nicht nur für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, sondern auch zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich. Für die gerichtliche Beurteilung dieser Frage ist es von ganz erheblicher Bedeutung, ob die Ausländerbehörde noch auf die Erreichung dieses Zwecks hinarbeitet oder ob sie zwischenzeitlich zu der Annahme gelangt ist, die Aufenthaltsbeendigung nicht mehr während der Haftzeit - soweit zulässig, auch nach Verlängerung der Haftanordnung - herbeiführen zu können (vgl. LG Lüneburg, InfAuslR 2001, S. 294 <295>). Mit dem Haftaufhebungsantrag hat der Beschwerdeführer vorgetragen, die Ausländerbehörde habe kein Passersatzpapier erhalten und stelle anlässlich des in vier Tagen bevorstehenden Haftendes keinen Verlängerungsantrag. Damit hat er die Tatsache behauptet, die Ausländerbehörde nehme zwischenzeitlich - anders als noch im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde, deren Zurückweisung die Behörde beantragt hatte - nicht mehr an, die Abschiebung während der Haftzeit bewerkstelligen zu können.

Wie das Landgericht dennoch annehmen konnte, der Beschwerdeführer habe keine neuen Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ein Grund für die Aufhebung der Freiheitsentziehung ergeben würde, ist nicht nachvollziehbar. Gleiches gilt für die Ansicht des Oberlandesgerichtes, es seien keine Umstände vorgetragen, aus denen sich eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die durch Beschluss vom 18. März 2005 angeordnete Abschiebungshaft ergebe.