VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 04.06.2008 - 8 K 292/08 - asyl.net: M13924
https://www.asyl.net/rsdb/M13924
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Bleiberechtsregelung, Erlasslage, Täuschung, Falschangaben, Pass, Passunterdrückung, Beweislast, Passpflicht, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Altfallregelung, Ausreisehindernis, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise, Verhältnismäßigkeit, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Integration, Aufenthaltsdauer, Straftat, Jugendstrafe, Lebensunterhalt, Ermessen
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

1. a) Die Kläger haben weder einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. dem Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. Dezember 2006 noch nach § 104a bzw. nach § 104b AufenthG.

Bezüglich § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. dem Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. Dezember 2006 erfüllen die Kläger bereits nicht die Voraussetzungen der Nr. 1.1.2 und 1.1.3, da keiner von ihnen am Stichtag des 17. November 2006 in einem Beschäftigungsverhältnis stand oder Rente auf unbestimmte Zeit bezog und ihr Lebensunterhalt an diesem Stichtag nicht durch Arbeits- oder Renteneinkünfte gesichert war.

Zudem haben die Kläger zu 1. und zu 2. den Ausschlusstatbestand der Nr. 1.4.2 verwirklicht. Denn sie haben den Beklagten vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht.

Eine vorsätzliche Täuschung über solche Umstände lag darin, dass die Kläger zu 1. und 2. im Juli 2001 ihre Pässe nicht dem Beklagten vorgelegt, sondern diese unterdrückt haben und dass sie wahrheitswidrig erklärten, sie verfügten über keine Pässe.

Das Verschweigen der Existenz eines Passes und dessen Nichtvorlage gegenüber der Ausländerbehörde ist von einem solchen Gewicht, dass auch bei Berücksichtigung der Tatsache, dass insofern kein zu strenger Maßstab angelegt werden darf, eine vorsätzliche Täuschung im Sinne der Nr. 1.4.2 regelmäßig vorliegt (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Januar 2008 - 18 B 1864/07 - und vom 12. Februar 2008 - 18 B 230/08 -; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Februar 2008, A 1 § 104a AufenthG, Rn. 9).

Soweit die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben, sie hätten über die Pässe seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet gar nicht verfügt, da diese erst drei Tage vor ihrer Beschlagnahme bei der Hausdurchsuchung im Märkischen Kreis von einem in das Bundesgebiet gebracht worden seien, haben sie diese Behauptung bereits nicht näher nachgewiesen.

Die Täuschungshandlung ist auch nicht etwa deshalb unbeachtlich, weil sie zu lange zurückläge. Zwar spricht nicht zuletzt der Vergleich der Nr. 1.4.2 mit dem Ausschlussgrund der Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 50 bzw. 90 Tagessätzen (Nr. 1.4.6), bei dem nur die noch nicht nach dem BZRG getilgten bzw. zu tilgenden Verurteilungen zu berücksichtigen sind, dafür, dass es eine zeitliche Grenze für die Berücksichtigung von Täuschungshandlungen geben dürfte (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2008 - 18 B 230/08 -).

So kann nach Nr. 1.4.2 der Bleiberechtsanordnung zu Gunsten des Ausländers berücksichtigt werden, dass die Täuschung bereits länger zurück liegt. Eine genaue zeitliche Grenze enthält aber weder die Bleiberechtsanordnung noch der insoweit gleichlautende § 104a Abs. 1 AufenthG.

Die Kammer ist der Auffassung, dass zumindest regelmäßig solche Täuschungen zu berücksichtigen sind, die innerhalb des Zeitraumes begangen wurden, den die Bleiberechtsanordnung (bzw. § 104a Abs. 1 AufenthG) als für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts notwendigen Zeitraum des ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet ansieht. Da die Kläger zu 1. und 2. mit minderjährigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben, ist dies in ihrem Fall ein Zeitraum von sechs Jahren, zurück gerechnet seit dem Stichtag des 17. November 2006, so dass zumindest hinreichend gewichtige Täuschungen ab dem 17. November 2000 (im Falle des § 104a Abs. 1 AufenthG ab dem 1. Juli 2001) ihnen entgegen zu halten sind.

Dementsprechend erfüllen die Kläger auch nicht die inhaltlich übereinstimmende Tatbestandsvoraussetzung des § 104a Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 AufenthG, dass die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht wurde.

Hinsichtlich der bereits erwähnten nicht näher substantiierten Erklärung der Kläger in der mündlichen Verhandlung, sie hätten über die Pässe im Bundesgebiet nicht verfügt, welche wie erwähnt zu den darin befindlichen Einreisestempeln und zu der Erklärung der Kläger zu 1. und 2. vom 26. Juli 2001 in Widerspruch stehen, ist zu ergänzen, dass es sich bei § 104a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nach der Rechtsprechung des OVG NRW nicht um Ausschlusstatbestände handelt, für die der Beklagte die Beweislast trägt, sondern um positive Tatbestandsmerkmale, so dass den Klägern die Beweislast obliegt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. November 2007 - 17 B 1779/07 -, www.nrwe.de, Rn. 7).

2. Der Kläger zu 3. hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Bescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Bei der Frage, ob die Ausreise rechtlich unmöglich ist, ist auch eine Prüfung der Zumutbarkeit vorzunehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192, Rn. 17).

Eine inlandsbezogene Unzumutbarkeit der Ausreise folgt daraus, dass der Kläger zu 3. in einem Maße in Deutschland integriert ist, dass eine Aufenthaltsbeendigung unverhältnismäßig wäre. Dabei ist auch das Recht des Klägers zu 3. auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK in den Blick zu nehmen.

Dieser Schutzbereich ist weit gefasst, da "die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen den niedergelassenen Einwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben, fester Bestandteil des Privatlebens im Sinne des Artikels 8" EMRK ist (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99 -, Üner, DVBl. 2007, 689, Rn. 59).

Der Kläger zu 3. reiste im Alter von fünf Jahren in das Bundesgebiet ein, so dass sein gesamter Schulbesuch in Deutschland erfolgt ist. Die Hauptschule hat er im Juni 2007 mit dem Hauptschulabschluss nach Klasse 10 verlassen und besucht nun seit August 2007 die zweijährige Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung. Dies lässt ein hohes Maß an Integration erkennen, das eine dauerhafte Ausreise aus dem Bundesgebiet als unzumutbar erscheinen lässt (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 1. August 2006 - 18 B 1539/06 - und vom 27. Dezember 2007 - 18 E 772/07 -).

Dies gilt umso mehr, als auf Grund der Ausbildung des Klägers zu 3. die begründete Hoffnung besteht, dass dieser auf absehbare Zeit wird seinen Lebensunterhalt selbst sichern können.

Dass er mit rechtskräftigem Urteil vom ... durch das Amtsgericht - Jugendgericht - Tecklenburg des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis schuldig gesprochen und ihm die unverzügliche Erbringung von 60 Stunden unentgeltlicher Arbeitsleistung auferlegt wurde, steht dem nicht entgegen, da dem nur ein einmaliges Fahren eines Motorrollers ohne Fahrerlaubnis zu Grunde lag, und sich daraus nicht eine fehlende Integrationsfähigkeit bzw. -bereitschaft ableiten lässt.

Für einen Ausnahmefall von der somit erfüllten Sollvorschrift des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ist nichts ersichtlich oder vorgetragen.

Zwar erfüllt der Kläger zu 3. gegenwärtig nicht die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4, § 3) und der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG) und ein atypischer Sachverhalt, der von einem Absehen von diesen Regelerteilungsvoraussetzungen zwingen würde, ist insbesondere hinsichtlich der Passpflicht nicht erkennbar.

Diesbezüglich besteht nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aber ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten. Ein solche Entscheidung ist weder in dem Bescheid des Beklagten vom 19. Oktober 2005 noch in dem Bescheid vom 3. Dezember 2007 erfolgt.