Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für afghanische Staatsangehörige, die in ein (groß-)familiäres Umfeld zurückkehren können.
Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für afghanische Staatsangehörige, die in ein (groß-)familiäres Umfeld zurückkehren können.
(Leitsatz der Redaktion)
Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG -) besteht zu Gunsten des Klägers kein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die Feststellung eines Abschiebungsverbots i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann der Kläger auch nicht wegen allgemeiner Gefahren beanspruchen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine solche Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr), seit mit Erlass des Ministeriums des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2005, der dementsprechende Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder umsetzt, "volljährige, allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Beschlussfassung (24. Juni 2005) noch keine sechs Jahre im Bundesgebiet aufhalten", "mit Vorrang zurückzuführen sind". Diese Sperrwirkung des 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG greift hier ein, ohne dass sie aus verfassungsrechtlichen Gründen einzuschränken ist.
Nach diesem Maßstab würde der Kläger weder mit Rücksicht auf die Sicherheitslage in eine lebensbedrohliche Bedrängnis geraten (a) noch mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein (BVerwG, 9 B 617/98, NVwZ 1999, 668) oder in hinreichender zeitlicher Nähe zu seiner Rückkehr in einen unausweichlichen lebensbedrohlichen pathologischen Zustand geraten (b).
a) Der Kläger wäre im Falle einer erzwungenen Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort herrschenden Sicherheitslage zwar Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Diese Bedrohung erreicht aber nicht den hohen Wahrscheinlichkeitsgrad einer extremen allgemeinen Gefahr.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist einmal durch militärische Auseinandersetzungen zwischen regierungsfeindlichen Kräften einerseits sowie afghanischen und internationalen Truppen andererseits beeinträchtigt, aber auch durch politisch motivierte und/oder kriminelle Gewaltanwendung. Während im Süden und Osten des Landes Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind es in anderen Teilen Afghanistans Rivalitäten lokaler Machthaber oder Milizenführer sowie die zunehmende Kriminalität, die die Sicherheit der Bewohner bedrohen.
Der Kläger ist im Rückkehrfall weder in Kabul noch in seiner Heimatregion Said Karam in der Provinz Paktia einer extremen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt. Nach seiner Einreise über den Flughafen Kabul kann er sich über die Straße von Kabul nach Gardez in seinen Heimatdistrikt Said Karam begeben, wo - nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - seine Mutter, ein Onkel mütterlicherseits, zwei verheiratete Schwestern und weitere Geschwister leben.
Der UNHCR stuft in seinem Bericht "Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes" vom 25. Februar 2008 von den insgesamt 15 Bezirken Kabuls nur die Distrikte Sarobi, Paghman, Khak-e-Jabar, Musahi und Charasyab als unsicher ein. In diesem Bericht wird die Straße von Kabul nach Gardez ebenso wenig als unsicher bezeichnet wie die Stadt Gardez selbst und der Distrikt Said Karam, die Heimatregion des Klägers.
Dass eine extreme Gefahr für Leib oder Leben bei einer Rückkehr des Klägers nicht besteht, ergibt sich im Einzelnen aus den folgenden Erkenntnismitteln: ...
b) Der Kläger würde durch eine Abschiebung nach Afghanistan auch nicht mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert (BVerwG, 9 B 617/98, NVwZ 1999, 668) oder in einen unausweichlichen lebensbedrohlichen pathologischen Zustand geraten. Vielmehr könnte er im Rückkehrfall das zum Leben Notwendige durch die Unterstützung seiner dort lebenden Familienangehörigen sowie durch seine Mitarbeit in der Landwirtschaft erlangen und eine Unterkunft finden. Denn er kann sich in seinen - wie bereits ausgeführt - hinreichend sicheren Heimatdistrikt Said Karam begeben, wo - nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - insbesondere seine Mutter, ein Onkel mütterlicherseits und zwei verheiratete Schwestern leben. Denn in Afghanistan übernehmen Familien und Stammesverbände die soziale Absicherung ihrer Mitglieder (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 01/2008, B 4). Extreme allgemeine Gefahren wegen der schlechten Versorgungssituation in Afghanistan drohen dem afghanischen Staatsangehörigen nicht, der in ein (groß-)familiäres Umfeld zurückkehren kann (vgl. OVG S-H, 2 LB 38/07, juris; OVG B-B, 12 B 11.05, juris).
2. Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, 10 C 42.07) entschieden, dass der subsidiäre Abschiebungsschutz keinen landesweiten (innerstaatlichen) bewaffneten Konflikt voraussetzt. Dennoch kann der Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG selbst dann nicht beanspruchen, wenn man die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und ISAF-Truppen einerseits sowie Talibangruppen und anderen regierungsfeindlichen Kräften andererseits als innerstaatlichen bewaffneten Konflikt versteht (vgl. OVG S-H, 2 LB 38/07, juris). Denn die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG führt dazu, dass nur im Falle extremer Gefahr Abschiebungsschutz eingreift (vgl. HessVGH, 8 UE 1913/06.A, juris). Dass davon auch hinsichtlich der in Afghanistan herrschenden Sicherheitssituation nicht gesprochen werden kann, ist bereits unter 1. a) ausgeführt worden. Die dort dargestellten Beeinträchtigungen der Sicherheit für die Zivilbevölkerung beruhen in den Gebieten insbesondere des Südens und Ostens des Landes zu einem beträchtlichen Teil auf den erwähnten bewaffneten Auseinandersetzungen.
3. Dem Kläger kann auch kein subsidiärer Schutz unmittelbar aufgrund des Gemeinschaftsrechts zustehen, selbst wenn man annimmt, die Vorschriften der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004 - EGRL 2004/83 - seien hinsichtlich des subsidiären Schutzes nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden. Auch eine unmittelbare Anwendung der Art. 2 Buchst. e, 15 Buchst. c EGRL 2004/83 vermittelt dem Kläger keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz setzt nach diesen Bestimmungen u.a. voraus, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht werden, dass bei einer Rückkehr die tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, beispielsweise in eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu geraten. Zwar muss dieser bewaffnete Konflikt nicht landesweit bestehen (BVerwG, 10 C 42.07). Art. 15 Buchst. c EGRL 2004/83 lässt aber grundsätzlich keine allgemeine Bedrohung für den subsidiären Flüchtlingsschutz genügen, sondern verlangt eine individuelle Bedrohung (vgl. hierzu auch BVerwG, 1 B 217/06, juris), die die Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ist. Gefahren, die auf unterschiedslos wirkender, nicht auf eine bestimmte Person gerichteter Waffengewalt beruhen, sind jedoch typischerweise allgemeine Bedrohungen (so auch Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90 [93]). Ob sie deshalb mit Rücksicht auf den 26. Erwägungsgrund der EGRL 2004/83 keine individuelle Bedrohung sind, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre (vgl. hierzu VGH B-W, A 2 S 229/07, NVwZ 2008, 447, juris; OVG S-H, 1 LA 125/06, juris), bedarf keiner weiteren Erörterung. Denn eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit können allgemeine Gefahren nur darstellen, wenn stichhaltige Gründe im Sinne des Art. 2 Buchst. e EGRL 2004/83 für die Annahme vorgebracht werden, dass bei einer Rückkehr die tatsächliche Gefahr besteht, von dieser willkürlichen Gewalt betroffen zu werden. Der Betroffene muss darlegen, "dass er eine begründete Angst um sein Leben hat, wenngleich die Gründe für diese Angst nicht personenspezifisch sind" (Müller, ASYLMAGAZIN 2008, 4 (8) unter Hinweis auf die Begründung der Kommission zum Richtlinien-Entwurf KOM (2001) 510). Hailbronner (ZAR 2008, 209 [214 f.]) hält besondere Merkmale, die die einzelne Zivilperson als potentielles Opfer willkürlicher Gewalt kennzeichnen, sowie das Ausmaß des generellen Verlustes an Schutz für die Gruppe, der der Betroffene angehört, für entscheidend.
An einer solchen Darlegung individueller Gründe fehlt es hier jedoch.