OLG Zweibrücken

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Zitieren als:
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 02.07.2008 - 3 W 97/08 - asyl.net: M13937
https://www.asyl.net/rsdb/M13937
Leitsatz:

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Abschiebungshaft setzt nicht voraus, dass diese bereits im Zeitpunkt der Haftanordnung oder -verlängerung rechtswidrig war; für die Feststellung von Haftunfähigkeit bei Abschiebungshaft gelten die strafprozessualen Grundsätze entsprechend.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Feststellungsantrag, Änderung der Sachlage, Rechtswidrigkeit, Sachaufklärungspflicht, Haftunfähigkeit, Feststellungsinteresse
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2; EMRK Art. 5; StPO § 455
Auszüge:

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Abschiebungshaft setzt nicht voraus, dass diese bereits im Zeitpunkt der Haftanordnung oder -verlängerung rechtswidrig war; für die Feststellung von Haftunfähigkeit bei Abschiebungshaft gelten die strafprozessualen Grundsätze entsprechend.

(Leitsatz der Redaktion)

 

In der Sache führt die Rechtsbeschwerde nicht zum Erfolg. Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts beruht nicht auf einer Verletzung des Rechts (§ 27 Abs. 1 FGG, § 546 ZPO).

2. Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist es für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschiebungshaft allerdings nicht Voraussetzung, dass der (Verlängerung der) Abschiebungshaft "von Anfang an", also bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Verlängerungsentscheidung durch das Amtsgericht Bingen, eine Haftunfähigkeit des Betroffenen entgegen stand. Auch dann, wenn die Abschiebungshaft zunächst zu Recht verlängert, nach Wegfall einer ihrer Voraussetzungen (hier: der Haftfähigkeit) aber nicht unverzüglich durch die Behörde beendet worden ist, erzielt der Feststellungsantrag einen (Teil-) Erfolg (vgl. OLG Düsseldorf, InfAuslR 2007, 454; OLG München, OLGR 2008, 107). Denn das aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründete Feststellungsinteresse betrifft nicht nur Fallgestaltungen, in denen die Anordnung von Abschiebungshaft von Anfang an rechtswidrig war. Die Feststellung betrifft in einem solchen Fall zwar keine unrichtige Entscheidung durch das Haftgericht, aber einen rechtswidrigen weiteren Vollzug der Abschiebungshaft durch die hierfür zuständige Behörde (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3 FEVG). Eine solche Feststellung obliegt jedenfalls dann den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wenn der Wegfall einer Haftvoraussetzung in Rede steht, die – hätte sie von Anfang an gefehlt - bei der Haftanordnung von dem Haftgericht zu berücksichtigen gewesen wäre (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, DÖV 2006, 922). Der Verwaltungsrechtsweg ist hingegen nur dann eröffnet, wenn es um den – angeblichen – zwischenzeitlichen Wegfall der materiellen Voraussetzungen der Ausreisepflicht geht (OVG Niedersachsen, InfAuslR 2007, 246).

3. Die Entscheidung der Kammer erweist sich gleichwohl im Ergebnis und auch im Wesentlichen in der Begründung als zutreffend.

Zu Recht hat die Kammer in den ihre Entscheidung tragenden Gründen darauf abgestellt, dass sowohl das Amtsgericht Bingen als auch die die Abschiebungshaft vollstreckende Ausländerbehörde erstmals aufgrund der ärztlichen Stellungnahme vom 18. März 2008 von der Gewahrsamsunfähigkeit des Betroffenen Kenntnis erlangt haben und dass bis dahin auch kein Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung des Sachverhaltes vorgelegen hat. Soweit der Betroffene in seiner Rechtsbeschwerde die Auffassung vertritt, für die Feststellung der Rechtswidrigkeit (des weiteren Vollzugs) der Abschiebungshaft komme es alleine auf das objektive Fehlen einer Haftvoraussetzung und nicht auf eine Kenntnis oder die Vorwerfbarkeit einer Unkenntnis des Gerichts oder der Behörde hiervon an, trifft dies auf das Fehlen bzw. den Wegfall der Haftfähigkeit nicht zu.

Nach Auffassung des Senats kann nämlich in dieser Frage nichts anderes gelten, als für die Beantwortung der Frage der Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs im Sinne von Art. 5 MRK im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Untersuchungshaft (§ 455 StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 122, 268) ist eine (weitere) Inhaftierung eines haftunfähig erkrankten Beschuldigten unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit erst dann rechtswidrig, wenn ihre Unverhältnismäßigkeit objektiv erkennbar ist. Die gesetzliche Wertung des § 455 StPO verbietet einen Haftvollzug, von dem nahe Lebensgefahr oder eine schwere Gesundheitsgefahr droht. Dabei muss bei einer solchen Gefahr die Haft aber nicht zwingend unterbrochen werden. Vom Vollzug droht die Gefahr nämlich dann nicht mehr, wenn Mittel zur Abhilfe bestehen. Solche Mittel sind nicht nur die in § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO ausdrücklich genannte Untersuchung und Behandlung in Vollzugseinrichtungen, sondern nach § 65 Abs. 2 StVollzG auch diejenigen in einem externen Krankenhaus, die ohne Unterbrechung des Vollzugs vonstatten gehen können. Dabei darf im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zwischen Krankheiten unterschieden werden, die von der Haft und deren Grund unabhängig sind, und solchen, die psychische oder physische Folge der Haft sind.

Diese Erwägungen gelten in gleichem Maße für den Vollzug der Abschiebungshaft, zumal § 65 Abs. 2 StVollzG nach § 2 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Aufnahmegesetzes vom 21.12.1993, GVBl. S. 627 für die Abschiebungshaft anzuwenden ist.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und den von der Kammer rechtsfehlerfrei festgestellten Tatsachen schließt sich der Senat der Bewertung in dem angegriffenen Beschluss an, dass die Unverhältnismäßigkeit der weiteren Vollstreckung der Abschiebungshaft erst aufgrund der ärztlichen Stellungnahme vom 18. März 2008 objektiv erkennbar war.