VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 19.06.2008 - 2 K 1897/06 - asyl.net: M13940
https://www.asyl.net/rsdb/M13940
Leitsatz:

Auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung vorliegen, ist die Ausweisung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Verfassungsmäßigkeit, Menschenwürde, Verhältnismäßigkeit, Privatleben, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Integration, Aufenthaltsdauer, Straftat, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung vorliegen, ist die Ausweisung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

a) Die Ausweisung rechtfertigt sich als zwingende Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG.

c) Der Kläger war daher nach § 53 Nr. 1 AufenthG zwingend auszuweisen. Die Ausweisung steht nicht im Ermessen der Behörde.

aa) Durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet § 53 Nr. 1 AufenthG nicht. Im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG hat das BVerwG in seinem Beschluss vom 30. Dezember 1993 (1 B 185/93, NVwZ 1994, S. 584) zur Vorgängervorschrift § 47 Abs. 1 AuslG ausgeführt, dass die Regelung neben anderen Vorschriften des Gesetzes einen Appell an alle Ausländer bedeute, keine Straftaten in Deutschland zu begehen. Ein Ausländer, der sich trotzdem von der Begehung schwerer Straftaten nicht abhalten lasse, setze selbst die Voraussetzung für seine Ausweisung. Er begründe durch sein Verhalten die Befürchtung künftiger neuer Verfehlungen. Zumindest gebe er anderen Ausländern ein schlechtes Beispiel und dadurch Veranlassung zu einem generalpräventiven Einschreiten. Werde die gesetzlich angedrohte Rechtsfolge angeordnet, so werde der Ausländer damit nicht unter Verletzung seines Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Vielmehr müsse er für eigenes Verhalten einstehen. Die Ausweisung sei demnach nicht Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomme. Sie stelle selbst nach langem Aufenthalt auch keine die Menschenwürde verletzende grausame, unmenschliche oder erniedrigende Rechtsfolge dar. Dem schließt sich die erkennende Kammer an. Diese Erwägungen gelten nach wie vor und auch für die gleichlautende Vorschrift des § 53 Nr. 1 AufenthG. Die Regelung wahrt auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Gesetz sieht ein abgestuftes System von "Ist-Ausweisung", "Regelausweisung" und "Kann-Ausweisung" vor. Der Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG setzt strafgerichtliche Verurteilungen voraus, denen, wie sich aus der erforderlichen Höhe der vorausgesetzten Verurteilung ergibt, schwere Straftaten zugrunde liegen. In Fällen, in denen dem Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Gewicht zukommt, sieht § 56 AufenthG einen besonderen Ausweisungsschutz vor, der sich auf die Ausweisung nach § 53 AufenthG insofern auswirkt, als an die Stelle der "Ist-Ausweisung" eine "Regelausweisung" tritt. Insoweit trägt das Gesetz den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Rechnung (BVerwG, Beschl. v. 30. Dezember 1993, 1 B 185/93, NVwZ 1994, S. 584). Weitere Härten können und müssen gegebenenfalls im Wege einer Duldung oder Befristung der Wirkung der Ausweisung gemildert werden (vgl. EGMR, Urt. v. 28. Juni 2007 "Kaya", juris, Rn. 69; OVG Hamburg, Beschl. v. 21. Dezember 2007, 3 Bf 101/07.Z; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 10. Januar 2007, 11 S 2616/06, juris.). Bei Fällen, in denen eine Ausweisung nach § 53 AufenthG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspräche, könnte es sich hiernach allenfalls um höchst seltene, außergewöhnliche Einzelfälle handeln, bei denen kraft vorrangigen Rechts die Ausweisung zu unterbleiben hätte, die aber die Gültigkeit der Norm sonst nicht in Frage stellen (BVerwG, Beschl. v. 30. Dezember 1993, 1 B 185/93, NVwZ 1994, S. 584).

bb) Die Regelung zur zwingenden Ausweisung ist auch in Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK nicht zu beanstanden. Das abgestufte System des Aufenthaltsgesetzes zur Ausweisung straffällig gewordener Ausländer trägt in grundsätzlich ausreichender Weise den in der Rechtsprechung des EGMR bedeutsamen Gesichtspunkten bei der Beurteilung einer Ausweisung Rechnung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. März 2004, 2 BvR 1570/03, NVwZ 2004, S. 852, 854).

cc) Auch bei einer zwingenden Ausweisung ist – selbst wenn wie hier von der Rechtmäßigkeit der Regelung ausgegangen wird – zu prüfen, ob die Anwendung im konkreten Einzelfall unverhältnismäßig ist, weil insbesondere ein unverhältnismäßiger Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit oder in die durch Art. 6 GG geschützte Ehe und Familie vorliegt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. März 2004, 2 BvR 1570/03, NVwZ 2004, S. 852, 854; BVerwG, Beschl. v. 30. Dezember 1993, 1 B 185/93, NVwZ 1994, S. 584). Dies könnte dann anzunehmen sein, wenn die Ausweisung gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde. Denn die Europäische Menschenrechtskonvention ist zwar kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, sie hat aber infolge des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 (BGBl. II S. 685) den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und sie hat in der Auslegung durch den EGMR Einfluss auf die Interpretation der Grundrechte des Grundgesetzes (BVerfG, Beschl. v. 1. März 2004, 2 BvR 1570/03, NVwZ 2004, S. 852 f.; s. ferner zur Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK bei einer zwingenden Ausweisung: OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 31. Juli 1998, 4 M 53/98, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 27. November 2006, 10 ME 217/06, juris; einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK bei einer zwingenden Ausweisung bejahend: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 25. Juli 2001, 13 S 2401/99, InfAuslR 2001, S. 2). Der ghanaische Kläger kann sich auf Art. 8 EMRK berufen, da die Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Art. 1 EMRK allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zusichern.

Die Kammer sieht bei dem Kläger allerdings nicht derart besondere Umstände, dass die zwingende Rechtsfolge "Ausweisung" in diesem Einzelfall nach Maßgabe von Art. 8 EMRK unverhältnismäßig ist. Dabei ist als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung, also insbesondere der Verhältnismäßigkeit, die letzte mündliche Verhandlung des Gerichts zugrunde zu legen (BVerwG, Urt. v. 15. November 2007, 1 C 45/06, juris).