EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.07.2008 - C-33/07 - asyl.net: M13943
https://www.asyl.net/rsdb/M13943
Leitsatz:

Art. 18 EG und Art. 27 der Unionsbürgerrichtlinie stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der das Recht eines Unionsbürger, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, beschränkt werden darf, weil er zuvor von dort wegen "unbefugten Aufenthalts" zurückgeführt worden ist, sofern zum einen sein persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und zum anderen die Maßnahme geeignet und erforderlich ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten.

 

Schlagwörter: Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie, Freizügigkeit, Abschiebung, Sperrwirkung, Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Spezialprävention, Generalprävention, Ausreise, Ausreiseverweigerung, Verhältnismäßigkeit
Normen: EG Art. 18; RL 2004/38/EG Art. 27 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 27 Abs. 2; RL 2004/38/EG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

Art. 18 EG und Art. 27 der Unionsbürgerrichtlinie stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der das Recht eines Unionsbürger, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, beschränkt werden darf, weil er zuvor von dort wegen "unbefugten Aufenthalts" zurückgeführt worden ist, sofern zum einen sein persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und zum anderen die Maßnahme geeignet und erforderlich ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

15 Mit seinen Fragen, die zusammen zu erörtern sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 18 EG und Art. 27 der Richtlinie 2004/38 einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der das Recht eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, insbesondere deshalb beschränkt werden darf, weil er zuvor von dort wegen "unbefugten Aufenthalts" zurückgeführt wurde.

17 Zunächst ist festzustellen, dass Herr Jipa als rumänischer Staatsangehöriger gemäß Art. 17 Abs. 1 EG Unionsbürger ist und sich daher auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen kann, insbesondere auf das Recht aus Art. 18 EG, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Randnrn. 31 bis 33, vom 26. Oktober 2006, Tas-Hagen und Tas, C-192/05, Slg. 2006, I-10451, Randnr. 19, und vom 23. Oktober 2007, Morgan und Bucher, C-11/06 und C-12/06, Slg. 2007, I-9161, Randnrn. 22 und 23).

18 Sodann ist klarzustellen, dass das Recht auf Freizügigkeit, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, für die Unionsbürger sowohl das Recht umfasst, sich in einen anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaat zu begeben, als auch das Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, wären die durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten nämlich ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in das eines anderen Mitgliedstaats zu begeben (vgl. entsprechend, für den Bereich der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Urteile vom 27. September 1988, Daily Mail und General Trust, 81/87, Slg. 1988, 5483, Randnr. 16, vom 14. Juli 1994, Peralta, C-379/92, Slg. 1994, I-3453, Randnr. 31, und vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 97).

19 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht im Übrigen ausdrücklich vor, dass alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht haben, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

20 Folglich fällt eine Situation wie die oben in den Randnrn. 9 und 10 beschriebene Lage des Beklagten des Ausgangsverfahrens unter das Recht der Unionsbürger, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

21 Schließlich ist daran zu erinnern, dass das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden darf (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 11. April 2000, Kaba, C-356/98, Slg. 2000, I-2623, Randnr. 30, vom 6. März 2003, Kaba, C-466/00, Slg. 2003, I-2219, Randnr. 46, und vom 10. April 2008, Kommission/ Niederlande, C-398/06, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 27).

22 In Bezug auf das Ausgangsverfahren ergeben sich diese Beschränkungen und Bedingungen insbesondere aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken dürfen.

23 In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof stets betont, dass es zwar den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, freisteht, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, dass jedoch diese Anforderungen im Kontext der Gemeinschaft, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit der Personen rechtfertigen sollen, eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Gemeinschaft bestimmt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Oktober 1975, Rutili, 36/75, Slg. 1975, 1219, Randnrn. 26 und 27, vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnrn. 33 und 34, vom 14. März 2000, Église de scientologie, C-54/99, Slg. 2000, I-1335, Randnr. 17, und vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Randnrn. 30 und 31). So ist in der Rechtsprechung klargestellt worden, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. u.a. Urteile Rutili, Randnr. 28, Bouchereau, Randnr. 35, und vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Randnr. 66).

24 Eine solche Eingrenzung der Ausnahmen vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, impliziert, wie aus Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgeht, insbesondere, dass Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nur gerechtfertigt sind, wenn für sie ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend ist, während nicht unmittelbar auf den Einzelfall bezogene Rechtfertigungen oder Gründe der Generalprävention nicht zulässig sind.

25 Dem ist hinzuzufügen, dass eine die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit beschränkende Maßnahme, wie die rumänische Regierung, die Kommission und der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge zu Recht hervorgehoben haben, im Licht von Erwägungen erlassen werden muss, die sich auf den Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit des Mitgliedstaats beziehen, der die Maßnahme erlässt. Eine solche Maßnahme darf deshalb nicht ausschließlich auf Gründe gestützt sein, die ein anderer Mitgliedstaat geltend macht, um, wie im Ausgangsfall, die Entscheidung über die Entfernung eines Gemeinschaftsangehörigen aus seinem Hoheitsgebiet zu rechtfertigen, was es allerdings nicht ausschließt, dass solche Gründe im Rahmen der Beurteilung durch die nationale Behörde, die für den Erlass der die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahme zuständig ist, berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien, C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Randnr. 53).

26 Bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens darf, mit anderen Worten, der Umstand, dass ein Unionsbürger einer Maßnahme der Rückführung aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats unterworfen wurde, in dem er sich unbefugt aufgehalten hatte, von seinem Herkunftsmitgliedstaat nur dann berücksichtigt werden, um sein Recht auf Freizügigkeit zu beschränken, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

27 Der Sachverhalt, der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegt, scheint den oben in den Randnrn. 22 bis 26 in Erinnerung gerufenen Anforderungen indessen nicht zu entsprechen.

28 Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, auf der tatsächlichen und rechtlichen Grundlage, auf die die Klage des Ministeriums auf Beschränkung des Ausreiserechts von Herrn Jipa im Ausgangsverfahren gestützt wurde, die in dieser Hinsicht erforderlichen Feststellungen zu treffen.

29 Im Rahmen einer solchen Beurteilung wird das vorlegende Gericht auch festzustellen haben, ob diese Beschränkung des Ausreiserechts geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich nämlich entnehmen, dass eine das Recht auf Freizügigkeit beschränkende Maßnahme nur gerechtfertigt sein kann, wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 2. August 1993, Alluè u. a., C-259/91, C-331/91 und C-332/91, Slg. 1993, I-4309, Randnr. 15, vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 91, und vom 26. November 2002, Oteiza Olazabal, C-100/01, Slg. 2002, I-10981, Randnr. 43).

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 18 EG und Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG stehen nicht einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, insbesondere deshalb beschränkt werden darf, weil er zuvor von dort wegen "unbefugten Aufenthalts" zurückgeführt wurde, sofern zum einen das persönliche Verhalten dieses Staatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und zum anderen die vorgesehene beschränkende Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob dies bei dem Sachverhalt, mit dem es befasst ist, der Fall ist.