LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.03.2008 - L 20 AY 3/07 - asyl.net: M13974
https://www.asyl.net/rsdb/M13974
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, Falschangaben, Asylbewerber, Dubliner Übereinkommen, Verordnung Dublin II, Asylantrag, Ursächlichkeit, Änderung der Sachlage, Ausreisehindernis, Schutz von Ehe und Familie, Kinder, Behinderte
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Das Sozialgericht hat die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) zu Unrecht abgewiesen. Die Kläger sind durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG und haben einen Rechtsanspruch (§ 54 Abs. 4 SGG) auf die geltend gemachten Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG.

Die Kläger sind als Inhaber von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sowie der Beklagten haben die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts im streitbefangenen Zeitraum nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Das AsylbLG selbst definiert nicht, in welchen Fällen davon auszugehen ist, dass Leistungsberechtigte die Dauer ihres Aufenthaltes selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Zur Bestimmung des Begriffs der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer ist daher auf die anerkannten, herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden zurückzugreifen (vgl. GK-AsylbLG, Stand März 2007, § 2 Rn. 8). Zu berücksichtigen sind lediglich solche Umstände, die kausal für die Aufenthaltsdauer der Leistungsberechtigten waren. Das Erfordernis, die Dauer des Aufenthalts "selbst" beeinflusst zu haben, erfordert die Abgrenzung von solchen Umständen, die dem Leistungsberechtigten nicht zurechenbar sind (vgl. etwa GK-AsylbLG, a.a.O., § 2 Rn. 77): Die langjährige Dauer eines Asylverfahrens unabhängig vom Zutun des Leistungsberechtigten oder die Nichteinleitung bzw. der Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen, obwohl die dafür erforderliche ausländerrechtlichen Voraussetzungen bereits erfüllt sind). Der Gesetzesbegründung zum Zuwandungsgesetz (BT-Drucks. 15/420, S. 121) sind lediglich Beispielsfälle für eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu entnehmen (Vernichtung des Passes, Angabe einer falschen Identität). Zudem wird als Intention des Gesetzes angegeben, es wolle zwischen denjenigen Ausländern unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen könnten und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkämen. Die Bestimmungen über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens knüpften an den Entwurf einer Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern an. In Art. 16 des Entwurfs würden Formen von negativem Verhalten zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung von Leistungen erlaubten.

Erforderlich ist in jedem Fall, dass das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Antragstellers auch tatsächlich die Dauer des Aufenthalts beeinflusst hat; waren dagegen andere Aspekte (z.B. schwere Krankheit, Situation im Heimatland) für die Dauer des Aufenthalts allein entscheidend, erscheint ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG weiter möglich (so etwa Herbst in Mergler/Zink, SGB XII, Stand August 2004 Rn. 28). Darüber hinaus ist zu fordern, dass das Verhalten dem Leistungsberechtigten subjektiv vorwerfbar ist (GK-AsylbLG, a.a.O., Rn. 83).

Dass nach alledem das Verhalten der Kläger bei Einreise, insbesondere das Verschweigen der wahren Identität, die Angabe falscher Geburtsdaten und das Verschweigen der vorherigen Antragstellung in Österreich geeignet war, als aktives Tun die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zu beeinflussen und dieses Verhalten den Klägern auch zurechenbar und subjektiv vorwerfbar ist, ist von den Klägern eingeräumt worden und zur Überzeugung des Senats nicht ansatzweise in Frage zu stellen. Es entspricht bereits dem in der Gesetzesbegründung beispielhaft aufgeführten Verhalten. Dieses Verhalten war auch zunächst ursächlich nicht nur für die Dauer des Aufenthalts, sondern letztlich für dessen Begründung, wie sich aus den Bestimmungen des Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrag (unterzeichnet am 15.06.1990 in Dublin (Dubliner Übereinkommen), veröffentlicht mit Gesetz vom 27. Juni 1994, BGBl II S. 791; für Österreich in Kraft getreten am 1. Oktober 1997 [vgl. BGBl 1998 II S. 62]; abgelöst durch die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, vom 18.02.2003) ergibt. Das Dubliner Übereinkommen sollte vermeiden, dass Asylbewerber zu lange im Ungewissen über den Ausgang ihres Asylverfahrens bleiben, wenn sie von einem Mitgliedstaat in den anderen abgeschoben werden, ohne dass sich einer dieser Staaten für die Prüfung des Asylantrags zuständig erklärt, und dass Asylbewerber mehrere Anträge nacheinander oder gleichzeitig stellen. Das Dubliner Übereinkommen regelte somit die Zuständigkeit für die Überprüfung eines Asylantrags. Es sollte sichergestellt sein, dass jeder Asylantrag genau in einem Mitgliedstaat überprüft wird.

Ist nach alledem zunächst von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer auszugehen, führt dies ggf. dazu, dass der Asylbewerber für die Dauer seines gesamten Aufenthalts von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ausgeschlossen ist (so im Sinne einer Unumkehrbarkeit etwa Herbst, a.a.O., § 2 Rn. 22; Wahrendorf, a.a.O., Rn. 4, auch dann, wenn später die wahre Identität offenbart und ein Pass beschafft werden kann).

Auch zur Überzeugung des Senats ist bei unzweifelhaft festzustellender rechtsmissbräuchlicher Beeinflussung der Aufenthaltsdauer zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass sich die Rechtsmissbräuchlichkeit auf die Gesamtdauer der Aufenthalts bezieht, und nicht lediglich auf einen Zeitraum von 36 bzw. 48 Monaten abzustellen ist (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 2 Rn. 4).

Darauf abstellend wird nicht nur vereinzelt die Auffassung vertreten, nur derjenige Ausländer könne Leistungen entsprechend dem SGB XII in Anspruch nehmen, der allgemein die Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hat (vgl. Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohn, SGB XII, 17. Auflage 2006, § 2 Rn. 13 m.w.N.). Unter Zugrundelegung einer "abstrakten" Betrachtungsweise wird eine Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts nicht nur dann angenommen, wenn eine Ausreise des Leistungsberechtigten zum konkreten Zeitpunkt der Entscheidung über den Leistungsantrag möglich ist, d. h. keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, sondern auch dann, wenn eine Ausreise aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, wie z. B. aufgrund der vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung aus humanitären Gründen, nicht in Betracht kommt. In derartigen Fällen bestehe wegen der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bestehenden Ausreisehindernisse zwar kein kausaler Zusammenhang zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Leistungsberechtigten und der Ausreisemöglichkeit zum konkreten Zeitpunkt. Sei ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten aber generell geeignet, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, komme es nicht darauf an, dass sich die Verlängerung bereits realisiert habe oder ob der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen sei, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden sei (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005 - L 7 AY 40/05).

Der Senat hält hingegen eine wertende Betrachtung der festgestellten Verursachungsbeiträge unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles dahingehend für erforderlich, ob und inwieweit das (rechtsmissbräuchliche) Verhalten des Asylbewerbers sich konkret als ursächlich für die Dauer des Aufenthalts erweist. Bei wertender Betrachtung muss das dem Asylbewerber vorgehaltene Verhalten im streitgegenständlichen Zeitraum, wie es das Landessozialgericht Niedersachsen (Urteil vom 16.10.2007 - L 11 AY 61/07) unter ausführlicher Herleitung formuliert, im streitgegenständlichen Zeitraum noch fortwirken. Das rechtsmissbräuchliche Verhalten muss ggf. einen dauerhaften Leistungsausschluss rechtfertigen. Dabei erscheint die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, insbesondere einer Änderung der Umstände nach einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten, auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geboten (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2007 - L 7 AY 1386/07 ER-B; LSG Bayern, Beschluss vom 28.06.2005 - L 11 B 212/05 AY ER; Wahrendorf, a.a.O., § 2 AsylbLG Rn. 4; Hohm, a.a.O., § 2 Rn. 14). Die Außerachtlassung besonderer Umstände des Einzelfalls widerspräche im Übrigen zur Überzeugung des Senats dem gesetzgeberischen Motiv (BT-Drucks. 15/420, S. 121), letztlich die Vorwerfbarkeit (Verschulden) des (weiteren) rechtsmissbräuchlichen Aufenthalts zu sanktionieren, ihre Berücksichtigung erscheint auch angesichts des deutlich unterhalb der Sozialhilfe liegenden Leistungsniveaus der Leistungen nach § 3 AsylbLG (die für das Jahr 2007 mit etwa 35 % unter den Regelsätzen nach dem SGB XII eingestuft werden, vgl. Birk, LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 3 AsylbLG Rn. 8) geboten. Dementsprechend ist nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit einer an sich gebotenen freiwilligen Ausreise maßgeblich, ob die Ausreise tatsächlich und rechtlich möglich sowie zumutbar erscheint (BSG, Urteil vom 08.02.2007 - B 9b AY 1/06 R = SozR 4-3520 § 2 Nr. 1).

Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände rechtfertigt das zwischenzeitlich zugestandene rechtsmissbräuchliche Verhalten der Kläger einen dauerhaften Ausschluss von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nach alledem nicht. Mit der Geburt der schwerstbehinderten Tochter der Klägerin zu 1), die zudem reiseunfähig ist, ist eine Änderung in den tatsächlichen Umständen eingetreten, die bei wertender Betrachtung das rechtsmissbräuchliche Verhalten bei Einreise und Asylantragstellung nicht mehr kausal für den weiteren Aufenthalt erscheinen lässt, obgleich die Kläger ihr rechtsmissbräuchliches Verhalten erst nachfolgend eingestanden haben. Insoweit ist vorliegend nicht allein zu beachten, dass die Kläger zwischenzeitlich über Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG verfügen. Darüber hinaus ist der verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleistete besondere Schutz der Familie (vgl. auch Art. 8 EMRK) zu berücksichtigen.