BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - asyl.net: M13990
https://www.asyl.net/rsdb/M13990
Leitsatz:

Die Beantwortung der Frage, ob es im Einzelfall den aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen eines ausreisepflichtigen Ausländers zuzumuten ist, die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland fortzusetzen, setzt jedenfalls die Feststellung voraus, ob sie nach dortigem Recht Aufenthalt nehmen können; Probleme bei der Integration in die dortigen Lebensverhältnisse können der Zumutbarkeit entgegen stehen.

 

Schlagwörter: D (A), Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Rechtswegerschöpfung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Schutz von Ehe und Familie, Visumsverfahren, Zumutbarkeit, Visum nach Einreise, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Verhältnismäßigkeit, Ermessen, Eltern-Kind-Beziehung, Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland, Sachaufklärungspflicht, Türkei, Wehrdienst
Normen: BVerfGG § 93c Abs. 1; BVerfGG § 90 Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

Die Beantwortung der Frage, ob es im Einzelfall den aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen eines ausreisepflichtigen Ausländers zuzumuten ist, die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland fortzusetzen, setzt jedenfalls die Feststellung voraus, ob sie nach dortigem Recht Aufenthalt nehmen können; Probleme bei der Integration in die dortigen Lebensverhältnisse können der Zumutbarkeit entgegen stehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Beschwerdeführer hat insbesondere den Rechtsweg im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft und kann nicht auf die noch ausstehende Entscheidung im Hauptsacheverfahren verwiesen werden; der hier geltend gemachte Grundrechtsverstoß beruht gerade auf der Versagung von Eilrechtsschutz (vgl. dazu BVerfGE 35, 382 <397 f.>). Bereits die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hat die Möglichkeit einer Abschiebung des Beschwerdeführers und damit die Vereitelung des von ihm beanspruchten Rechts auf ein ununterbrochenes familiäres Zusammenleben zur Folge.

II. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses vom 7. November 1984 - 2 BvR 1299/84 -, NVwZ 1985, S. 260; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2007 - 2 BvR 2341/06 -, juris). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Ziff. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen.

Kann die bereits gelebte Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil weder dem Kind noch seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 862 f.), so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor der Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, S. 171 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, S. 67).

2. Die angegriffene Entscheidung trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung. Bei Verneinung der Frage, ob der Beschwerdeführer zunächst im Bundesgebiet zu dulden ist, würdigt das Verwaltungsgericht die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht in dem gebotenen Umfang. Das Verwaltungsgericht hat dem Beschwerdeführer vorläufigen Rechtsschutz zur Aufrechterhaltung seiner durch Art. 6 GG geschützten familiären Lebensgemeinschaft aufgrund von Erwägungen versagt, die in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht unzureichend sind. Im vorliegenden Fall drängt die von dem Beschwerdeführer und seinem Sohn seit dessen Geburt gelebte familiäre Vater-Kind-Beziehung die mit den Einreisevorschriften des Aufenthaltsgesetzes verfolgten einwanderungspolitischen Belange jedenfalls bis zu einer näheren Klärung der tatsächlichen familiären Umstände sowie der aufgeworfenen Fragen des ausländischen Rechts und damit der Zumutbarkeit, die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland fortzusetzen, zurück.

Das Verwaltungsgericht stellt die gelebte familiäre Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers mit seiner kolumbianischen Lebensgefährtin, deren Tochter und dem gemeinsamen Kind nicht in Frage. Sofern es allerdings in Betracht gezogen hat, dass diese Lebensgemeinschaft in der Türkei fortgelebt werden könne, hat es die Bedingungen für einen Umzug der Familie in die Türkei nicht hinreichend ermittelt. Dass für das gemeinsame Kind, dessen Mutter sowie deren Tochter, die die kolumbianische bzw. die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, nach türkischem Recht die Möglichkeit besteht, ohne weiteres Aufenthalt in der Türkei zu nehmen, wird in dem Beschluss nur vermutet. Nicht hinreichend gewürdigt hat das Verwaltungsgericht auch, dass angesichts fehlender türkischer Sprachkenntnisse und mangelnder wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Familie die Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes in die Türkei jedenfalls für die Dauer des Wehrdienstes des Beschwerdeführers, während dessen er weder als Betreuungsperson noch als kultureller Vermittler oder Ernährer der Familie zur Verfügung stehen dürfte, erhebliche Probleme aufwerfen würde. Wenn die Weiterführung der Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind zunächst aber nur in der Bundesrepublik möglich ist - die Möglichkeit eines gemeinsamen Aufenthalts in Kolumbien wird vom Verwaltungsgericht nicht erörtert -, ist die Unterbrechung des Aufenthalts für einen nicht nur unerheblichen Zeitraum unzumutbar. Daran ändert nichts, dass die Gründe für die voraussichtlich über die Länge des normalen Visumverfahrens hinausgehende Trennung in der Sphäre des Beschwerdeführers zu verorten sind, nämlich in dem von ihm zu leistenden Wehrdienst. Dass der Beschwerdeführer mit seinem rund fünfjährigen unerlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland Ausweisungsgründe gesetzt hat, ist gegenüber dem Anspruch auf Bewahrung der familiären Lebensgemeinschaft ebenfalls von minderem Gewicht.