VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 01.07.2008 - 5 A 112/08 - asyl.net: M13998
https://www.asyl.net/rsdb/M13998
Leitsatz:

Keine generelle grundlegende Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgungsgefahr wegen Verdacht der Unterstützung der PKK rechtfertigen würde.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Unterstützung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Refomen, politische Entwicklung, Menschenrechtslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine generelle grundlegende Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgungsgefahr wegen Verdacht der Unterstützung der PKK rechtfertigen würde.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, weil die Beteiligten sich mit dieser Entscheidungsform einverstanden erklärt haben, ist zulässig und begründet. Die angefochtene Widerrufsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

In der angefochtenen Widerrufsverfügung wird der Widerruf darauf gestützt, dass aufgrund der Änderung der Verhältnisse in der Türkei die Notwendigkeit des Schutzes vor politischer Verfolgung nicht mehr gegeben sei. Dieser Auffassung folgt das Gericht nicht.

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die aufgrund eines prokurdischen Engagements in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung einer illegalen kurdischen Organisation geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (U. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Noch Ende März 2006 sei es in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten bei Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK und staatlichen Sicherheitskräften zu mindestens 15 Todesopfern und mehreren hunderten Verletzten gekommen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Noch hätten sich die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf Verbesserung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.

Diesen Feststellungen schließt sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung (beginnend mit Urteil vom 24.10.2006 - 5 A 490/03 -) an und stellt auf der Grundlage des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte ausdrücklich fest, dass sich an der beschriebenen Lage nichts verbessert hat. Es bestehen danach bereits erhebliche Zweifel daran, ob in der Türkei generell eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems stattgefunden hat, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist.

Unter diesen Voraussetzungen ist der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor politischer Verfolgung sicher. Die Feststellung in dem Bescheid vom 25.08.2000, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, ist nach der Ansicht des Gerichts im angefochtenen Bescheid vom 28.04.2008 im Hinblick auf die aktuelle politische Entwicklung in der Türkei nicht ausreichend widerlegt. Die türkischen Sicherheitskräfte verdächtigten den Kläger nicht lediglich unbedeutender und marginaler Unterstützungshandlungen. Der Kläger wurde, wie sich aus der für das Gericht glaubhaften und nachvollziehbaren Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.06.2000 ergibt, wegen der Hilfeleistung, Unterschlupfgewährung und Mitgliedschaft im Zusammenhang mit einer Terrororganisation angeklagt. Er wurde u.a. verdächtigt unter Jugendlichen neue "Kämpfer" für die PKK anzuwerben und in die kurdischen Siedlungsgebiete zu schicken. Der Kläger wurde durch Haftbefehl gesucht. Es handelte sich nicht lediglich um eine begrenzte örtliche Verfolgung bzw. Übergriffe örtlicher Sicherheitskräfte. Das Gericht lässt es dahingestellt, ob tatsächlich bereits eine Verfolgungsverjährung hinsichtlich der gegen den Kläger erhobenen Anklage eingetreten ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge räumt insoweit ein, dass möglicherweise die Verfolgungsverjährung noch nicht eingetreten, sondern erst im Verlaufe des Jahres 2008 eintritt. Weiterhin bleibt in dem Widerrufsbescheid vom 28.04.2008 unberücksichtigt, inwieweit möglicherweise die laut der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.06.2000 erwähnte auf den 26.07.2000 anberaumte Verhandlung in dem Verfahren des Klägers zu einer weiteren Unterbrechung der Verjährung führen könnte. Selbst wenn aber von einer Verfolgungsverjährung auszugehen wäre, ist der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund der oben dargestellten Voraussetzungen nicht vor einer politischen Verfolgung sicher. Sowohl die Anklage als auch der Haftbefehl sind den türkischen Sicherheitskräften bekannt. Gegen den Kläger besteht weiterhin der Verdacht der Unterstützung und Mitgliedschaft der PKK. Verfolgungsmaßnahmen außerhalb des gegen den Kläger geführten strafrechtlichen Verfahrens sind damit noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.