VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 23.09.2008 - AN 14 E 08.30321 u.a - asyl.net: M14006
https://www.asyl.net/rsdb/M14006
Leitsatz:

Die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat kann gestoppt werden, wenn dieser seine Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht einhält, indem er versucht, sich Asylsuchenden ohne Prüfung ihres Schutzgesuches zu entledigen; Aussetzung der Abschiebung eines irakischen Christen nach Griechenland.

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Griechenland (A), Abschiebungsanordnung, Drittstaatenregelung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Verfassungsmäßigkeit, atypischer Ausnahmefall, Verordnung Dublin II, Verfahrensrichtlinie, UNHCR, Irak, Christen, Kettenabschiebung, Menschenrechtslage, Europäische Menschenrechtskonvention, Genfer Flüchtlingskonvention, Situation bei Rückkehr, Aufnahmebedingungen, Bundesverfassungsgericht, EGMR, Rechtsprechung, diplomatische Zusicherung, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; EMRK Art. 3
Auszüge:

Die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat kann gestoppt werden, wenn dieser seine Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht einhält, indem er versucht, sich Asylsuchenden ohne Prüfung ihres Schutzgesuches zu entledigen; Aussetzung der Abschiebung eines irakischen Christen nach Griechenland.

(Leitsatz der Redaktion)

§ 34 a Abs. 2 AsylVfG steht einer Entscheidung gemäß § 123 VwGO im vorliegenden Fall nicht im Wege. Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26 a AsylVfG grundsätzlich nicht nach § 123 VwGO ausgesetzt werden. Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass der Antragsteller aus Athen kommend auf dem Luftwege illegal in das Bundesgebiet eingereist ist. Auf ein Übernahmeersuchen an Griechenland nach der Dublin II-Verordnung wurde von den griechischen Behörden die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II-Verordnung) vom 18. Februar 2003 anerkannt. Die Dublin II-Verordnung beruht einerseits wie jede auf Art. 63 Satz 1 Nr. 1 EG-Vertrag gestützte gemeinschaftsrechtliche Maßnahme auf der Voraussetzung, dass die zuverlässige Einhaltung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention), sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention in allen Mitgliedstaaten gesichert ist (Begründungserwägung Nr. 2 und Nr. 12 der Dublin II-Verordnung und Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 a EGV). Zudem gehört zu den Rechtsgrundsätzen der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland der effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 EMRK). Der Europäische Rat hat es allerdings hingenommen, dass in der Praxis Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten der EU hinsichtlich der Aufnahme von Asylsuchenden und der Behandlung von Asylanträgen bestehen, die jedoch durch die erlassenen Richtlinien und die Umsetzung in erforderliche nationale Rechtsvorschriften schrittweise durch harmonisierte Standards ausgeglichen werden. Im Fall Griechenlands hat sich - wie später noch gezeigt werden wird - diese Erwartung nicht erfüllt. Wenn aber einem Ausländer bei oder nach einer Abschiebung entgegen dem normativen Vergewisserungskonzept Gefahren drohen, die ihn ohne einstweiligen Rechtsschutz schutzlos belassen würden, ist § 34 a AsylVfG verfassungskonform entsprechend zu reduzieren. Die Vorschrift muss daher verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass einstweiliger Rechtsschutz gegen die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nur dann nicht zulässig sein soll, wenn die Wahrnehmung der Rechte im Drittstaat generell gewährleistet ist.

Ein Ausländer kann daher von der Bundesrepublik Deutschland Schutz vor politischer Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Heimatstaat nicht mit der Begründung einfordern, für ihn individuell bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort in seinem Einzelfall - trotz normativer Vergewisserung - die Verpflichtungen aus der Genfer Konvention und der EMRK nicht erfüllt würden. Der Ausländer ist auch mit der Behauptung ausgeschlossen, in seinem Fall werde der Drittstaat - entgegen seiner sonstigen Praxis - Schutz verweigern. Auch auf niemals völlig auszuschließendes Fehlverhalten der Behörden im Drittstaat, das zu einer Weiterschiebung in den Herkunftsstaat führen könnte, kann sich der Ausländer nicht berufen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 und BvR 2315/93) kann der Ausländer eine Prüfung über § 123 VwGO grundsätzlich nur dann erreichen, wenn es sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im Anschluss genannten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An die Darlegung sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden folgende Ausnahmen genannt:

a) Der Reiseweg des Ausländers über einen sicheren Drittstaat erscheint zweifelhaft.

b) Der Ausländer wendet sich gegen Modalitäten des Vollzugs der Aufenthaltsbeendigung.

c) Der Ausländer macht Einwendungen wegen einer individuellen Gefährdung im Drittstaat geltend.

Bei dieser zuletzt genannten Ausnahme führt das Bundesverfassungsgericht wiederum vier Unterfallgruppen auf:

aa) Dem Ausländer droht im sicheren Drittstaat die Todesstrafe (die Todesstrafe ist nicht konventionswidrig).

bb) Der Ausländer werde im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Rückverbringung oder Zurückweisung Opfer eines Verbrechens werden, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaates steht.

cc) Die Verhältnisse für die Qualifizierung als sicherer Drittstaat haben sich schlagartig geändert und die gebotene Reaktion der Bundesregierung steht noch aus (§ 26 a Abs. 3 AsylVfG).

dd) Der Drittstaat selbst ergreift Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) gegen den Ausländer.

ee) Der Drittstaat hat sich von den beim Beitritt zu den beiden Konventionen eingegangenen und generell auch eingehaltenen Verpflichtungen gelöst und verweigert einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor, wenn sich die ihn begründenden Umstände schon im Kontakt zwischen deutschen Behörden und Behörden des Drittstaates ausräumen lassen.

Im vorliegenden Fall deuten zahlreiche Berichte, Recherchen und Dokumente zuverlässig darauf hin, dass sich Griechenland entweder von der Konventionsverpflichtung nachträglich wieder gelöst hat oder diese von vorne herein nie eingehalten hat und dadurch Ausländern, die in ihrem Heimatstaat Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten haben, keinen Schutz gewährt. Dem Antragsteller ist daher entgegen § 34 a Abs. 2 AsylVfG vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren.

Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig und begründet. Ein Anordnungsgrund liegt vor, da der Abschiebungsbeschluss (vom 12.8.2008) bereits im Entwurf in der Akte enthalten ist und die Beklagte jederzeit die Abschiebung nach Aushändigung des Beschlusses einleiten kann (§ 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG). Griechenland hat mit Schreiben vom 11. August 2008 die Übernahme des Antragstellers zugesagt.

Es ist auch ein Anordnungsanspruch gegeben, da nach den Erkenntnissen des Gerichts befürchtet werden muss, dass der Antragsteller keinen effektiven Zugang zum Asylverfahren erhält und dort seine Asylgründe nicht im Einklang mit den Mindestnormen der Richtlinie 2005/85/EG (Art. 6 bis 18) gewürdigt werden.

Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt nach eingehender Abwägung der in Frage stehenden Schutzgüter das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Noch im April 2008 rät der UNHCR, bis auf weiteres von der Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung abzusehen, da eine beträchtliche Anzahl Asylsuchender weiterhin ernsthaften Schwierigkeiten ausgesetzt ist, Zugang zu effektivem Schutz unter Beachtung internationaler und europäischer Standards zu erhalten. Da der Antragsteller im Anhörungsverfahren vor dem Bundesamt glaubwürdig vorgetragen hat, er habe als chaldäisch-katholischer Christ im Irak Todesdrohungen erhalten, sind auf Seiten des Antragstellers durch die Gefahr einer Kettenabschiebung überragende Schutzgüter bedroht, so dass die Aussetzung des Vollzugs für die Dauer von sechs Monaten geboten war.

Das Gericht ist insbesondere auf Grund der nachstehend genannten Erkenntnismittel davon überzeugt, dass bei einer Rückschiebung des Antragstellers nach der Dublin II-Verordnung nach Griechenland mit hoher Wahrscheinlichkeit befürchtet werden muss, dass die griechischen Behörden versuchen werden, sich ohne jede inhaltliche Prüfung des asylrechtlichen Schutzgesuches des Antragstellers sich seiner etwa durch eine Abschiebung in die Türkei zu entledigen. Dabei schadet es nach Auffassung des Gerichts nicht, dass Griechenland dem Anschein nach seine durch die Konvention übernommenen Verpflichtungen zum Teil von vorne herein nicht eingehalten hat, vielmehr verstärkt dieser Umstand das Bedürfnis, dem Antragsteller in verfassungskonformer Auslegung des § 34 a AsylVfG einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO zu gewähren.

Folgende Erkenntnismittel weisen auf die genannte Gefährdung des Antragstellers hin:

UNHCR vom Juli 2007: The return to Greece of asylum seekers with "interrupted" claims

PRO ASYL vom Oktober 2007: The truth may be bitter, but it must be told

PRO ASYL 29.10.2007: Griechenland: Flüchtlinge werden Opfer von Misshandlungen und Rechtlosigkeit

PRO ASYL: Flüchtlinge im Verschiebebahnhof Europa; März 2008

UNHCR 15.4.2008: Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II VO

PRO ASYL vom August 2008: Neue Recherchen und Dokumente zur Situation von Schutzsuchenden in Griechenland SZ vom 7.5.2008: Hilferufe aus der Ägäis

Tagesspiegel vom 5.5.2008: Flucht übers Wasser

Nach Auswertung dieser Erkenntnismittel und unter Berücksichtigung zahlreicher Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit (z.B.: Beschluss des VG Karlsruhe vom 23.6.2008 - A-3 K 1412/08 -, Beschluss des VG Frankfurt vom 11.1.2008 - 7 G 3911/07.A -, Beschluss des VG Ansbach vom 22.7.2008 - AN 3 E 08.30292, Beschluss des VG Gießen vom 25.4.2008 - 2 L 201/08. GI.A -, Beschluss des VG Augsburg vom 13.6.2008 - Au 5 E 08.30069 -, Beschluss des VG Koblenz vom 9.7.2008 - 1 K 353/08. KO -, Beschluss des VG des Saarlandes vom 23.7.2008 -) verdichtet sich beim Gericht der Eindruck, dass Griechenland zum einen versucht, illegal auf dem Seeweg einreisende Flüchtlinge auch durch Anwendung menschenrechtswidriger Praktiken außerhalb des griechischen Festlandes zu belassen und/oder sie illegal in die Türkei (zurück) zu schaffen, zum anderen, dass in Griechenland kein Verwaltungsverfahren praktiziert wird, das sicherzustellen in der Lage ist, dass jeder Flüchtling einen Asylantrag stellen kann, er in seiner Muttersprache seine Beweggründe vortragen kann, diese geprüft und verbeschieden werden und diese Bescheide den Flüchtlingen in einer verständlichen Sprache zur Kenntnis gebracht werden mit der Möglichkeit, dagegen rechtliche Schritte einzuleiten (vgl. dazu die Richtlinie über Mindestnormen für das Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Anerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vom 1.12.2005 - Richtlinie 2005/85/EG des Rates in Art. 6 bis 18 sowie Art. 15 bis 17 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates - sog. Qualifikationsrichtlinie -). Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln steht fest, dass Griechenland über eklatant zu wenige Aufnahmeplätze für Flüchtlinge verfügt, Anhörungen dort jedenfalls immer wieder ohne Dolmetscher erfolgen und damit die inhaltliche Asylbegründung nicht zur Kenntnis der entscheidenden Behörden gelangt, eine Kenntnisnahme der ablehnenden Bescheide durch die Flüchtlinge nicht gesichert ist und auf die individuellen Asylgründe in den Bescheiden regelmäßig nicht eingegangen wird. Dies führt zu minimalen Anerkennungsquoten (im Jahr 2006 erhielt kein einziger Iraker eine Anerkennung als Flüchtling, 2007 lag die Anerkennungsquote bei 0,6 % - bei 5.474 irakischen Antragstellern -, der niedrigsten Europas), langen administrativen Inhaftierungsphasen gerade auch von Dublin-Rückkehrern und zur Obdachlosigkeit und Mittellosigkeit der Flüchtlinge nach illegaler Einreise. Die durch die mangelnde Aufnahmekapazität hervorgerufene Obdachlosigkeit wiederum führt zu der erheblichen Gefahr von Rechtsnachteilen, da ablehnende Bescheide bei fehlendem Wohnsitz öffentlich zugestellt werden. Nicht zuvörderst die Zustände im griechischen Polizeigewahrsam, die Berichte von Misshandlungen und erbärmlichen Zuständen im Auffanglager führen zu einem Anordnungsanspruch, sondern die Gefahr, dass der Antragsteller die von ihm befürchtete Gefährdung bei einer Rückkehr in seine Heimat als chaldäisch-katholischer Christ nicht zum Ausdruck bringen kann, da er keine Gelegenheit erhält, mittels eines Dolmetschers seine Gründe vorzutragen oder die Behörden bei ihrer ablehnenden Entscheidung auf diese Gründe nicht eingehen und er dagegen keinen effektiven Rechtsschutz in Griechenland erlangen kann und somit die Gefahr einer Abschiebung über die Türkei in den Irak besteht. Da diese Gefährdung auf der Hand liegt, zeigt ein Vorfall, der in einer Presseerklärung des UNHCR vom 26. Juli 2007 (UNHCR deplores reported forced return of 135 Iraqis by Turkey) berichtet wird. Der UNHCR bestätigt, dass eine Gruppe von 135 irakischen Flüchtlingen von den türkischen Behörden auf dem Weg nach Griechenland inhaftiert wurde. Sie wurden anschließend in den Irak abgeschoben. In diesem Zusammenhang berichtet PRO ASYL in einem Bericht über die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache (The truth may be bitter, but it must be told) dass seit Anfang 2007 die Türkei verstärkt irakische Flüchtlinge auf Grundlage des Rücknahmeprotokolls mit Griechenland zurücknimmt. Die Abschiebung irakischer Flüchtlinge finde über das Evros-Gebiet, insbesondere über die Kipoi-Grenzstation statt. Irakische Flüchtlinge werden von den Inseln Chios oder Samos nach Evros gebracht und in die Türkei abgeschoben. Die behauptete Furcht des Antragstellers vor einer Kettenabschiebung in den Irak erfüllt nach der Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse die strengen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die Darlegung eines Sonderfalles stellt.

Diese Situation hat sich seit Oktober 2007 auch nicht wesentlich geändert. Zwar wurden neue Aufnahmekapazitäten in Griechenland geschaffen, es fehlt bei weiter zunehmenden Flüchtlingsstrom aber immer noch an Unterbringungsmöglichkeiten. So sollen 2007 112.364 illegale Zuwanderer in Griechenland aufgegriffen worden sein. Nach Angaben der griechischen Regierung existieren derzeit (Petition von PRO ASYL an den deutschen Bundestag vom Februar 2008) 40.000 unbearbeitete Anträge. Diese unhaltbaren Zustände, die sich aktuell noch zuspitzen (vgl. dazu: SZ vom 7.5.2008: Hilferufe aus der Ägäis; Tagesspiegel vom 5.5.2008: Flucht übers Wasser) haben und hatten international auch bereits folgende Konsequenzen:

a) Verurteilung Griechenlands durch den Europäischen Gerichtshof wegen Nichtumsetzung der Aufnahme-Richtlinie (Urteil vom 19.4.2007 - C-72/06 -).

b) Erneutes Vertragsverletzungsverfähren durch die Europäische Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (Entscheidung der Europäischen Kommission vom 31.1.2008: Versäumnis Griechenlands die notwendigen rechtlichen Änderungen hinsichtlich der Abschaffung der Praxis des "Abbruchs des Verfahrens" vorzunehmen).

c) Neue Weisungslage des Bundesinnenministeriums: Seit Frühjahr 2008 sollen junge, alte und kranke Flüchtlinge nicht mehr nach Griechenland abgeschoben werden.

d) UNHCR ruft die Mitgliedsstaaten der EU dringend auf, bis auf weiteres von Überstellungen von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung abzusehen.

e) Norwegen hat mit einer Entscheidung des Utlendigsnemnda vom 7. Februar 2008 Überstellungen gemäß der Dublin II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt.

f) Ein belgisches Berufungsgericht (Entscheidung vom 19.10.2007 - Az.: 2769 -) hat die Überstellung eines irakischen Staatsangehörigen nach Griechenland untersagt und festgestellt, dass er dort dem Risiko ausgesetzt sei, einen schwerwiegenden irreparablen Schaden zu erleiden, der von den Versäumnissen Griechenlands herrühre, irakische Asylsuchende ausreichend zu schützen.

g) Der oberste Gerichtshof von Großbritannien hat entschieden, dass die Anwendung der Dublin II-Verordnung bezogen auf eine Rücküberstellung nach Griechenland im Widerspruch zu der sich aus Art. 3 EMRK ergebenden Pflicht zur substantiellen Prüfung der möglichen Konsequenzen einer Abschiebung steht.

Die Antragsgegnerin kann sich auch nicht auf den Standpunkt stellen, sie unterstelle auf Grund der zwischenstaatlichen Vereinbarungen und Zusammenarbeit den Mitgliedsstaaten per se, dass sie die menschenrechtlichen Verpflichtungen beachten. In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Vertragsstaaten der EMRK nicht von ihren vertraglichen Verpflichtungen befreit sind, wenn sie internationale Institutionen und Übereinkommen schaffen, um die zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts zu fördern. Sie können sich ihrer Verpflichtungen dadurch nicht entledigen, sind vielmehr verpflichtet, auch bei Rücküberführungen nach der Dublin II-Verordnung die Relevanz von Artikel 3 EMRK zu prüfen (Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 43844/98 (2000) - 12 IJRL 244-267 in: Informationen Ausländerrecht 7/8-2000, Seite 321 ff.). Dies hat zur Folge, dass dann, wenn ein Asylbewerber schlüssig und überzeugend vorträgt, ihm drohe eine Kettenabschiebung in den Verfolgerstaat, in dem ihm wiederum Folter oder unmenschliche Behandlung drohe, sich eine Überstellung nach der Dublin II-Verordnung verbietet.

Das Gericht macht sich die geschilderten Erkenntnisse zu eigen und beurteilt die Befürchtung des Antragstellers, in Griechenland keinen Zugang zu einem geordneten Asylverfahren zu erhalten, in menschenrechtswidriger Weise behandelt zu werden und sich in der konkreten Gefahr einer Kettenabschiebung über die Türkei in den Irak zu befinden, als glaubwürdig und wahrscheinlich.

Die im Beschluss antragsgemäß ausgesprochene sechsmonatige Aussetzung der Abschiebung steht auch im Einklang mit der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 14.5.1996, a.a.O.), dass ein Sonderfall nicht vorliege, wenn sich die ihn begründenden Umstände schon im Kontakt zwischen deutschen Behörden und Behörden des Drittstaates ausräumen ließen. Die sechsmonatige Aussetzung ermöglicht nämlich einerseits eine Überprüfung, ob eine grundlegende Verbesserung der Verhältnisse in Griechenland eingetreten ist und eröffnet der Antragsgegnerin auch die Möglichkeit, eine Garantie der griechischen Regierung einzuholen, dass der Antragsteller nicht nur einen Asylantrag stellen kann, sondern in diesem Verfahren unter Einschaltung eines anerkannten Dolmetschers auch seine Asylgründe vortragen kann, Informationen über das Verfahren über einen anerkannten Dolmetscher erhält, er in einer angemessenen Unterkunft ohne Haftcharakter untergebracht wird, sein Lebensunterhalt gegebenenfalls gesichert wird, er im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung erhält, sichergestellt wird, dass er von einem ablehnenden Bescheid innerhalb der Rechtsbehelfsfristen Kenntnis erlangt und die Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes im Bedarfsfall ermöglicht wird. Bei einer entsprechenden individuellen Zusicherung und der Möglichkeit der Überwachung der Zusicherungen durch deutsche Behörden oder der generellen Änderung der angesprochenen Zustände im griechischen Asylverfahren stünde einer Abschiebung nach Griechenland dann nichts entgegen.