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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8 AY 8/07 R - asyl.net: M14041
https://www.asyl.net/rsdb/M14041
Leitsatz:

Zur Auslegung der erforderlichen Zeiten des § 2 Abs. 1 AsylbLG (Vorbezugszeit, keine Wartefrist) und zur des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens.

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Anfechtungsklage, Leistungsklage, Verwaltungsakt, Dauerwirkung, Dauerverwaltungsakt, Verfahrensgegenstand, Aufenthaltsdauer, 36-Monats-Frist, 48-Monats-Frist, Minderjährige, Eltern, Familienangehörige, Rechtsmissbrauch, Verhältnismäßigkeit, Duldung, Abschiebungshindernis, Ursächlichkeit, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Zurechnung, Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, Heranziehung, Region, Gemeinde
Normen: SGB X § 48 Abs. 1; AsylbLG § 2 Abs. 1; AsylbLG § 2 Abs. 3; AsylbLG § 10; AufnG § 2 Abs. 3
Auszüge:

§ 2 Abs. 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 AsylbLG) entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten (Vorbezugszeit) und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Kläger gehören zum Kreis der Leistungsberechtigten. Leistungsberechtigte sind u.a. nach § 1 Abs. 1 Nr 4 AsylbLG Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und eine Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG) besitzen. Die Kläger erfüllen auch die Vorbezugszeit. Ob sie allerdings die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben, lässt sich nach den Feststellungen des LSG nicht beantworten.

Dies könnte hier nach den Feststellungen des LSG und nach Aktenlage unter zweierlei Gesichtspunkten denkbar sein: Zum einen wegen evtl fehlerhafter Angaben der Kläger zu 1 und 2 im Jahre 1996, albanische Volkszugehörige zu sein, zum anderen wegen der Vorlage einer gefälschten Auskunft des jugoslawischen Generalkonsulats vom August 1997, wonach Reisedokumente aus politischen Gründen nicht ausgegeben würden. Zwar ist Fehlverhalten der Eltern minderjährigen Kindern insoweit nicht zuzurechnen (vgl Senatsurteil vom 17. Juni 2007 - B 8/9b AY 1/07 R); jedoch ist dies vorliegend nicht weiter von Bedeutung, weil nach § 2 Abs. 3 AsylbLG minderjährige Kinder - ein solches war im streitigen Zeitraum auch die Klägerin zu 3 -, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur erhalten, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach dessen Abs 1 erhält. Sollten also die Kläger zu 3 bis 5 die Dauer ihres Aufenthalts nicht selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben, hätten sie nicht zwangsläufig Anspruch auf Analog-Leistungen.

Der Senat folgt nicht den Ausführungen des LSG zur rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Ob das vorwerfbare Verhalten die Aufenthaltsdauer beeinflusst hat, ist entgegen der Ansicht des LSG unter Berücksichtigung der gesamten Zeit zu beurteilen, die nach dem maßgeblichen Fehlverhalten verstrichen ist (Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R). Damit ist nicht entscheidend, ob die Kläger im streitigen Zeitraum in die deutsche Gesellschaft eingegliedert waren. Vielmehr genügt ein früheres Fehlverhalten, das generell geeignet war, die Aufenthaltsdauer zu beeinflussen (BSG aaO); dies gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn die Kläger auch ohne das Fehlverhalten in der gesamten Zeit nicht hätten abgeschoben werden können (BSG aaO). Dabei ist eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung nicht bereits darin zu sehen, dass die Kläger, sofern ihnen eine Ausreise überhaupt zumutbar war, nicht freiwillig ausgereist sind (BSG aaO). Zu fordern ist ein über die Nichtausreise bzw die Stellung eines Asyl- oder Asylfolgeantrages hinausgehendes sozialwidriges Verhalten unter Berücksichtigung des Einzelfalls (BSG aaO; siehe zum Asylfolgeantrag auch Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 13/07 R), das nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Komponente (Vorsatz, bezogen auf die die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung, mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer) enthält (BSG aaO).

Hierzu hat das LSG, ausgehend von seiner Rechtsansicht, die der Senat nicht teilt, keine hinreichenden Feststellungen getroffen. Mit Rücksicht auf die Gesetzesbegründung, die beispielhaft die Angabe einer falschen Identität als typische Fallgestaltung eines Rechtsmissbrauchs ansieht (BT-Drucks 15/420, S 121), könnte sich der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs vorliegend an die Angaben anknüpfen lassen, albanische Volkszugehörige zu sein. Allerdings fehlen die erforderlichen Feststellungen dazu, ob diese Angaben überhaupt falsch sind. Gleiches gilt für die Angabe, nur albanisch sprechen zu können, wobei insoweit auch die Geeignetheit zur Beeinflussung der Aufenthaltsdauer nicht ohne weiteres auf der Hand liegt. Eine andere Frage ist es, ob den Klägern der Vorwurf gemacht werden kann, gegen Mitwirkungspflichten nach dem Asylverfahrensgesetz bzw dem AufenthaltsG, etwa § 15 Asylverfahrensgesetz oder §§ 48, 49, 82 AufenthaltsG, verstoßen und dabei insbesondere keine vollständigen Angaben über Nationalität und Volkszugehörigkeit gemacht zu haben. Was die Vorlage einer gefälschten Bescheinigung im Jahre 1997 betrifft, fehlt es zumindest an genaueren Feststellungen zur subjektiven Seite des Missbrauchsvorwurfs. Dies wird das LSG ggf nachzuholen haben.

Selbst wenn bei der erforderlichen typisierenden Betrachtungsweise den Klägern ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden kann, wäre vom LSG gleichwohl zu prüfen, ob eine Ausreisepflicht der Kläger unabhängig von ihrem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG aaO). Sollten die Voraussetzungen für die Gewährung von Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG iVm dem SGB XII nicht vorliegen, obwohl diese Voraussetzungen möglicherweise nach der bis 31. Dezember 2004 geltenden Rechtslage erfüllt waren, läge hierin weder eine unzulässige Rückwirkung noch ein Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz des Art 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) iVm Art 2 Abs. 1 GG (BSG aaO).

Der Senat kann auch im Übrigen - abgesehen davon, dass das LSG keine Feststellungen zur Bedürftigkeit der Kläger (§§ 3, 7 AsylbLG bzw § 2 AsylbLG iVm §§ 19, 82 ff SGB XII) getroffen hat - nicht abschließend in der Sache entscheiden.

Die geltend gemachten höheren Ansprüche der Kläger scheitern nicht daran, dass die Beklagte nicht der zuständige Leistungsträger wäre. Die Beklagte wäre also passiv legitimiert, wenn ein Anspruch auf höhere Leistungen bestünde. Das Land Niedersachsen hat gemäß § 10 AsylbLG die Zuständigkeit für die Durchführung des AsylbLG auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen (§ 2 Gesetz zur Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen und zur Durchführung des AsylbLG <Aufnahmegesetz> vom 11. März 2004 - Gesetz- und Verordnungsblatt <GVBl> Niedersachsen, 100). Aus den Gemeinden des Landkreises Hannover und der Landeshauptstadt Hannover ist die Beklagte gebildet worden (Gesetz über die Region Hannover vom 5. Juni 2001 - GVBl 348). Die Region Hannover ist damit Gesamtrechtsnachfolgerin ua des Landkreises Hannover und nimmt dessen Aufgaben wahr (§§ 2, 3 Abs. 3 Gesetz über die Region Hannover). Sie hat zwar ihrerseits regionsangehörige Städte und Gemeinden - hier die Stadt Langenhagen - zur Durchführung der ihr nach dem AsylbLG obliegenden Aufgaben herangezogen (vgl: § 10 Satz 2 AsylbLG, § 2 Abs. 3 Aufnahmegesetz, § 1 der Satzung über die Heranziehung von regionsangehörigen Städten und Gemeinden zur Durchführung der der Region Hannover obliegenden Aufgaben nach dem AsylbLG - Amtsblatt für die Region Hannover 2005, 350). Durch die Heranziehung der Stadt Langenhagen bleibt jedoch die Zuständigkeit der Beklagten selbst für die Leistungsberechtigung unberührt (vgl BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 21/06 R - RdNr 11). Die Stadt Langenhagen war damit letztlich nur für die Beklagte tätig, wobei dahinstehen kann, ob es sich insoweit um ein Auftragsverhältnis, ein auftragsähnliches oder sonstiges Verhältnis handelt; jedenfalls machen §§ 4 Abs. 2, 5 Abs. 3 der Satzung, wonach Widerspruchsbescheide von der Beklagten erlassen werden und sie das gerichtliche Verfahren führt, deutlich, dass das Handeln der Stadt Langenhagen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens der Beklagten zuzurechnen ist. Diese landesrechtlichen Regelungen durfte der Senat auslegen, weil das LSG auf sie nicht eingegangen ist (vgl § 202 SGG iVm § 560 Zivilprozessordnung).