VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 27.08.2008 - 8 L 366/07 - asyl.net: M14066
https://www.asyl.net/rsdb/M14066
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Verhältnismäßigkeit, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Aufenthaltsdauer, Integration, besonderer Ausweisungsschutz, Wiederholungsgefahr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Begründungserfordernis
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 3; AufenthG § 53; EMRK Art. 8; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

Der - sinngemäß gestellte - Antrag, die aufschiebende Wirkung der zum Aktenzeichen 8 K 21/07 erhobenen Klage des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung vom 1. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2006 wiederherzustellen und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen, hat Erfolg.

Im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderlichen Interessenabwägung durch das Gericht überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet für die Dauer des Klageverfahrens das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisungsverfügung. Der Ausgang des Klageverfahrens ist offen. Dem Antragsteller ist es im Hinblick auf einen möglichen Klageerfolg nicht zumutbar, dessen Ausgang im Ausland abzuwarten und die mit einem Vollzug verbundenen, schwer umkehrbaren und den zu beobachtenden Aufbau geordneter Lebensverhältnisse (Volkshochschul-Lehrgang zum Erwerb des Hauptschulabschlusses, vorhandene Arbeitsstelle) empfindlich störenden oder ganz vereitelnden Umstände hinzunehmen.

Dieses Ergebnis der Interessenabwägung ergibt sich - abgesehen von weiteren im Hauptsacheverfahren zu untersuchenden Gesichtspunkten -, (vgl. hierzu etwa Oberverwaltungsgericht Nordrhein- Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 14. August 2007 - 18 E 686/07 -) bereits aus Folgendem: Der vorliegende Fall weist Besonderheiten auf, die nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - , InfAuslR 2007, 275 -; ferner Urteil vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, InfAuslR 2004, 280) eine vertiefte, dem summarischen Verfahren nicht zugängliche Befassung mit der Frage erfordern, ob die Ausweisungsverfügung vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK -), namentlich vor dem verfassungsrechtlich geschützten Gebot der Verhältnismäßigkeit, Bestand hat.

Das Bundesverfassungsgericht fordert für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes die Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Dies erfordert nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts, zu berücksichtigen, dass es die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Beachtung des Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne des Art. 8 EMRK (vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 9. Oktober 2003 - 48321/99 -, Fall Slivenko (Rn. 121), EuGRZ 2006, S. 560; Thym, EuGRZ 2006, 541, 552) nicht zulässt, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten zu bestimmen (so auch bereits Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2001 - 13 S 2401/99 -, InfAuslR 2002, 2 und Beschluss vom 23. Oktober 2002 - 11 S 1410/02 -, NVwZ-RR 2003, 304; Oberverwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 25. Mai 2004 - 1 A 3037/03 -, InfAuslR 2004, 328, anderer Ansicht noch Bundesverwaltungsgericht BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 - 1 C 11. 99 -, Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr 19 = NVwZ-RR 2000, 320 = DÖV 2000, 425 = EzAR 031 Nr. 6 = AuAS 2000, 98 = InfAuslR 2000, 105, Beschluss vom 11. Juli 2003 - 1 B 252.02 -, Buchholz 140 Art. 8 EMRK Nr. 14, wonach allenfalls in höchst seltenen, außergewöhnlichen Fällen trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer "Ist"-Ausweisung hiervon wegen Unverhältnismäßigkeit nach Art. 8 Abs. 2 EMRK abzusehen sein kann; Senatsbeschlüsse vom 2. Mai 2002 - 18 B 1169/01 - und vom 28. Januar 2005 - 18 B 1260/04 -, a.a.O.; den Streitstand referierend und als in einem Hauptsacheverfahren klärungsbedürftig kennzeichnend: OVG NRW, Beschluss vom 14. August 2007 - 18 E 686/07 -; zum Meinungsstand weiter Discher, Gemeinschaftskommentar zum AufenthG (GK-AufenthG), Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rdn. 888 - 898).

Die Frage, welches Ergebnis im vorliegenden Fall aus der Einbeziehung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze folgt, kann nur das Hauptsacheverfahren mit seiner abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten, da die Fragestellung im Hinblick auf die verschiedenen für die Person des Antragstellers zu erwägenden Gesichtspunkte eine hohe Komplexität aufweist (in diesem Sinne auch OVG NRW, Beschluss vom 14. August 2007 - 18 E 686/07 -).

Die wichtigste der nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 10. Mai 2007 zu berücksichtigenden Besonderheiten ist vorliegend, dass der Antragsteller bereits im Alter von einem Jahr und neun Monaten in die Bundesrepublik eingereist und hier aufgewachsen ist. Es handelt sich um einen "faktischen Inländer". Dies ist ein Gesichtspunkt, dessen Gewicht sich nicht bereits für jeden Fall hinreichend anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten, hier in Gestalt der kraft besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) von der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG zur Regelausweisung gemäß §§ 56 Abs. 1 Satz 2 - 4, 54 AufenthG, bestimmen lässt. Eine daran orientierte Auseinandersetzung mit dem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens hat vorliegend im Verwaltungsverfahren nicht stattgefunden. Während die Ordnungsverfügung vom 1. Juni 2006 hierzu keine Erwägungen enthält, lässt sich die im Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2006 vertretene Annahme, der "Tatsache eines langjährigen Inlandaufenthalts" werde bereits durch die Ausweisungsschutzvorschrift des § 56 AufenthG Rechnung getragen, angesichts des Beschlusses des Bundesverfassungsgericht vom 10. Mai 2007 nicht mehr halten. Bereits dieser - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zu klärende - nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingehend zu prüfende Gesichtspunkt reicht für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung aus. Daneben wird eine der im Hauptsacheverfahren noch zu klärenden Fragen sein, ob der inzwischen volljährige Sohn ... des Antragstellers auf dessen Anwesenheit und Beistand weiterhin angewiesen ist.