VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.09.2008 - 8 UE 858/06.A - asyl.net: M14081
https://www.asyl.net/rsdb/M14081
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum; die Konversion ist nicht gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG von der Geltendmachung im Folgeverfahren ausgeschlossen, wenn sie nicht auf asyltaktischen Erwägungen beruhte, sondern auf innerer Überzeugung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Christen, Konversion, Apostasie, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 1a; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum; die Konversion ist nicht gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG von der Geltendmachung im Folgeverfahren ausgeschlossen, wenn sie nicht auf asyltaktischen Erwägungen beruhte, sondern auf innerer Überzeugung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung ist auch begründet, denn der Kläger erfüllt die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Artikel 2 Abs. 3 des Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft vom 13. März 2008 (BGBl. I S. 313).

Staatliche und nichtstaatliche Repressionen gegen Christen sind in Afghanistan trotz der dort offiziell durch die Verfassung garantierten Religionsfreiheit an der Tagesordnung. Ein international beachteter Präzedenzfall ist der des Konvertiten Abdul Rahman Jawid, der im März 2006 von seinem Schwiegervater im Rahmen eines Sorgerechtsstreits wegen des Abfalls vom Islam angezeigt worden war. Rahman hatte bis im Jahr 2002 außerhalb Afghanistans gewohnt, unter anderem in Belgien und neun Jahre in Deutschland. Nach der Anzeige wurde er als Konvertit umgehend verhaftet und von der ermittelnden Staatsanwaltschaft wegen Apostasie angeklagt* wobei die Staatsanwaltschaft seine Hinrichtung forderte (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan, 27. Februar 2008, S. 6).

Unter Bezugnahme auf diesen Fall hat das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht Afghanistan vom 7. März 2008 zur Situation der Christen in Afghanistan folgendes ausgeführt (S. 16):

"In Afghanistan gibt es keine alteingesessenen christlichen Gemeinden. Afghanische Christen sind im Wesentlichen vom Islam konvertierte Christen.

Die Zahl der zum Christentum konvertierten Afghanen kann nicht annähernd verlässlich geschätzt werden, da Konvertiten sich hierzu nicht öffentlich bekennen. Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, für das die Todesstrafe droht. Mitte März 2006 wurde ein afghanischer Staatsangehöriger wegen Konversion zum Christentum angeklagt. Seine Familie hatte sich afghanischen Behörden gegenüber im Rahmen eines Familienstreits auf seine Konversion berufen, woraufhin ein Verfahren gegen ihn wegen Apostasie eröffnet wurde. Infolge internationalen Drucks wurde er Ende März 2006 freigelassen und konnte nach Italien ausreisen. Zu den Gründen für seine Freilassung liegen widersprüchliche Informationen vor. Aus einer Quelle heißt ist, der Fall sei wegen offener Verfahrensfragen an die Staatsanwaltschaft zurückverwiesen worden. Eine andere Quelle führt die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten wegen psychischer Probleme an. Die Entscheidung zur Freilassung des Konvertiten führte zu einer heftigen Debatte im afghanischen Parlament. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des afghanischen Parlaments, Sayyaf, sprach von der Verschwörung einer 'ungläubigen Organisation', der einige fremde Staaten, eine Anzahl von Konvertiten und auch Parlamentsmitglieder angehören sollen. Im Unterhaus wurde eine Resolution angenommen, die seine Freilassung als rechtswidrig beschrieb und ein Verbot zum Verlassen des Landes gegen ihn aussprach. Gleichzeitig wurden der Rechtsausschuss und der Ausschuss für die Umsetzung der Gesetze aufgefordert, eine Untersuchung in der Angelegenheit vorzunehmen und dem Parlament Bericht zu erstatten. Während der Zeit der Inhaftierung kam es zu einigen wenigen Demonstrationen gegen seine Freilassung. Auch in den Freitagsgebeten wurde der Fall vereinzelt aufgegriffen.

Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Selbst zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen NROen [Nichtregierungsorganisationen] regelmäßig abgehalten werden, erscheinen sie nicht. Ihre Situation hängt letztlich davon ab, wo und unter welchen Umständen sie in Afghanistan leben."

Mit diesen Feststellungen hat das Auswärtige Amt frühere sachverständige Stellungnahmen zur Einschätzung der Situation zum Christentum konvertierter Moslems in Afghanistan bestätigt. So hat der Sachverständige Dr. Danesch in einem Gutachten für das Verwaltungsgericht Braunschweig vom .13. Mai 2004 u. a. ausgeführt, Afghanistan sei trotz der Verabschiedung einer "modernen", vom Westen stark beeinflussten Verfassung nach wie vor ein nicht nur islamisch, sondern fundamentalistisch geprägtes Land mit einer ausgeprägten Stammesmentalität. Die Familie sei der Garant dafür, dass die althergebrachten Werte eingehalten würden, und verstoße jedes Familienmitglied, das diesen Werten zuwiderhandele. Christen gälten als unrein. Wer zum christlichen Glauben übertrete, bringe Schande nicht nur über sich selbst, sondern auch über seine Familie. Ein solches Verhalten könne auch in der Nachbarschaft bzw. in den moslemischen Gemeinde nicht verborgen bleiben. Der Abfall vom Islam gelte als das denkbar schwerste religiöse Verbrechen, das in der Regel mit dem Tod geahndet werde. Zusammenfassend sei festzustellen, dass für eine Person, die vom Islam zum Christentum konvertiert sei, eine Ausübung ihres Glaubens, so diskret dies auch immer gestaltet sein möge, weder im familiären noch im nachbarschaftlichen Kontext möglich sei. Auch Zusammenkünfte mit anderen Gläubigen zum Zweck von Gebet und Gottesdiensten seien einer solchen Person nicht möglich.

Vom Islam zum Christentum konvertierte Moslems müssen in Afghanistan auch mit staatlichen Maßnahmen wegen Apostasie rechnen, wie der Fall Rahman exemplarisch zeigt. Das Auswärtige Amt hat in seinem bereits zitierten Lagebericht vom 7. März 2008 zur in Afghanistan geltenden Religionsfreiheit u. a. mitgeteilt, Artikel 2 der afghanischen Verfassung bestimme in Abs. 1, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans sei. Die in Artikel 2 Abs. 2 der Verfassung verankerte Glaubensfreiheit komme jedoch nur für die "Anhänger anderer Religionen" (als des Islam) und "im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen" zum Tragen. Glaubensfreiheit gelte deshalb, soweit sie die freie Religionswahl beinhalte, nicht für Moslems. Denn laut Artikel 3 der Verfassung dürfe kein Gesetz "dem Glauben und den Bestimmungen des Islam widersprechen". Im Religionsministerium sei eine Abteilung zur "Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften" mit fünf Unterabteilungen, eine davon u. a. für das "Erkennen von Unglauben" zuständig, gegründet worden.

Aus diesen und einigen älteren Erkenntnisquellen - u. a. zur Verurteilung eines Journalisten wegen Veröffentlichung eines kritischen Artikels zur Einstufung einer Abkehr vom Islam als Verbrechen zu zwei Jahren Gefängnis wegen Blasphemie im Jahre 2005 hat das OVG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 19. Juni 2008 - 20 A 3886/05.A - (juris Rdnrn. 30 ff.) die Überzeugung gewonnen, dass in Auswertung des vorliegenden Auskunftsmaterials bei der für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefährdung eines ernsthaften Konvertiten vom Islam zum Christentum gebotenen Gewichtung und Abwägung aller in diesem Zusammenhang maßgebenden Umstände den für eine relevante Verfolgung sprechenden Umständen ein größeres Gewicht beizumessen sei als dagegen sprechenden Umständen, wobei letztere in dem Urteil nicht im einzelnen dargestellt worden sind.

Der Kläger kann sich auf diese Verfolgungssituation auch im vorliegenden Folgeantragsverfahren berufen, obgleich die Verfolgungsgefahr auf einem sog. selbstgeschaffenen Nachfluchttatbestand beruht.

Ausschlussgründe für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs 1 AufenthG sind bei dem Kläger nicht gegeben, insbesondere ist er mit seinen Nachfluchtgründen nicht von der Ausschlussregelung in § 28 Abs. 1a, Abs. 2 AsylVfG erfasst.

Durch eigenes Verhalten vom sicheren Ausland aus provozierte politische Verfolgung im Herkunftsland ist gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG dann asylrechtlich irrelevant, wenn der Entschluss zur Schaffung solcher Nachfluchtgründe nicht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. November 1 9 3 6 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 5 1 , juris Rdnrn 41 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1987 - 9 C 184.86 BVerwGE 77, 258; juris Rdnr. 11); danach asylrechtlich unbeachtliche Nachfluchtgründe werden gleichwohl von Art- 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst und sind daher bei der Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG ohnehin zu Gunsten des Flüchtlings zu berücksichtigen (vgl. Renner, a.a.O., Rdnr. 9 zu § 60 AufenthG m.w.N). Allerdings wird dieser Grundsatz in Folgeverfahren dahin modifiziert, dass aufgrund selbstgeschaffener Nachfluchtgründe die Flüchtlingseigenschaft in der Regel nicht zuerkannt werden kann (§ 28 Abs. 2 AsylVfG n.F.).

Wann eine Ausnahme von dieser Regel angebracht ist, ist bislang nicht durch Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Der erkennende Senat hatte bisher keine Gelegenheit, zur Frage der Anwendung des § 28 AsylVfG n.F. bei Folgeantragstellern Stellung zu nehmen. Das OVG Rheinland-Pfalz hat in seinem Urteil vom 29. August 2007 - 1 A 10074/06 - die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 AufenthG bei einem Iraner, der in der Bundesrepublik Deutschland vom Islam zum Christentum konvertiert war, bestätigt und dazu folgendes ausgeführt (S. 17 des Urteilsabdrucks):

Davon, dass der Kläger seine christliche Überzeugung und die von ihm entfalteten Aktivitäten im Folgeverfahren nicht lediglich vorgeschoben hat, um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und den hieraus abzuleitenden Aufenthaltsstatus zu erlangen, ist das Verwaltungsgericht zweifellos ausgegangen, wie sich aus den Ausführungen ... ergibt. Die Ernsthaftigkeit dieser Aktivitäten hat die Beklagte auch im Berufungsverfahren nicht in Zweifel gezogen. Sie hat nämlich lediglich vorgetragen, auf die Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsel und der von dem Kläger entfalteten Aktivitäten komme es nicht an, weil maßgeblich allein sei, dass diese Aktivitäten an eine feste, bereits im Heimatland erkennbar betätigte Überzeugung anknüpften. Die bereits im erstinstanzlichen Verfahren von den Kläger geschilderten und durch Unterlagen belegten Aktivitäten hat der Kläger auch im Berufungsverfahren kontinuierlich fortgesetzt und hierzu Unterlagen vorgelegt. Aufgrund dieser Umstände des Einzelfalles bestehen für den Senat keinen Zweifel daran, dass der Kläger aus ernsthafter innerer Überzeugung handelt und nicht etwa lediglich aus taktischen Überlegungen, um hierdurch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erreichen...

Angesichts dessen geht der Senat davon aus, dass hier die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Asylfolgeverfahren gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG erfüllt sind."

Auch das Bundesamt ist in seinem bereits zitierten Vermerk vom 20. März 2008 - 5288288-423 - von ähnlichen Überlegungen ausgegangen, wobei es allerdings das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 28 Abs. 2 AsylVfG mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 28 Abs. 1 AsylVfG gleichgestellt und folgendes ausgeführt hat (S. 2 des Abdrucks):

Auch die Regelung des § 28 AsylVfG steht vorliegend einer Asylberechtigung und einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AsylVfG [gemeint ist: AufenthG] ausnahmsweise nicht entgegen. Denn Sinn dieser Vorschrift ist es, offensichtliche Missbrauchsfälle beziehungsweise "asylunwürdiges" Verhalten von der Flüchtlingsanerkennung auszuschließen. Getroffen werden sollen nur die rechtspolitisch missbilligten, nach der gesetzgeberischen Wertung nicht schützenswerten Verhaltensweisen der so genannten risikolosen Verfolgungsprovokation vom sicheren Aufenthaltsstaat aus (vgl. VG Augsburg und VG Minden a.a.O., m.w.N.). Davon kann bei dem Antragsteller nicht die Rede sein. Damit gehört er nicht zu dem Personenkreis, dessen Verhalten der Gesetzgeber mit der Regelung des § 28 AsylVfG treffen wollte."

Der Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz und - soweit § 60 Abs. 1 AufenthG betroffen ist - auch der Ansicht des Bundesamts, wie sie sich aus dem zitierten Vermerk ergibt, schließt sich der erkennende Senat an. Daher ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil auch bei ihm nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kein asyltaktischer, sondern ein lebensgeschichtlich nachvollziehbarer Konfessionswechsel aus innerer Überzeugung stattgefunden hat, der mit seinem aufenthaltsrechtlichen Status in der Bundesrepublik Deutschland an sich nichts zu tun hat.