VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 15.09.2008 - RN 8 K 08.30020 - asyl.net: M14083
https://www.asyl.net/rsdb/M14083
Leitsatz:

Es ist Homosexuellen zumutbar, ihre sexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen, sondern auf den Bereich des engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken; keine beachtliche Verfolgungsgefahr für Schwule in Algerien.

 

Schlagwörter: Algerien, Homosexuelle, soziale Gruppe, Zumutbarkeit, Persönlichkeitsrecht, nichtstaatliche Verfolgung, mittelbare Verfolgung, Familienangehörige, interne Fluchtalternative, Islamisten, Schutzbereitschaft, Existenzminimum, Verfolgungsbegriff
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Es ist Homosexuellen zumutbar, ihre sexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen, sondern auf den Bereich des engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken; keine beachtliche Verfolgungsgefahr für Schwule in Algerien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger gehört zwar hinsichtlich seiner Homosexualität einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an, da sie für ihn identitätsprägend ist und Homosexuelle in Algerien eine Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität sind, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, Art. 10 Abs. 1 d) der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie). Darauf, ob die Homosexualität für den Kläger "unentrinnbar" ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, Az. 9 C 278.86), kommt es nach Einführung und Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie nicht mehr an (vgl. hierzu ausführlich VG Oldenburg, Urteil vom 13. November 2007, Az. 1 A 1824/07). Dem Kläger droht jedoch aufgrund seiner sexuellen Veranlagung bei einer Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Kräfte.

1. Dabei hat das Gericht keine Zweifel an der homosexuellen Prägung des Klägers.

2. Dem Kläger droht in Algerien keine staatliche Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. hierzu VG Oldenburg, Urteil vom 31. März 2004, Az. 11 A 1675/03, VG Augsburg, Urteil vom 19 Mai 2004, Az. Au 7 K 04.30228). Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die zuständigen algerischen Behörden von einer homosexuellen Betätigung des Klägers Kenntnis erlangen.

a) Bei dieser Prognose ist davon auszugehen, dass es dem Kläger zuzumuten ist, seine homosexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen, sondern auf den Bereich seines engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken.

Selbst nach dem Grundgesetz (GG) ist das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, zu dem auch der Schutz des intimen Sexualbereichs und der sexuellen Selbstbestimmung gehört, nur in den Schranken des Sittengesetzes gewährleistet (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 14. September 2006, Az. 11 K 81/06.A). Entscheidend ist bei asylrechtlichen Entscheidungen der Blick auf den Heimatstaat und ob insoweit unter Berücksichtigung der Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die jeweiligen Absätze 2 eine Rückkehr zumutbar ist. Bei der asylrechtlichen Beurteilung einer fremden Rechtsordnung kann diese nicht am weltanschaulichen Neutralitäts- und Toleranzgebot des Grundgesetzes gemessen werden, denn es ist nicht Aufgabe des Asylrechts, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen (VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Februar 2008, Az. 11 K 2432/07.A).

Bei einem entsprechenden Blick auf den Heimatstaat ist eine Rückkehr im Ergebnis zumutbar. Zwar sind nach Art. 338 algerStGB homosexuelle Handlungen strafbar, das vorgesehene Strafmaß beträgt Gefängnisstrafe von zwei Monaten bis zwei Jahren und eine Geldstrafe von 500 bis 2.000 algerischen Dinar. Wenn eine minderjährige Person involviert ist, wird die Geldstrafe auf 10.000 Dinar hochgesetzt. Sollte die gleichgeschlechtlichte Beziehung "öffentliches Ärgernis" erregen, Art. 333 algerStGB, beträgt das vorgesehene Strafmaß Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren und eine Geldstrafe. Wie aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes hervorgeht, finden diese Vorschriften auch praktische Anwendung, es gibt demnach etwa 200 anhängige Verfahren (Stand: 29. Januar 2008). Nach dem Normgehalt dieser Strafbestimmungen ist jedoch nicht die unter Umständen unverfügbare Veranlagung unter Strafe gestellt, sondern bestraft werden letztlich "nur" bestimmte Sexualpraktiken. Das Verbot der homosexuellen Betätigung zielt damit in erster Linie wohl nicht auf eine Bestrafung des individuellen Verhaltens ab, sondern ist darauf gerichtet, die herrschenden Moral- und Ordnungsvorstellungen, die auch durch religiöse Vorschriften geprägt sind, zu schützen. Wie sich auch aus dem Gutachten des Auswärtigen Amtes ergibt, ist Homosexualität in Algerien ein Tabuthema und für die vorherrschende islamisch-konservative Moral eine schwere Sünde. Nach der Gesetzesbegründung zu den Art. 333, 338 algerStGB verkenne Homosexualität das "soziale Ziel" jedweder Sexualität, die Zeugung von Kindern. Die Gesellschaft müsse daher vor Schaden seelischer und körperlicher Art geschützt werden. Dies zeigt, dass die bestehenden Strafnormen zum Schutz der islamisch geprägten öffentlichen Moral von homosexueller Betätigung abhalten sollen. Die Verbotslage in Algerien entspricht in etwa der Verbotslage, wie sie bis zum Erlass des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) auch in der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat (vgl. zu den Einzelheiten BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, Az. 9 C 278.86). Auch das Bundesverfassungsgericht hatte diese Rechtslage nicht beanstandet und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging zu Art. 8 EMRK (EMRK, Urteil vom 22. Oktober 1981, NJW 1984, S. 5411) als Grundsatz davon aus, dass eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Moral notwendig sein könne. Die Tatsache, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit der Liberalisierung des Sexualstrafrechts durch das Erste und Vierte Strafrechtsänderungsgesetz die sittlichen Anschauungen über homosexuelle Verhaltensweisen allgemein gewandelt haben, kann auch vor dem übrigen Hintergrund nicht dazu führen, dass der Kläger allein schon deshalb nach § 60 Abs.1 AufenthG Abschiebungsschutz erhalten muss, weil er sich bei einer Rückkehr nach Algerien mit den dort bestehenden Verboten konfrontiert sehen würde. Der Zwang, sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, stellt für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, a.a.O. zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F., VG Frankfurt an der Oder, Urteil vom 16. August 2004, Az. 5 K 2622/02.A). Diese zum Asylgrundrecht ergangene Rechtsprechung kann nach Auffassung des Gerichts auch nach Einführung der Qualifikationsrichtlinie bei der Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG herangezogen werden (a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 13. November 2007, Az. 1 A 1824/07, das diese Rechtsprechung hinsichtlich der öffentlichen Moral im Heimatland wohl insgesamt für nicht mehr anwendbar hält).

Entscheidend ist hier einerseits, dass die von der öffentlichen Moral gedeckte Verbotslage vom Kläger grundsätzlich hinzunehmen ist und dass es ihm andererseits möglich ist, sich mit ihr zu arrangieren, ohne auf jegliches Ausleben seiner sexuellen Veranlagung verzichten und sich so dem Verbotszwang beugen zu müssen. Nur wenn er sich ausschließlich durch Verzicht auf homosexuelle Betätigung der Gefahr politischer Verfolgung entziehen könnte oder bereits die Veranlagung selbst unter Strafe gestellt wäre, wäre Abschiebeschutz zu gewähren. Hält sich der Kläger in seinem Verhalten nach außen hin zurück, wie er es sogar hier in Deutschland tut, ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Behörden auf ihn aufmerksam werden. Er hat bereits über zehn Jahre vor der Ausreise in Kenntnis seiner homosexuellen Veranlagung ohne staatliche Repressionen gelebt, obwohl sogar nach seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung letztlich seine Familie und das ganze Dorf darüber Bescheid wussten. Ferner ist insbesondere nicht ersichtlich, dass die Strafbestimmungen neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch mit dem konkreten Ziel angewendet würden, den Kläger selbst politisch zu verfolgen, um ihn so in seiner als besonders verderbnisstiftend angesehenen homosexuellen Veranlagung zu treffen (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, a.a.O.).

b) Der Kläger hat insbesondere vor seiner Ausreise keine staatliche Vorverfolgung erlitten, sodass kein herabgesetzter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzusetzen ist. Dass er von der Polizei abgeholt und mehrere Tage im Gefängnis festgehalten wurde, ist nach den hier vorliegenden besonderen Umständen nicht als staatliche Verfolgung anzusehen. Denn wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärte, hat sein Vater einen befreundeten Polizisten gebeten, den Kläger mitzunehmen und vorübergehend einzusperren. Sowohl sein Vater als auch der Polizist haben das Verfahren letztlich nicht "offiziell" werden lassen, sodass die Handlungen nicht dem Staat zuzurechnen sind. Letztlich kann diese extreme Maßnahme, die nach dem Rechtsverständnis unserer Gesellschaft zweifellos in keiner Weise hinnehmbar wäre, nach dem Vorstellungsbild des Vaters als Versuch anzusehen sein, seinen Sohn durch Abschreckung vor den staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu warnen, ohne diese in Gang setzen zu wollen.

c) Auch die Tatsache, dass er nach dem Vorfall mit einem Mitschüler auf der Toilette von der Schule verwiesen wurde, stellt keine erhebliche staatliche Verfolgung dar. Zum Einen muss die Ausreise nach dem äußeren Erscheinungsbild eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht darstellen. In dieser Hinsicht kommt der zwischen Verfolgung und Ausreise verstrichenen Zeit entscheidende Bedeutung zu (BVerwG, Urteil vom 13. Juli 1991, Az. 9 C 154/90). Hier ist der Kläger jedoch noch etwa zehn Jahre nach dem Vorfall im Land verblieben. Zudem ist eine Wiederholung dieser Maßnahme denknotwendig ausgeschlossen.

d) Schließlich gefährdet den Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seiner Homosexualität hier in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat. Seine Befürchtung, bei Überstellung an die algerischen Behörden würden diese von seiner Veranlagung Kenntnis erlangen, ist unbegründet, da entsprechende Mitteilungen nicht gemacht werden.

3. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist grundsätzlich auch Schutz vor einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure möglich. Eine solche hat der Kläger jedoch nicht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

a) Soweit der Kläger eine Verfolgung durch seine Familie, insbesondere seinen Vater, befürchtet, ist er jedenfalls auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen. Nach seinem Vorbringen ist nicht davon auszugehen, dass sein Vater ihn landesweit suchen würde. Dass sein Vater ihm das Geschäft und Geld weggenommen hat, ihn zum Verlassen des Landes aufgefordert hat und ihn lieber tot sehen würde, ist eher Ausdruck dessen, dass er seinen Sohn gewissermaßen verstoßen hat. Konkrete Verfolgungsabsichten lassen sich aus diesen Handlungen und Aussagen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ableiten.

c) Schließlich droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch sonstige Dritte, insbesondere fundamentalistische Extremisten. Auch wenn man davon ausgeht, dass gläubige Moslems Homosexualität verurteilen, werden gesellschaftliche Verfolgungstendenzen, die zudem in allen Landesteilen drohen müssten, in den Erkenntnismitteln nicht dokumentiert. In den letzten Jahren kam es zwar vereinzelt zu Übergriffen, wie etwa bei dem im Gutachten des Auswärtigen Amtes geschilderten Fall der Tötung eines 27jähriger Homosexuellen oder sogar einzelnen Steinigungen. Sicherlich besteht eine gewisse, nicht ganz auszuschließende Gefahr weiterer derartiger Übergriffe auf Homosexuelle. Auch ist einzuräumen, dass schützendes Eingreifen der Polizei bei entsprechenden Angriffen nicht unbedingt zu erwarten ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass bei einem diskret geführten Sexualleben, wie dies im Übrigen in islamischen Ländern auch bei heterosexuellen Beziehungen üblich ist, keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Gefahr von Verfolgung besteht (vgl. VG München, Urteil vom 28. November 2007, Az. M 18 K 07.50325). Insbesondere dürfte es dem Kläger möglich sein, zumindest in großstädtischen Gebieten Algeriens unauffällig und unbehelligt von gesellschaftlichen Verfolgungstendenzen zu leben. Aus den eingeholten Stellungnahmen geht hervor, dass homosexuelles Leben in Algerien in strenger Privatheit durchaus möglich ist. Da Großstädte wie Oran und Algier aufgrund ihrer Anonymität und in gewissen Grenzen auch wegen ihrer Toleranz eher die Möglichkeit zu homosexuellem Leben bieten, ist es dem Kläger zumutbar, dort zu leben, auch wenn er letztlich sein Privatleben im Geheimen organisieren muss. Dass eine intolerante und gewaltbereite Person, etwa in der Nachbarschaft (vgl. VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, Az. M 21 K 04.51494), Kenntnis erlangen kann und dann entsprechend reagiert, ist zwar nicht gänzlich auszuschließen, begründet aber für sich gesehen noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung.

d) Dem Kläger ist eine Wohnsitzverlegung innerhalb von Algerien auch zumutbar. Maßstab ist insoweit, ob für den Kläger dort das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum erreichbar ist (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 1997, Az. 9 C 2.97). Diese Schwelle wird aufgrund der im Lagebericht des Auswärtigen Amtes geschilderten allgemeinen Lebensverhältnisse in Algerien nicht unterschritten.