VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 08.09.2008 - 17 K 5556/08.A - asyl.net: M14086
https://www.asyl.net/rsdb/M14086
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen, der in den Verdacht separatistischer Bestrebungen geraten ist.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, HADEP, DEHAP, Mitglieder, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Folter, Misshandlung, Separatismusverdacht
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen, der in den Verdacht separatistischer Bestrebungen geraten ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 22. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Nach der für die Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs. AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindemis nach § 51 Abs. 1 AusIG bestehen, nicht vor.

Die maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei haben sich trotz zahlreicher positiver Ansätze insbesondere im legislativen Bereich noch nicht so erheblich verbessert, dass die erforderliche hinreichende Verfolgungssicherheit für vorverfoigt ausgereiste türkische Staatsangehörige nunmehr festgestellt werden kann.

Zwar hat sich die allgemeine Menschenrechtslage durch die in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen grundsätzlich sicherlich deutlich verbessert. So ist die Zahl der den Menschenrechtsorganisationen IHD und TIV gemeldeten Fälle von Folter und sonstiger Misshandlung merklich zurückgegangen und wird die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die Reformpolitik hat jedoch bisher nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Vielmehr kommt es auch nach derzeitiger Erkenntnislage weiterhin zu solchen Übergriffen, vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 29 ff., S. 31 "Das Auswärtige Amt sieht eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung in der nicht effizienten Strafverfolgung.".

Insbesondere Misshandlungen außerhalb von regulärer Haft finden nach wie vor statt. Seit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahre 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen.

Es ist daher auch gegenwärtig davon auszugehen, dass vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, DVBl. 2007, 782 und juris; Urteil vom 19. Dezember 2005 - 8 A 4008/04.A -; Beschluss vom 1. Dezember 2005 - 8 A 4037/05.A -; Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A - S. 21 ff.).

Das Gericht teilt auch unter Berücksichtigung des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 diese Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, welches in den vorstehend genannten Entscheidungen die türkische Reformpolitik der jüngeren Vergangenheit eingehend unter Berücksichtigung der Erkenntnislage gewürdigt und umfassend dargelegt hat, dass eine veränderte Gefährdungsprognose derzeit nicht erkennbar sei (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 5. Mai 2008 - 17 K 2291/08.A -, Urteil vom 2. Mai 2008 - 17 K 1551/08.A -, Urteil vom 9. April 2008 - 17 K 1969/08.A -, Urteil vom 24. Januar 2007 - 20 K 469/05.A -, Urteil vom 12. Januar 2007 - 17 K 699/06.A, Urteil vom 13. Juni 2006 - 26 K 5473/05.A -, Urteil vom 12. Mai 2006 - 26 K 1715/06.A -).

Aktuellere Erkenntnisse, die zu einer erneuten Überprüfung der Rechtsprechung Anlass geben, sind weder von der Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die der oben genannten Rechtsprechung zugrunde liegende Einschätzung der Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. o.g. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007, S. 38).

Das trägt zwar maßgeblich zu der Einschätzung bei, dass unverfolgt ausgereiste Asylbewerber bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe befürchten müssen. Für die Einschätzung der möglichen Gefährdung von vorverfolgt ausgereisten Personen sind die genannten Feststellungen des Auswärtigen Amtes indessen wenig aussagekräftig. Unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen war kein Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation und auch keine Person, die der Zugehörigkeit zu einer solchen Organisation verdächtig war (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, a.a.O.).

Daraus, dass dem Auswärtigen Amt in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem die einfache Mitgliedschaft in der HADEP oder DEHAP - ohne besondere strafrechtlich relevante Verdachtsmomente - zu Repressalien gegen die Betreffenden geführt hätte, ergibt sich für den Kläger nichts Abweichendes. Das Bundesamt hat die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht allein deshalb getroffen, weil der Kläger Aktivitäten für die HADEP ausgeführt hat, sondern weil er aufgrund seiner politischen Aktivitäten bereits konkret in den Verdacht der Unterstützung einer illegalen politischen Organisation geraten und deswegen sogar mehrere Tage lang festgenommen worden ist. Nach den Feststellungen des Bundesamtes hat er in diesem Zusammenhang nicht unerhebliche Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit hinnehmen müssen und ist mithin vorverfolgt ausgereist. Als eine solche wegen Separatismusverdachts individuell in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geratene Person ist er nach wie vor nicht hinreichend davor sicher, erneut Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden.